News
»Es gibt Pushbacks an jedem einzelnen Tag in Griechenland«
Weil sie als Europa-Abgeordnete auf Samos war, konnte sie fünf Schutzsuchende retten, die sonst vermutlich illegal zurück in die Türkei gebracht worden wären. Cornelia Ernst (Fraktion Die Linke) nahm Anfang November an einer Reise des LIBE-Ausschusses des EU-Parlaments nach Griechenland teil – und ist entsetzt, wie Flüchtlinge dort behandelt werden
Offiziell waren Sie mit dem Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres in Griechenland unterwegs, um sich vor Ort ein Bild von der Lage der Flüchtlinge und Asylsuchenden in Griechenland zu machen. Doch abseits vom Programm haben Sie am 3. November 2021 selbst erlebt, was mit Schutzsuchenden, die aus Richtung der Türkei auf Samos ankommen, passiert. Wie kam es, dass Sie vom offiziellen Programm abgewichen sind?
Zu unserem Programm auf Samos am Dienstag gehörten auch Treffen mit NGOs und anderen Gruppen. Dabei haben wir erfahren, dass in der Nacht in einer Bucht im Norden von Samos ein Boot mit Flüchtlingen angekommen sein soll und unklar sei, was mit den Menschen passiert sei. Die Frage war, ob wir uns das anschauen wollen. Deshalb bin ich mit meiner Mitarbeiterin und anderen Personen zu der Stelle nahe der Küste gefahren.
Was sahen Sie dort?
Dort waren einige uniformierte Polizisten, die das Gelände bewachen. Als ich meinen Badge zeigte, der mich als Mitglied des Europa-Parlaments ausweist, wurde ich sofort reingelassen, auch meine Begleiterinnen und Begleiter konnten mitkommen. Es wurden aber Fotos von uns gemacht.
Was haben Sie dann getan?
Wir sind über das Gelände gelaufen und haben nach Flüchtlingen gesucht. Es ist kein dichter Wald, aber es gibt Möglichkeiten, sich zu verstecken. Dabei haben wir gerufen, dass wir keine Polizisten sind. Schließlich fanden wir vier Männer und eine Frau, sie waren in schlechtem Zustand, besonders die Frau war völlig dehydriert. Sie hatten sich aus Angst vor der Polizei versteckt. Sie sagten, sie selbst seien aus Somalia, auf ihrem Boot seien aber noch 19 oder 20 weitere Menschen gewesen, wohl aus dem Kongo. Wir haben noch weiter gesucht, aber leider niemanden sonst gefunden.
Und was taten die Polizisten?
Es war eine skurrile Situation: Wir liefen über das Gelände – und sie begleiteten uns weitläufig. Die meisten hatten Uniformen an, zwei Männer aber nicht. Ich habe auch gesehen, dass einer von den beiden sich zeitweise maskierte.
Und was passierte mit den fünf Menschen, die sie gefunden hatten?
Wir haben sie der Polizei übergeben und gesagt: Wir gehen davon aus, dass sie ihren Asylantrag stellen können und in eine Unterkunft gebracht werden.
»Es gibt diese Pushbacks an jedem einzelnen Tag in Griechenland. Mit diesen Pushbacks werden europäisches Recht und internationale Konventionen gebrochen.«
Und wissen Sie, ob das passiert ist?
Ja, sie sind jetzt in einer Quarantäneeinrichtung.
Dass Sie an diesem Tag dort waren, war ja ein Zufall. Was passiert dort sonst im Norden von Samos, nur wenige Kilometer über das Meer von der Türkei entfernt?
Ja, in diesen Fall war es ein Glück, dass wir die fünf Flüchtlinge zuerst gefunden haben und sie sozusagen unter unserer Beobachtung an die Behörde übergeben konnten. So konnten sie diese fünf Menschen nicht pushbacken. Aber sonst machen die nichts anders dort als die Menschen, die in der Bucht ankommen, zu suchen und in die Türkei zurückzuschieben. Ich denke, dafür sind auch die Männer dort gewesen, die keine Uniformen trugen und Masken dabei hatten.
Das heißt, völkerrechtswidrige Zurückschiebungen –sogenannte Pushbacks – gibt es immer wieder?
Es gibt diese Pushbacks an jedem einzelnen Tag in Griechenland. Mit diesen Pushbacks werden europäisches Recht und internationale Konventionen gebrochen.
Wissen Sie, was aus den 19 oder 20 Menschen aus dem Boot geworden ist?
Nein. Ich habe immer wieder bei der Küstenwache und auch beim griechischen Minister für Migration und Asyl, Notis Mitarakis, nachgefragt, ich war sehr penetrant. Aber ich habe keine Antwort bekommen beziehungsweise der Minister tat so, als seien es fake news.
Passt dieses Verhalten von Minister Mitarakis, der ja bei der Abschlusspressekonferenz zum Ende Ihrer Delegationsreise war, zu dem, was sie sonst noch in den drei Tagen erfahren haben?
Auf jeden Fall. Es ist eine Katastrophe, was in Griechenland mit den Schutzsuchenden passiert. Die Menschen, die noch im Asylverfahren und somit in den Lagern sind, bekommen seit einigen Wochen noch weniger Geld und weniger Essen. Und die Menschen, die als Flüchtlinge anerkannt sind, bekommen weder Geld noch eine andere Unterstützung, sie müssen teilweise in Mülleimern wühlen. Die Menschen sind am Ende. Als wir in Athen in einem Lager waren, brach der Protest aus. Ich habe in meinem Leben schon viel gesehen, aber eine solche Situation habe ich nicht mal 2014 im Irak erlebt. In Griechenland wird ein humanitäres Drama geschaffen.
(wr)