28.10.2022
Image
Symbolbild: Dass die griechische Küstenwache sogar mit Waffen agiert, um Geflüchtete zurückzuweisen, haben wir 2014 schon in unserem Bericht »pushed back« dokumentiert. Kurz darauf kam es zum schrecklichen Unglück von Farmakonisi. (c) Giorgos Moutafis

Im Januar 2014 sterben elf Menschen im Schlepptau der griechischen Küstenwache vor der Insel Farmakonisi. Die Überlebenden klagen an, doch wenig passiert. Erst 2022 verurteilt der Menschenrechtsgerichtshof Griechenland in allen zentralen Punkten. Der Fall zeigt, wie PRO ASYL mit seinen Partner*innen jahrelang um Gerechtigkeit kämpft.

In der stür­mi­schen Nacht des 20. Janu­ar 2014 trifft die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che in der öst­li­chen Ägä­is auf einen Kut­ter mit Flücht­lin­gen aus Syri­en und Afgha­ni­stan. Die Küs­ten­wa­che nimmt das Boot in Schlepp­tau und zieht es mit hoher Geschwin­dig­keit in Rich­tung Tür­kei. Der Anker­punkt am Bug des Boo­tes bricht her­aus. Ein Beam­ter der Küs­ten­wa­che klet­tert auf den Kut­ter und befes­tigt das Seil erneut. Bei die­sem zwei­ten Abschlepp­ver­such wird das Boot so stark beschä­digt, dass es sinkt. Drei Frau­en und acht Kin­der ster­ben, 16 Men­schen über­le­ben. Sie wer­den an grie­chi­sche Soldat*innen auf der Insel Farm­a­ko­ni­si über­ge­ben, die sie dazu nöti­gen, sich in Eises­käl­te vor vie­len Men­schen nackt auszuziehen.

Die grie­chi­sche Jus­tiz geht in der Fol­ge nicht gegen die Küs­ten­wa­che vor, son­dern ver­ur­teilt einen der Über­le­ben­den als angeb­lich schul­di­gen Kapi­tän des Flücht­lings­boots. Im Janu­ar 2015 rei­chen die Über­le­ben­den des Unglücks mit­hil­fe von PRO ASYL Kla­ge beim Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) ein, der Grie­chen­land im Juli 2022 ver­ur­teilt.

PRO ASYL war zum Zeit­punkt des tra­gi­schen Vor­falls bereits seit sie­ben Jah­ren in Grie­chen­land aktiv. Karl Kopp, Lei­ter der Euro­pa-Abtei­lung von PRO ASYL, erin­nert sich: »Wir hat­ten erst weni­ge Wochen zuvor in Brüs­sel den Bericht »Pushed back« über sys­te­ma­ti­sche völ­ker­rechts­wid­ri­ge Zurück­wei­sun­gen in der Ägä­is und an der grie­chisch- tür­ki­schen Land­gren­ze vorgelegt.

»…dann kam der Moment, der unse­re Berich­te auf dra­ma­ti­sche Wei­se bestätigte«

Karl Kopp, PRO ASYL

Wir haben dar­in beschrie­ben, wie mas­kier­te Ein­hei­ten der Küs­ten­wa­che Boots­flücht­lin­ge auf­grei­fen, miss­han­deln, gar fol­tern, und sie auf lebens­ge­fähr­li­che Art und Wei­se zurück­schaf­fen. Wir hat­ten damals schon den Ein­druck, dass hier etwas völ­lig außer Kon­trol­le gerät.« Und dann kam der Moment, der all das auf dra­ma­ti­sche Wei­se bestätigte.

YouTube

Mit dem Laden des Vide­os akzep­tie­ren Sie die Daten­schutz­er­klä­rung von You­Tube.
Mehr erfah­ren

Video laden

Die Nacht von Farmakonisi

Es gab auch vor­her zahl­rei­che Todes­fäl­le in der Ägä­is, mit und ohne Push­backs. Aber die­ses Mal han­del­te es sich um ein Boot, das unmit­tel­bar vor dem Unter­gang unstrit­tig unter der Kon­trol­le der grie­chi­schen Küs­ten­wa­che war. Karl Kopp ord­net ein: »Vie­le der Opfer im Mit­tel­meer wer­den ein­fach weg­ge­schwemmt, ohne Gesicht, ohne jeman­den, der ihnen eine Stim­me leiht. Das war bei Farm­a­ko­ni­si anders. Hier gab es Über­le­ben­de, die erzäh­len, was pas­siert ist. Betrof­fe­ne, die ankla­gen, für sich und für ihre ertrun­ke­nen Frau­en und Kinder.«

Unmit­tel­bar nach­dem die Über­le­ben­den des fata­len Ein­sat­zes am 23. Janu­ar in Pirä­us anka­men, wur­den sie vom UNHCR und einer Rei­he grie­chi­scher Orga­ni­sa­tio­nen unter­stützt. Am 25. Janu­ar ver­an­stal­te­ten die Über­le­ben­den mit Hil­fe des Ver­eins The Greek Forum of Refu­gees eine Pres­se­kon­fe­renz, auf der sie unmiss­ver­ständ­lich deut­lich mach­ten: Das war kei­ne miss­lun­ge­ne Ret­tungs­ak­ti­on. Das war ein ver­such­ter Push­back, bei dem unse­re Liebs­ten umge­kom­men sind.

»Aus den Berich­ten ergab sich für uns der Auf­trag, alles zu tun, um den Vor­fall auf­zu­klä­ren und den Men­schen zu ihrem Recht zu ver­hel­fen«, erläu­tert Karl Kopp rück­bli­ckend die Moti­va­ti­on von PRO ASYL. Die Rechts­an­wäl­tin Mari­an­na Tze­fera­kou, eine lang­jäh­ri­ge Koope­ra­ti­ons­part­ne­rin von PRO ASYL, über­nahm gemein­sam mit Maria Papa­mi­na (Grie­chi­scher Flücht­lings­rat) und ande­ren Anwält*innen das Man­dat für die Überlebenden.

»Bit­te unter­stüt­zen Sie uns. Las­sen Sie nichts unver­sucht, um den Tod unse­rer Liebs­ten vor Gericht zu bringen.«

Appell der Über­le­ben­den der Fami­li­en Ahma­di, Azi­zi und Safi nach­dem die grie­chi­schen Behör­den den Fall im Juli 2014 zu den Akten gelegt hatten

Zunächst galt es, zu errei­chen, dass alle Ertrun­ke­nen gebor­gen wer­den. Es war den Hin­ter­blie­be­nen ein gro­ßes Anlie­gen, ihre Ange­hö­ri­gen wür­dig bestat­tet zu kön­nen. Die Leich­na­me einer Frau und ihres Soh­nes wur­den am nächs­ten Tag an der tür­ki­schen Küs­te gefun­den, kur­ze Zeit spä­ter auch der Kör­per eines Babys am Strand von Samos/Griechenland. Die wei­te­ren acht Toten befan­den sich ein­ge­keilt im Schiffs­rumpf auf dem Mee­res­grund. Die Über­le­ben­den und die, unter ande­rem auch in Deutsch­land leben­den, Ange­hö­ri­gen for­der­ten die Ber­gung des gesun­ke­nen Boo­tes und ihrer Toten. Erst Wochen spä­ter – nach mas­si­vem öffent­li­chen Druck auf die grie­chi­sche Regie­rung – wur­den die acht Lei­chen im Schiff geborgen.

PRO ASYL über­nahm einen gewich­ti­gen Kos­ten­an­teil rund um die Auf­klä­rung des Farm­a­ko­ni­si-Falls, stell­te z.B. den Über­le­ben­den über Mona­te hin­weg Dol­met­schen­de ihres Ver­trau­ens zur Sei­te, leis­te­te unmit­tel­ba­re huma­ni­tä­re Hil­fe und finan­zier­te Gut­ach­ten zu dem Schiffs­un­glück. Mit anwalt­li­cher Hil­fe sowie den Gut­ach­ten unter­stütz­te PRO ASYL die juris­ti­sche Auf­ar­bei­tung der Katastrophe.

Wenn Opfer zu Tätern gemacht werden

Das in der Fol­ge ein­ge­lei­te­te Straf­ver­fah­ren der grie­chi­schen Behör­den wies erheb­li­che Män­gel auf. Es exis­tier­ten kei­ner­lei tech­ni­sche Auf­zeich­nun­gen und Doku­men­ta­tio­nen von dem töd­li­chen Ein­satz, es gab staat­li­cher­seits Dol­met­scher­pro­ble­me, die zu Falsch­do­ku­men­ta­tio­nen führ­ten. Der zustän­di­ge Staats­an­walt stell­te das Ver­fah­ren bereits im Juni 2014 mit der lapi­da­ren Begrün­dung ein, dass Push­backs als Pra­xis nicht exis­tie­ren wür­den. Es sei daher »unnö­tig und über­flüs­sig«, die Behaup­tun­gen der Über­le­ben­den zu berück­sich­ti­gen, da ihre Ver­si­on der Ereig­nis­se auf die­ser Annah­me beru­hen würde

Der grie­chi­sche Staat ver­wei­ger­te also nicht nur die rechts­staat­li­che Auf­ar­bei­tung die­ser töd­lich ver­lau­fen­den Ope­ra­ti­on, son­dern mach­te Opfer zu ver­meint­li­chen Tätern: Unmit­tel­bar nach Anlan­dung der Über­le­ben­den wur­de ein damals 21-jäh­ri­ger syri­scher Flücht­ling fest­ge­nom­men, der sech­zehn­te Über­le­ben­de. Er sol­le das Boot gelenkt und für den Tod der Men­schen ver­ant­wort­lich sein. Er selbst beteu­er­te sei­ne Unschuld und auch die ande­ren Über­le­ben­den ver­si­cher­ten: Er ist ein Flücht­ling wie wir, es gab über­haupt kei­nen Schlep­per an Bord. Trotz­dem wur­de er als angeb­li­cher Kapi­tän des Boo­tes für den Tod der elf Men­schen zu einer Haft­stra­fe von über 120 Jah­ren sowie zu einer Geld­stra­fe von 570.050 Euro ver­ur­teilt. Oben­drauf kam eine Haft­stra­fe von 25 Jah­ren für den angeb­li­chen ille­ga­len Transport.

Gewalt an der grie­chi­schen Gren­ze. Jetzt in unse­ren Pod­cast reinhören!

Kli­cken Sie auf den unte­ren But­ton, um den Inhalt von www.podbean.com zu laden.

Inhalt laden

Last Exit: Straßburg 

Der Skan­dal hät­te an die­ser Stel­le enden kön­nen – ohne Kon­se­quen­zen, ohne Ent­schä­di­gungs­zah­lun­gen an die Über­le­ben­den und ohne Ver­ur­tei­lung der Ver­ant­wort­li­chen. Aber die Über­le­ben­den lie­ßen nicht locker und leg­ten ein Jahr nach dem Vor­fall, im Janu­ar 2015, Beschwer­de beim Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te ein. Unter­stützt wur­den sie dabei vom einem Anwält*innenteam.

Der EGMR urteil­te mehr als sie­ben Jah­re spä­ter im Juli 2022 ein­stim­mig: Das Recht auf Leben wur­de ver­letzt. Grie­chen­land ist ver­ant­wort­lich für den elf­fa­chen Tod. Die Über­le­ben­den wur­den unmensch­lich und ernied­ri­gend behandelt.

Der EGMR urteil­te mehr als sie­ben Jah­re spä­ter im Juli 2022 ein­stim­mig: Das Recht auf Leben wur­de ver­letzt. Grie­chen­land ist ver­ant­wort­lich für den elf­fa­chen Tod. Die Über­le­ben­den wur­den unmensch­lich und ernied­ri­gend behan­delt. Es fand kei­ne rechts­staat­li­che Unter­su­chung des töd­li­chen Vor­gangs auf See in Grie­chen­land statt, viel­mehr wur­de ver­tuscht. Zudem ver­ur­teil­te der Gerichts­hof Grie­chen­land zu einer Ent­schä­di­gungs­zah­lung an die Über­le­ben­den von ins­ge­samt 330.000 Euro.

Auch den als angeb­li­chen Schlep­per ver­ur­teil­ten 16. Über­le­ben­den unter­stütz­te PRO ASYL dabei, gegen das dra­ko­ni­sche Urteil in Beru­fung zu gehen. Im Juni 2017 wur­de er vom Gericht in Rho­dos von der Ver­ant­wor­tung für den Tod der elf Men­schen frei­ge­spro­chen, denn – so das Gericht – nie­mand an Bord des Boo­tes hät­te den töd­li­chen Aus­gang ver­hin­dern kön­nen. Zudem wur­de sei­ne Stra­fe wegen des angeb­lich »ille­ga­len Trans­ports« redu­ziert. Kur­ze Zeit spä­ter kam er nach über drei Jah­ren in Haft frei.

Neben der recht­li­chen Auf­ar­bei­tung des Vor­falls setz­te sich PRO ASYL schließ­lich auch für lega­le Wege der Über­le­ben­den zu ihren Ver­wand­ten in ande­re euro­päi­sche Län­der ein. In Bezug auf die Über­le­ben­den mit Ver­bin­dun­gen nach Deutsch­land ist das nach mona­te­lan­gen Ver­hand­lun­gen gelun­gen, sodass sie im Novem­ber 2014 mit huma­ni­tä­ren Visa ein­rei­sen konn­ten. Für das in Deutsch­land ein­ge­lei­te­te Asyl­ver­fah­ren finan­zier­te PRO ASYL einen Asyl­an­walt, der sie erfolg­reich dabei unter­stütz­te, einen Schutz­sta­tus zu erhalten.

PRO ASYL: Der Einzelfall zählt! Und was daraus folgt!

Karl Kopp gene­rell zum Ein­satz PRO ASYL – auch im Fall Farm­a­ko­ni­si: »Wir blei­ben an der Sei­te der Betrof­fe­nen bis zum Schluss. Der Ein­zel­fall zählt – das ist unse­re DNA. Es bedeu­tet, dass wir in dem Moment, in dem wir ein­stei­gen, den Betrof­fe­nen von A bis Z beistehen.«

Gemein­sam mit den Über­le­ben­den will PRO ASYL dafür sor­gen, dass das Urteil nun auch ordent­lich umge­setzt wird. PRO ASYL wird gemein­sam mit den grie­chi­schen Kolleg*innen die Ent­wick­lung für den Euro­pa­rat doku­men­tie­ren und plant zudem mit den Über­le­ben­den Zivil­kla­gen einzureichen.

Gemein­sam mit den Über­le­ben­den will PRO ASYL dafür sor­gen, dass das Urteil nun auch ordent­lich umge­setzt wird.

Karl Kopp: »Wir gehen den Weg wei­ter. Die recht­li­che Aus­ein­an­der­set­zung ist noch nicht zu Ende, und die poli­ti­sche fängt jetzt erst rich­tig an. Die Straf­frei­heit an den euro­päi­schen Außen­gren­zen, die Gewalt, die Nor­ma­li­tät von Völ­ker­rechts­brü­chen, all das wol­len wir angrei­fen. Es darf nicht sein, dass Men­schen schwers­te Straf­ta­ten bege­hen und trotz­dem wei­ter ihren Job machen. Nur wenn Euro­pa das been­det, haben wir über­haupt die Chan­ce, Poli­tik im Ein­klang mit dem Völ­ker­recht, der Men­schen­wür­de, den Men­schen­rech­te und den euro­päi­schen Wer­ten zu betreiben.«

PRO ASYL for­dert schon lan­ge, dass der töd­li­chen Grenz­po­li­tik Grie­chen­lands und ande­rer Län­der an der EU-Außen­gren­ze Ein­halt gebo­ten wird. Ein ver­läss­li­cher Über­wa­chungs­me­cha­nis­mus an den EU-Außen­gren­zen muss instal­liert wer­den, durch den Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen sofort erkannt, zeit­nah auf­ge­ar­bei­tet und straf­recht­lich ver­folgt wer­den. Solan­ge schwe­re Straf­ta­ten unge­sühnt blei­ben oder Urtei­le wie im Farm­a­ko­ni­si-Fall erst jah­re­lang gegen gro­ße Wider­stän­de erkämpft wer­den müs­sen, ent­steht kei­ne Abschre­ckungs­wir­kung für sol­che gewalt­vol­len Prak­ti­ken. In einer von der Stif­tung PRO ASYL mit­fi­nan­zier­ten Stu­die wur­den der EU- Kom­mis­si­on und dem EU-Par­la­ment im Mai 2022 bereits Vor­schlä­ge zur Ein­rich­tung eines sol­chen unab­hän­gi­gen Men­schen­rechts­me­cha­nis­mus‘ an den EU-Außen­gren­zen unterbreitet.

(fw / kk)

PRO ASYL und seine griechischen Partner*innen

PRO ASYL ist seit 2007 in Grie­chen­land prä­sent und arbei­tet mit Initia­ti­ven in Athen, Chi­os, Samos und Les­bos zusam­men. Wäh­rend der gemein­sa­men Ein­sät­ze ent­stand die Idee einer neu­en und zusam­men­füh­ren­den Orga­ni­sa­ti­on: Refu­gee Sup­port Aege­an (RSA). Karl Kopp erläu­tert: »Wir woll­ten sta­bi­le Struk­tu­ren mit unse­ren lang­jäh­ri­gen Part­ner *innen – Jurist*innen, Sozialarbeiter*innen und Dolmetscher*innen – auf­bau­en. Ziel war es, dass unse­re Kolleg*innen, die unter äußerst schwie­ri­gen Ver­hält­nis­sen agie­ren, fai­re Arbeits­be­din­gun­gen haben.« So kam es schließ­lich im Jahr 2017 zur Grün­dung von RSA, heu­te besteht die Orga­ni­sa­ti­on aus einem enga­gier­ten Team mit 16 Personen.