Institutionalisierter Völkerrechtsbruch in Europa
Als »Pushbacks« bezeichnet man das Zurückdrängen oder Zurückschieben von Geflüchteten kurz nach dem Grenzübertritt, ohne jede Prüfung der Asylgründe. Diese Praxis ist völkerrechtswidrig – aber trotzdem trauriger Alltag in Europa. Auch deshalb wurde der Begriff 2021 wohl zum »Unwort des Jahres« gewählt.
Die hier vorgestellten Einzelfälle wurden allesamt Opfer von Pushbacks an der Grenze zwischen Belarus und Polen. Aber das Problem ist weitaus größer und an quasi jeder EU-Außengrenze zu finden. Und obwohl es etliche Berichte von Betroffenen gibt, wird es von den verantwortlichen Politiker*innen in Europa stillschweigend toleriert – wenn nicht noch mehr…
Seit vielen Jahren dokumentieren wir daher Pushbacks und andere Völkerrechtsbrüche. Ob in Ungarn, Kroatien, Griechenland oder den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Immer wieder unterstützen wir auch Gerichtsverfahren von Betroffenen und bringen die Fälle vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).
Pushbacks an Europas Grenzen: Griechenland
»Es gibt Pushbacks an jedem einzelnen Tag in Griechenland« berichtet die Europa-Abgeordnete Cornelia Ernst. Regelmäßig werden Menschen, die über die Ägäis fliehen, von der griechischen Küstenwache abgefangen und zurück in türkische Gewässer geschleppt oder sogar Menschen, die bereits an Land sind, wieder aufs Meer gebracht und dort auf Rettungsinseln ausgesetzt. Diese Vorgänge sind dokumentiert, aber nichts ändert sich – obwohl auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex davon weiß und sogar in die illegale Praxis involviert ist. Ähnliches ereignet sich auch am Grenzfluss Evros.
Und: Diese Vorgänge sind nichts Neues. Bereits vor vielen Jahren hat PRO ASYL einen Bericht dazu veröffentlicht, vor kurzem wurde Griechenland gar vom EGMR dafür verurteilt, verantwortlich für den Tod von acht Kindern und drei Frauen vor Farmakonisi gewesen zu sein. Seit dem Unglück vor acht Jahren begleiten unsere griechischen Kolleg*innen die Angehörigen und Überlebenden.
Pushbacks an Europas Grenzen: Kroatien
Bestens dokumentiert sind auch die Pushbacks durch die kroatische Grenzpolizei im Gebiet zu Bosnien, wo Geflüchtete oft schwerste Verletzungen erleiden. Dies zeigt z.B. unser Bericht »Systematic human rights violations at Croatian borders« gemeinsam mit dem kroatischen Centre for Peace Studies.
Auch die Vorgänge in Kroatien waren bereits Thema im Europäischen Parlament. Die kroatische Regierung geht sogar ganz unverhohlen damit um: »Natürlich ist ein bisschen Gewalt notwendig, wenn man Pushbacks vornimmt« sagte zum Beispiel die damalige kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarovic 2019.
»»Natürlich ist ein bisschen Gewalt notwendig, wenn man Pushbacks vornimmt««
Und ebenso wie Griechenland wurde Kroatien bereits vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen eines Todesfalls verurteilt. Die damals sechsjährige Madina Hussiny aus Afghanistan wurde mit ihrer Familie 2017 an der serbisch-kroatischen Grenze zurückgewiesen. Nachdem die Familie beim Grenzübertritt von der kroatischen Polizei entdeckt wurde, äußerten sie ihr Asylgesuch. Die kroatische Polizei ignoriert das jedoch und befiehlt der Familie, den Zuggleisen zu folgen und zurück nach Serbien zu gehen. In der Dunkelheit wird Madina von einem Zug erfasst und stirbt.
Pushbacks an Europas Grenzen: Bulgarien
Das Bulgarian Helsinki Committee berichtet von 2.513 protokollierten Push-Backs allein im Jahr 2021. Auch dort sind das keine neuen Vorkommnisse, schon im Jahr 2014 hatten wir mit Partner*innen vor Ort über illegale Zurückweisungen an der Landgrenze zur Türkei recherchiert. Die Situation spitzt sich allerdings zunehmend zu: Im Oktober 2022 wurde ein 19-jähriger Flüchtling dort von einer Kugel getroffen, mutmaßlich von der bulgarischen Polizei abgefeuert. »Er hat den Schuss wie durch ein Wunder überlebt« schreibt das Investigativ-Team der Tagesschau, das den Vorfall untersucht hat.
Pushbacks an Europas Grenzen: Spanien
Die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla auf marokkanischem Territorium sind seit vielen Jahren Ziel von Fluchtbewegungen – und Ort von Pushbacks, dort oft auch »heiße Abschiebungen« genannt. In diesem Jahr war Melilla erneut in den Schlagzeilen, als es dort zu Vorfällen kam, die unter dem Schlagwort #MelillaMassacre Beachtung fanden. Über 20 Menschen fanden den Tod, viele weitere werden noch immer vermisst, als marokkanische und spanische Sicherheitskräfte viele Schutzsuchende am Grenzübertritt hindern wollten.
Melilla steht mit seinem hohen, martialischen Grenzzaun schon seit vielen Jahren symbolisch für die europäische Abschottungspolitik und ebensolange Bestandteil juristischer Auseinandersetzungen. 2017 verurteilte der EGMR Spanien wegen des Pushbacks zweier junger Männer, 2020 wurde das Urteil revidiert und auf angeblich vorhandene legale Einreisewege verwiesen. Es liegt auf der Hand, dass solche Entscheidungen die Grenzbehörden zu noch brutaleren Abwehrmaßnahmen ermuntern – die vielen Grenztoten im Jahr 2022 zeigen in jedem Fall, dass es dort nach wie vor menschenunwürdig zugeht.
Pushbacks an Europas Grenzen: Polen
Im Gegensatz dazu war Polen lange Zeit kaum Schauplatz von Grenzabschottung und Pushbacks – bis die Zahl der Einreisen aus Belarus im vergangenen Jahr zunahm. In Windeseile wurden Zäune errichtet, in Sachen Brutalität stehen die polnischen Grenzschützer*innen ihren Pendants aus Griechenland, Kroatien oder Spanien in Nichts nach.
Diejenigen, die es nach Polen und in andere EU-Staaten schafften, sind oftmals traumatisiert von monatelanger Haft, Misshandlungen oder wochenlangem Ausharren in den bitterkalten Wäldern an der Grenze aufgrund von immer wieder stattfindenden Zurückweisungen. Die von uns dokumentierten Fälle sprechen Bände über die Vorkommnisse, nur wenige hundert Kilometer entfernt von Deutschland. Gleichzeitig hat sich auch die polnische Zivilgesellschaft organisiert und unterstützt – gegen den Widerstand der eigenen Regierung – Geflüchtete. Für ihr Engagement hat PRO ASYL die polnische Rechtsanwältin Marta Górczyńska mit dem Menschenrechtspreis 2022 ausgezeichnet, stellvertretend für die Arbeit der Helsinki Foundation for Human Rights in Polen.
Pushbacks an Europas Grenzen: Rumänien
2019/2020 etablierte sich eine neue Fluchtroute, von Serbien über Rumänien. Schnell begannen auch dort die Behörden, auf Pushbacks und Gewalt zu setzen. Unsere serbische Partnerorganisation klikAktiv berichtete z.B. über demütigende Methoden an den Grenzen. Manche Personen wurden gezwungen, sich bis auf die Unterhose auszuziehen und so zurück nach Serbien zu laufen. Ebenso sind dort offenbar maskierte Einheiten ohne offizielle Insignien aktiv, die Geflüchtete verprügeln, ausrauben und zurück über die Grenze transportieren.
Pushbacks an Europas Grenzen: Ungarn
Ebenso von Serbien aus versuchten viele Schutzsuchende lange, nach Ungarn zu gelangen. Die europarechtlich garantierte Möglichkeit, einen Asylantrag in Ungarn zu stellen ist jedoch nicht mehr vorgesehen. Ungarn verweist stattdessen auf eine vorherige Registrierung des Wunsches der Asylantragsstellung in der ungarischen Botschaft in der serbischen Hauptstadt Belgrad, oder – noch absurder – in Kiew. Weiterhin setzt Ungarn auf das altbekannte Mittel der brutalen Pushbacks.
Pushbacks an Europas Grenzen: Mazedonien
2016 war das griechische Örtchen Idomeni tagelang in den überregionalen Schlagzeilen. Das mazedonische Militär verweigerte Flüchtlingen dort die Weiterreise. In Griechenland wurden sie damals kaum noch registriert, geschweige denn dass es die Möglichkeit auf die Stellung eines Asylantrags gab. Viele flohen daher weiter und wurden brutal aufgehalten. Mit Unterstützung von PRO ASYL legten acht Menschen aus Syrien, Irak und Afghanistan Beschwerde beim EGMR ein. 2022 wurde das Urteil gesprochen – und die Klage leider abgewiesen. Wir kämpfen trotzdem weiter für die Rechte von Geflüchteten an den Grenzen!
Mit unserer Einzelfallberatung und unserem Rechtshilfefonds unterstützen wir Geflüchtete. Mit unseren Partnerorganisationen in Griechenland, Kroatien, Ungarn oder Serbien recherchieren und dokumentieren wir Abschottung und Gewalt an Europas Grenzen. Und unser Advocacy-Team bringt Präzedenzfälle bis vor die höchsten Gerichte: Damit Menschenrechtsverletzungen nicht ungestraft bleiben und Flüchtlinge Gerechtigkeit erfahren.
Der Einsatz für schutzsuchende Menschen kostet Geld! Jede Spende hilft, jeder Beitrag ist eine wertvolle Unterstützung. Wir sagen schon jetzt: Herzlichen Dank!