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Während die einen golfen, versuchen andere verzweifelt über den Grenzzaun in die spanische Exklave Melilla zu gelangen. Foto: José Palazon

Der Menschenrechtsgerichtshof hat ein früheres Urteil zu »Push-Backs« von Spanien nach Marokko revidiert. Diese seien keine verbotenen kollektiven Abschiebungen gewesen, die Schutzsuchenden hätten legale Einreisewege nutzen müssen. Der Gerichtshof ignoriert die tatsächliche Lage an den Grenzen und schafft einen gefährlichen Präzedenzfall.

Die Ein­schät­zun­gen zum am 13. Febru­ar 2020 ergan­ge­nen Urteil der Gro­ßen Kam­mer des Euro­päi­schen Gerichts­hofs für Men­schen­rech­te (EGMR) in dem Fall N.D. und N.T gegen Spa­ni­en sind ein­deu­tig: Das Urteil sei »welt­fremd und geht an der har­ten Rea­li­tät vor­bei, der Flücht­lin­ge aus­ge­setzt sind« (SZ vom 13.02.2020). Die Orga­ni­sa­ti­on ECCHR, die u.a. die Klä­ger vor dem EGMR ver­tre­ten haben, befürch­ten sogar: »Ande­re Län­der wer­den die­se Ent­schei­dung als Blan­ko­scheck für bru­ta­le Push-Backs ver­ste­hen«.

Der Fall: Direkte Abschiebung nach Marokko

Ein­stim­mig hat­ten die Richter*innen der Gro­ßen Kam­mer in N.D. und N.T. ent­schie­den, die Kla­ge der zwei Män­ner aus Mali bzw. der Elfen­bein­küs­te abzu­wei­sen. Sie hat­ten im August 2014 mit über 70 wei­te­ren Per­so­nen ver­sucht, über die Grenz­zäu­ne von Marok­ko nach Mel­il­la auf spa­ni­schen Boden zu gelan­gen. Nach­dem sie über die Zäu­ne geklet­tert waren, wur­den sie beim Hin­un­ter­klet­tern umge­hend von der spa­ni­schen Guar­dia Civil fest­ge­nom­men – um sie sofort ohne jeg­li­che Prü­fung wie­der nach Marok­ko zurück­zu­schie­ben. Dort war­te­ten schon die marok­ka­ni­schen Sicher­heits­kräf­te, die die Schutz­su­chen­den ins Lan­des­in­ne­re ver­brach­ten. Die­ser soge­nann­te »Push-Back« ist auch durch Video­ma­te­ri­al ver­schie­de­ner Journalist*innen und Zeug*innen belegt.

Die Kammer-Entscheidung von 2017: Klarer Verstoß gegen das Verbot der Kollektivausweisung

Am 3. Okto­ber 2017 hat der EGMR zum ers­ten Mal in dem Fall ent­schie­den. Die Kam­mer, in der sie­ben Richter*innen ent­schei­den, gab den Klä­gern auf gan­zer Linie Recht. Der Gerichts­hof stell­te sowohl einen Ver­stoß gegen das Ver­bot der Kol­lek­tiv­aus­wei­sung (Arti­kel 4 des Vier­ten Zusatz­pro­to­kolls der EMRK) als auch gegen das Recht auf wirk­sa­me Beschwer­de (Arti­kel 13 EMRK) fest. Denn zu kei­ner Zeit hat­ten die Betrof­fe­nen über­haupt die Mög­lich­keit, ein Ver­fah­ren ein­zu­lei­ten oder Rechts­schutz in Anspruch zu neh­men. Es wur­de nicht ein­mal ihre Iden­ti­tät geprüft, es konn­ten kei­ner­lei per­sön­li­chen Umstän­de vor­ge­bracht wer­den. Die lang­jäh­ri­ge Abschie­be­pra­xis der spa­ni­schen Behör­den wur­de damit vom EGMR als rechts­wid­rig beurteilt.

Die »Push-Backs« von Mel­il­la sowie der wei­te­ren Enkla­ve Ceu­ta nach Marok­ko wur­den von Spa­ni­en der­weil sowohl 2018 als auch 2019 wei­ter fortgesetzt

Spa­ni­en ging gegen das Urteil in Beru­fung. Des­we­gen muss­te jetzt die Gro­ße Kam­mer des EGMR, bestehend aus 17 Richter*innen, erneut über den Fall entscheiden.

Die »Push-Backs« von Mel­il­la sowie der wei­te­ren Enkla­ve Ceu­ta nach Marok­ko wur­den von Spa­ni­en der­weil sowohl 2018 als auch 2019 wei­ter fortgesetzt.

Verbot der Kollektivausweisung – eigentlich eine klare Sache

Die Gro­ße Kam­mer beginnt in ihrer Begrün­dung zunächst mit eini­gen grund­sätz­li­chen Aus­füh­run­gen zum Ver­bot der Kol­lek­tiv­aus­wei­sun­gen und inwie­fern die­ses an der Land­gren­ze anwend­bar ist – denn die Fäl­le in denen bis­lang die Ver­let­zung die­ses Ver­bo­tes fest­ge­stellt wur­de, spiel­ten sich z. B. auf hoher See ab. Der EGMR legt prin­zi­pi­ell recht­li­che Begrif­fe »auto­nom« aus, also unab­hän­gig von der Bedeu­tung in den ver­schie­de­nen natio­na­len Rechtsordnungen.

Eine Ausweisung/Abschiebung ist »kol­lek­tiv«, wenn meh­re­re Men­schen als Grup­pe abge­scho­ben wer­den und es kei­ne indi­vi­du­el­le Prü­fung gab

Den Begriff der Ausweisung/Abschiebung (auf Eng­lisch »expul­si­on«) inter­pre­tie­ren die Richter*innen als jedes unfrei­wil­li­ge außer Lan­des Schaf­fen einer Per­son, unab­hän­gig davon, ob die Per­son sich recht­mä­ßig in dem Land auf­ge­hal­ten hat, ob sie ille­gal oder legal ein­ge­reist ist, ob die Per­son als Migrant*in oder als asyl­su­chend gilt und wie sie sich an der Gren­ze ver­hal­ten hat (Rn. 185). Eine Ausweisung/Abschiebung ist »kol­lek­tiv«, wenn meh­re­re Men­schen als Grup­pe abge­scho­ben wer­den und es kei­ne indi­vi­du­el­le Prü­fung gab, im Rah­men derer sie Grün­de vor­brin­gen konn­ten, die gegen ihre Abschie­bung spre­chen (Rn. 193).

Wären die Richter*innen allein bei die­ser bereits eta­blier­ten Recht­spre­chungs­li­nie geblie­ben, sie hät­ten – wie bereits die Richter*innen in der Kam­mer im Jahr 2017 – einen Ver­stoß des Ver­bots der Kol­lek­tiv­aus­wei­sung fest­stel­len müs­sen. Denn die Klä­ger wur­den ohne jedes Ver­fah­ren direkt abgeschoben.

Freiwillige Entscheidung zur illegalen Einreise?!

Statt­des­sen prü­fen die Richter*innen, ob in Fäl­len, bei denen eine Grup­pe von Men­schen gleich­zei­tig ver­sucht eine Gren­ze zu über­que­ren und damit eine chao­ti­sche Situa­ti­on erzeugt, die schwie­rig zu kon­trol­lie­ren ist und die eine Gefahr für die öffent­li­che Sicher­heit dar­stellt, nicht die betrof­fe­ne Per­son selbst an der Kol­lek­tiv­aus­wei­sung Schuld sei. Dafür ent­wi­ckel­ten sie fol­gen­den Test (Rn. 201):

  • Hat der Staat tat­säch­li­che und effek­ti­ve Mög­lich­kei­ten eines lega­len Zugangs ermög­licht, z.B. mit einem Grenzverfahren?
  • Gab es zwin­gen­de Grün­de dafür, war­um die betrof­fe­ne Per­son die­se Zugangs­we­ge nicht genutzt hat und war dafür der Staat verantwortlich?

Dass es für die Klä­ger auf­grund von »racial pro­fil­ing« durch die marok­ka­ni­sche Poli­zei nicht mög­lich gewe­sen wäre, so nah an die Gren­ze zu kom­men, wischen die Richter*innen mit dem Argu­ment bei­sei­te, dass Spa­ni­ens Ver­ant­wor­tung dafür nicht belegt wurde

Zahl­rei­che Berich­te, u.a. vom UNHCR und dem Men­schen­rechts­kom­mis­sar des Euro­pa­ra­tes, bezeug­ten in dem Ver­fah­ren, dass es einen sol­chen tat­säch­li­chen Zugang für Men­schen aus Sub-Saha­ra Afri­ka nicht gab. Doch den Richter*innen reicht, dass es eine gesetz­li­che Grund­la­ge für Bot­schafts­ver­fah­ren gab und dass es zum Zeit­punkt des Vor­falls ver­ein­zel­te Fäl­le von Asyl­an­trä­gen an dem frag­li­chen Grenz­über­gang gab. Dass es für die Klä­ger auf­grund von »racial pro­fil­ing« durch die marok­ka­ni­sche Poli­zei nicht mög­lich gewe­sen wäre, so nah an die Gren­ze zu kom­men, wischen die Richter*innen mit dem Argu­ment bei­sei­te, dass nicht belegt wur­de, dass dies Spa­ni­ens Ver­ant­wor­tung sei.

Auf­grund die­ser Ver­ken­nung der Rea­li­tät an der Gren­ze kom­men die Richter*innen dann zum fol­gen­den Schluss: die Klä­ger hät­ten sich selbst in Gefahr gebracht in dem sie ver­sucht hat­ten, über den Grenz­zaun nach Spa­ni­en zu gelan­gen, anstatt einen der angeb­lich zur Ver­fü­gung ste­hen­den lega­len Ein­rei­se­we­ge zu nut­zen. Des­we­gen sei es auch ihre Schuld, dass es kei­ne indi­vi­du­el­le Prü­fung in ihren Fäl­len gege­ben hät­te (Rn. 231).

Der Kampf um die Menschenrechte geht weiter

Die Ent­schei­dung der Gro­ßen Kam­mer des EGMR in N.D und N.T ist ohne Fra­ge eine gro­ße Ent­täu­schung und ein Rück­schritt in der bis­lang meist pro­gres­si­ven Rol­le des Gerichts­hofs bei der Fra­ge des Schut­zes von Men­schen­rech­ten an der Außengrenze.

Bei der Ver­ein­bar­keit mit dem inter­na­tio­na­len Recht zählt nicht nur das Ver­bot der Kol­lek­tiv­aus­wei­sung nach der EMRK, son­dern auch das Ver­bot der Fol­ter, wel­ches neben der EMRK auch in ande­ren inter­na­tio­na­len Ver­trä­gen ver­brieft ist

Das lenkt zum einen den Blick auf ande­re Men­schen­rechts­in­sti­tu­tio­nen: Der UN-Kin­der­rech­te­aus­schuss hat­te in einem ähn­lich gela­ger­ten Fall eines unbe­glei­te­ten Min­der­jäh­ri­gen aus Mali im Febru­ar 2019 die­se Form der direk­ten Abschie­bung von Mel­il­la nach Marok­ko ver­ur­teilt, u.a. als Ver­stoß gegen das auch in der Kin­der­rechts­kon­ven­ti­on ent­hal­te­ne Ver­bot der Fol­ter. In Spa­ni­en haben Ent­schei­dun­gen der UN-Men­schen­rechts­aus­schüs­se bin­den­de Wir­kung. Ent­spre­chend soll­te auch das spa­ni­sche Ver­fas­sungs­ge­richt die­se Ent­schei­dung im Rah­men eines lau­fen­den Ver­fah­rens zu der spa­ni­schen Geset­zes­vor­schrift, die die »Push-Backs« ver­meint­lich erlaubt, berück­sich­ti­gen. Das Ver­fah­ren wur­de bis zur EGMR-Ent­schei­dung aus­ge­setzt, doch zählt bei der Ver­ein­bar­keit mit dem inter­na­tio­na­len Recht nicht nur das Ver­bot der Kol­lek­tiv­aus­wei­sung nach der EMRK, son­dern auch das Ver­bot der Fol­ter, wel­ches neben der EMRK auch in ande­ren inter­na­tio­na­len Ver­trä­gen ver­brieft ist. Viel­leicht wer­den die »Push-Backs« nach Marok­ko also bald doch noch recht­lich gestoppt.

Zum ande­ren aber darf auch der Weg nach Straß­burg nicht auf­ge­ge­ben wer­den: Das letz­te Wort zu »Push-Backs« an euro­päi­schen Gren­zen ist noch lan­ge nicht gespro­chen. Der Kampf für die Ach­tung der Men­schen­rech­te aller Men­schen geht weiter.

(wj)