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Menschenrechtsgerichtshof verurteilt Kroatien wegen illegaler Pushbacks
Der Tod der sechsjährigen Madina war die traurige Folge einer illegalen Zurückweisung durch Kroatien, urteilte der EGMR. Er bestätigt damit, dass die kroatische Grenzpolizei Menschenrechte verletzt. Die EU und Deutschland müssen Konsequenzen ziehen und die Unterstützung des kroatischen Grenzschutzes, der systematisch Pushbacks durchführt, beenden.
Am 18. November 2021 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass Kroatien Madina und ihre Familie ohne individuelles Verfahren abgeschoben und damit gegen das Verbot der Kollektivausweisung verstoßen hatte. Mit dem Tod Madinas im Laufe des Pushbacks wurde ihr Recht auf Leben durch Kroatien verletzt. Neben weiteren Rechtsverletzungen wurde außerdem festgestellt, dass Kroatien keine wirksamen Untersuchungen des Falls durchgeführt hat.
Es ist das erste Mal, dass der EGMR zu Pushbacks in Kroatien geurteilt hat. Die Organisationen, die das Verfahren begleitet haben und der Familie seither zur Seite stehen, hoffen auf eine Signalwirkung und fordern nun unter anderem, personelle Konsequenzen aus dem Urteil zu ziehen. Sie fordern den kroatischen Premierminister Andrej Plenković auf, die verantwortlichen Polizeidirektoren sowie Innenminister Davor Božinović zu entlassen. Sie fordern außerdem die Entlassung von Staatssekretärin Terezija Gras, da sie Menschenrechtsverteidiger*innen unter Druck gesetzt und unabhängige Ermittlungen in dem Fall behindert hat.
Der Tod der sechsjährigen Madina Hussiny
Zum Hintergrund: Im November 2017 überquert die sechsjährige Madina Hussiny mit einem Teil ihrer Familie die serbisch-kroatische Grenze. Nachdem sie von der kroatischen Polizei entdeckt worden sind, äußeren sie ihr Asylgesuch. Die kroatische Polizei ignoriert das jedoch und befiehlt der Familie, den Zuggleisen zu folgen und zurück nach Serbien zu gehen. In der Dunkelheit wird Madina von einem Zug erfasst und stirbt.
Die kroatische Polizei ignoriert ihr Asylgesuch und befiehlt der Familie, den Zuggleisen zu folgen und zurück nach Serbien zu gehen. In der Dunkelheit wird Madina von einem Zug erfasst und stirbt.
Der Fall erregte international und in Kroatien viel Aufmerksamkeit. Die kroatische Regierung stritt die Vorwürfe ab. »Wir betonen, dass die Maßnahmen der kroatischen Grenzpolizei in keiner Weise zu dem Unfall und dem Tod des Kindes beigetragen oder diesen verursacht haben«, erklärte das Innenministerium 2017 und fügte hinzu, die Behandlung aller Flüchtlinge und Migrant *innen entspreche dem EU-Recht.
Mit der Unterstützung von Menschenrechtsorganisationen klagte die Familie gegen Kroatien. Die Strafanzeige in Kroatien war jedoch erfolglos, weil der Staatsanwalt nur den Untersuchungsergebnissen des Innenministeriums folgte, statt andere Beweismittel und die Aussagen der Betroffenen zu untersuchen. Der Fall wurde deshalb von der Anwältin der Familie vor den EGMR gebracht, der nun bestätigt hat, dass die kroatischen Behörden den Pushback und die Menschenrechtsverletzungen begangen haben.
Systematische Pushbacks und Polizeibrutalität: Kroatische Regierung leugnet, was alle wissen
Der Pushback der Familie Hussiny ist kein Einzelfall: Die massenhaften Pushbacks an den Grenzen Kroatiens zu Serbien und Bosnien-Herzegowina werden seit Jahren dokumentiert. Seit 2018 versuchen Schutzsuchende vermehrt über Bosnien-Herzegowina nach Kroatien einzureisen. Allein an dieser Grenze haben Menschenrechtsorganisationen zwischen Juni 2019 und September 2021 über 30.000 Pushbacks gezählt.
Die Pushbacks gehen oft mit brutaler Gewaltanwendung und Erniedrigungen einher. Die Schutzsuchenden werden ihres letzten Hab und Guts beraubt, sie werden gezwungen, ihre Kleidung und Schuhe trotz Kälte und Nässe auszuziehen. Polizeieinheiten verprügeln die Betroffenen, immer häufiger gibt es Berichte von sexualisierter Gewalt.
Im November 2020 wurde ein Pushback der kroatischen Spezialeinheiten auf Video festgehalten. Zu sehen sind verletzte Schutzsuchende und im Hintergrund maskierte Einsatzkräfte, unter anderem ausgerüstet mit Peitschen. Die kroatische Regierung hat die Pushbacks und die Polizeigewalt trotz allem immer wieder konsequent geleugnet.
Abschottung um jeden Preis
Am 6. Oktober 2021 veröffentlicht ein journalistisches Recherchekollektiv weitere Beweise für gewaltvolle Pushbacks an den EU-Außengrenzen in Griechenland und Kroatien. Auf Videos und Fotos ist die Brutalität der polizeilichen Spezialeinheiten zu sehen.
Die kroatische Regierung reagierte auf die Veröffentlichung mit der Suspendierung einzelner Polizeibeamter. Es ist jedoch seit langem klar, dass es sich bei den Pushbacks in Kroatien nicht um Einzelfälle handelt, sondern um eine politische Leitlinie, die systematisch umgesetzt wird. Polizeibeamte haben sich schon vor Jahren bei der kroatischen Ombudsfrau beschwert, dass es sich bei der Praxis um Anweisungen ihrer Vorgesetzten und nicht um individuelles Fehlverhalten handelt.
Es ist jedoch seit langem klar, dass es sich bei den Pushbacks in Kroatien nicht um Einzelfälle handelt, sondern um eine politische Leitlinie, die systematisch umgesetzt wird.
»Pushbacks und die Gewalt gegen Schutzsuchende sind Ausdruck einer Politik, die auf Abschottung statt Schutz setzt – um jeden Preis«, ordnet am 29. Oktober ein europäisches Bündnis aus Menschenrechtsorganisationen und aktivistischen Netzwerken die EU-Politik an den Außengrenzen ein – in einem Appell an die Verhandler*innen der Ampel-Parteien.
Kroatischer Grenzschutz wird von EU und Deutschland mitfinanziert und ausgerüstet
Mit 6,8 Millionen Euro unterstützt die EU-Kommission den kroatischen Grenzschutz seit Dezember 2018. Von Deutschland erhält Kroatien als bilaterale Unterstützung Polizeiausrüstung: Im Januar 2020 übergab Bundesinnenminister Horst Seehofer seinem kroatischen Amtskollegen Wärmebildkameras im Wert von 350.000 Euro, im Dezember 2020 erhielt der kroatische Grenzschutz Fahrzeuge im Wert von 835.000 Euro.
Zwar hat die EU-Kommission 300.000 Euro für einen Menschenrechtsbeobachtungsmechanismus vorgesehen, doch Kroatien hat lange versucht, diesen zu umgehen, obwohl das eine Bedingung für EU-Gelder für den kroatischen Grenzschutz war. Im August 2021, also drei Jahre nach Zusicherung der Finanzierung, hat die kroatische Regierung laut Medienberichten nun einen solchen Mechanismus eingeführt.
Zweifel an kroatischem Menschenrechtsbeobachtungsmechanismus
Dessen Durchschlagskraft wird jedoch stark angezweifelt. Von NGOs und im Europaparlament wurden Zweifel an der Unabhängigkeit und Effektivität des Mechanismus geäußert. Die Organisationen, die den Mechanismus umsetzen sollen, erhalten ihr Geld von der kroatischen Regierung. Beobachtungsmissionen in Grenzregionen abseits der offiziellen Grenzübergänge müssen im Vorhinein den Behörden angekündigt werden, was das ganze Unterfangen zur Farce machen würde.
Doch der Fall von Madina Hussiny und das Urteil verdeutlichen: Um Pushbacks in Zukunft zu verhindern, ist ein unabhängiger, transparenter und effektiver Menschenrechtsbeobachtungsmechanismus eine Mindestvoraussetzung.
Besorgnis ist nicht genug: Sanktionen im Fall von Menschenrechtsverletzungen
Die zuständige EU-Kommissarin, Ylva Johannson, hat sich nach den Veröffentlichungen aus dem Oktober 2021 »extrem besorgt« gezeigt und erwartet von den kroatischen Behörden Aufklärung.
Die EU-Kommission darf sich aber weder mit Bauernopfern zufrieden geben, die die suspendierten Polizeibeamten darstellen noch kann sie einen von ihr finanzierten Menschenrechtsbeobachtungsmechanismus akzeptieren, der kein robustes Mandat besitzt.
Das Urteil im Fall von Madina Hussiny macht deutlich, wie unzureichend die kroatischen Behörden in Pushback-Fällen ermitteln. Beim EGMR sind weitere Verfahren anhängig. Die EU-Kommission muss im Fall von Menschenrechtsverletzungen selbst aktiv werden und Vertragsverletzungsverfahren gegen Kroatien einleiten, anstatt die kroatische Regierung mit dem Schengen-Beitritt zu belohnen.
Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen das Urteil zum Anlass nehmen, ihre Unterstützung des kroatischen Grenzschutzes an die Einhaltung von Menschenrechten zu knüpfen.
(dm)