Hintergrund
Gehversuche eines Untoten: Hintergründe zur Krise des Dublin-Systems
Die Ereignisse der vergangenen Tage zeigen deutlich, dass die Dublin-III-Verordnung, die die Verteilung von Flüchtlingen in der EU regelt, gescheitert ist. Die Zukunft des Europäischen Asylsystems ist weiterhin unklar. Es droht, dass am Ende ein „Weiter so!“ steht.
Flüchtlinge schwenkten hoffnungsvoll Merkel-Poster und Deutschland-Fahnen vor dem Budapester Ostbahnhof. Die ungarischen Grenzschützer ließen Züge und Busse voller Flüchtlinge Richtung Österreich und Deutschland passieren – sahen sie in den Nachrichten aus Deutschland doch ein willkommenes Signal, die vielen Schutzsuchenden endlich Richtung Westen loszuwerden.
Und unter dem Druck der Ereignisse gestattete die Bundesregierung in Kooperation mit Österreich den bis dahin an den ungarischen Bahnhöfen festsitzenden Schutzsuchenden die Einreise. In Deutschland wurden die Flüchtlinge an den Bahnhöfen von vielen Bürgerinnen und Bürgern mit Hilfsgütern und Applaus empfangen. Die Dublin-III-Verordnung schien kurzzeitig wie außer Kraft gesetzt, unter Flüchtlingen und Unterstützerinnen und Unterstützern kam die Hoffnung auf, alles könnte sich zum Guten wenden.
Festhalten an einem gescheiterten System
Unter anderem auf Druck der CSU ruderte die Bundesregierung schnell zurück. Prinzipiell, so ließ sie verkünden, gelte die Dublin-Verordnung weiterhin – es habe sich lediglich um eine Ausnahme gehandelt. Im Koalitionsbeschluss vom 6. September heißt es explizit, die Dublin-III-Verordnung müsse weiter eingehalten werden. Dabei ist unumstritten, dass die in der Dublin-Verordnung festgelegte Asylzuständigkeitsregelung der EU nicht funktioniert.
Die Regel, die besagt, dass Flüchtlinge in dem ersten EU-Staat Asyl beantragen müssen, den sie betreten haben, führt dazu, dass es meist die Grenzstaaten der EU wie etwa Griechenland, Italien oder – ganz akut – Ungarn sind, die für den Flüchtlingsschutz verantwortlich erklärt werden – Staaten, die nicht Willens oder nicht in der Lage sind, für menschenwürdige Aufnahmebedingungen und faire Asylverfahren zu sorgen. Folglich bleibt den Betroffenen nur, in andere EU-Staaten weiterzufliehen, die Regelung zu unterlaufen und zu riskieren, wieder zurückgeschoben zu werden.
Neue Dimension des Scheiterns
Mittlerweile hat das Scheitern der Regelung Dimensionen angenommen, die auch von den Staaten im Zentrum der EU, die lange von der Dublin-Regelung profitierten, nicht mehr ignoriert werden kann. Rund 245.000 Flüchtlinge landeten von Januar 2015 bis heute auf den griechischen Inseln an. Weil Schutzsuchende in Griechenland im Elend stranden, bleibt ihnen nichts anderes als die strapaziöse und gefährliche Weiterflucht über Mazedonien und Serbien nach Ungarn – und von dort in andere EU-Staaten.
Tote Flüchtlinge inmitten der EU
Da die Dublin-Verordnung die Weiterflucht innerhalb der EU kriminalisiert, erfolgt auch die Flucht innerhalb der EU zunehmend unter lebensgefährlichen Umständen. Die 71 toten Flüchtlinge, die vor Kurzem in Österreich in einem LKW erstickten, stehen im Zusammenhang mit der Dublin-Regelung, die sich um die Schutzsuchende selbst inmitten der EU zwingt, ihr Leben Schleppern anzuvertrauen. Auch im Euro-Tunnel zwischen Frankreich und England kam es 2015 bereits zu zahlreichen Todesfällen. Mittlerweile sterben daher nicht mehr nur Schutzsuchende an den Außengrenzen der EU, selbst im Kernland der Union hat die EU-Flüchtlingspolitik tödliche Konsequenzen.
Dramatische Situation in Ungarn
Die Weiterflucht aus Ungarn ist für die Betroffenen in der Regel alternativlos: Schutzsuchenden drohen in Ungarn Haft, Obdachlosigkeit und Angriffe rechtsextremer Gruppen. Die rechtspopulistische, offen fremdenfeindliche Regierung Victor Orbans lässt keinen Zweifel daran, dass das Land auf längere Sicht Schutzsuchenden keine Integrationschanchen eröffnet. Daher stranden Flüchtlinge, die es geschafft haben, den ungarischen Grenzzaun an der Grenze zu Serbien zu überqueren, derzeit in Budapest und hoffen auf eine Weiterreise in andere europäische Staaten.
Ob ihre Weiterreise möglich ist, hängt davon ab, wie stark der Druck aus Deutschland und Österreich auf die ungarische Regierung ist. Immer wieder drohen die Staaten im Zentrum der EU den Randstaaten mit der Wiedereinführung von Grenzkontrollen, um die Ausreise von Flüchtlingen zu verhindern – selbst wenn diese Staaten derzeit nicht Willens und in der Lage sind, mehr Flüchtlinge aufzunehmen.
Wollen alle nach Deutschland?
Flüchtlinge haben das rationale Interesse, dorthin zu fliehen, wo sie Anknüpfungspunkte haben – oft sind das Verwandte oder Bekannte, die bereits vor längerer Zeit in der EU leben und bei der Integration wichtige Hilfe leisten können. In Deutschland leben bereits über 150.000 Menschen aus Syrien. Doch auch andere Flüchtlingscommunities sind in Deutschland vertreten, beispielsweise aus dem Irak (über 100.000) oder aus Afghanistan (85.000). Dazu kommt, dass Deutschland zu den wirtschaftlich stärksten Staaten Europas gehört. Während in Italien, Griechenland oder Ungarn Flüchtlinge kaum Chancen auf einen Arbeitsplatz haben, stehen ihre Chancen in Deutschland weitaus besser.
Aber auch die traditionellen Industrie- und Einwanderungsgesellschaften wie Großbritannien, Frankreich, Belgien oder die Niederlande sind Zielpunkte der Flüchtlinge. Die politischen Reaktionen aus diesen Staaten setzen auf Abschottung: Großbritannien und Frankreich versuchen mit aller Härte die Fluchtroute zwischen Calais und dem britischen Festland zu versperren. Es ist mit dem Gedanken des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems nicht vereinbar, dass sich starke Industrienationen mit Polizei und Mauern gegen Flüchtlinge wehren.
Großbritannien hat im letzten Jahr lediglich 31.000 Flüchtlinge (alle Zahlen: Stand 2014) aufgenommen, Frankreich 59.000, die Niederlande 24.000 und Belgien 14.000. Auch in Skandinavien schultert Schweden die Flüchtlingsaufnahme praktisch alleine (75.000). Norwegen (12.500), Finnland (3500) und Dänemark (14.900) sind ebenfalls in der Verpflichtung, Flüchtlinge aufzunehmen. Diese Staaten haben die wirtschaftliche Kraft und die Strukturen, deutlich mehr Flüchtlingen die Aufnahme zu ermöglichen.
Die Quote – Neuauflage der Zwangsverteilung
Die EU-Kommission hat mit ihrer EU-Migrationsagenda vom 13.05.2015 die Idee einer Quoten-Verteilung von Flüchtlingen in die Diskussion eingebracht. Bereits jetzt hat die EU über den Notfallmechanismus des Art. 78 Abs. 3 AEUV (Arbeitsvertrag der Europäischen Union) eine Verteilung von Flüchtlingen aus Griechenland und Italien angestrebt, doch die Verteilung erfolgt nur auf freiwilliger Basis. Das EU-Asylbüro EASO ist mittlerweile im griechischen Hafen Piräus angekommen, um dort die Registrierung der Flüchtlinge für die Verteilung zu übernehmen. Deutschland ist in dieser Frage vorangegangen und hat sich zur Aufnahme von 9.000 Flüchtlingen bereit erklärt. Doch diese Zahlen sind reine Makulatur, wenn man sich vergegenwärtigt, dass nach Angaben von UNHCR bis August 2015 auf den griechischen Inseln 245.000 in Griechenland und 110.000 in Italien angekommen sind.
Der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat deshalb am Wochenende bekannt gegeben, die Zahl von 40.000 zu verteilenden Flüchtlingen auf 120.000 zu erhöhen. Doch ob sich Juncker in dieser Frage durchsetzen wird, ist mehr als fraglich, denn bereits die niedrigere Zahl auf freiwilliger Basis ist bei den vergangenen Verhandlungen gescheitert. Zudem haben Polen, die Slowakei, Ungarn und Tschechien bereits ihren Widerstand gegen die Pläne verkündet.
„Hot Spots“ – Kasernierung von Flüchtlingen an den Außengrenzen?
Um die Verteilung von Flüchtlingen in der EU nach einem Quoten-Modell zu ermöglichen sollen so genannte Hot-Spot-Center eingerichtet werden. Diese „sollen von der EU unter Beteiligung des UNHCR gemeinsam mit den betroffenen Staaten errichtet und betrieben werden, damit eine ordnungsgemäße Prüfung und Entscheidung der Asylverfahren vor der Rückführung oder Weiterreise in andere Mitgliedsstaaten sichergestellt ist“, heißt es dazu im Koalitionsbeschluss vom 6.09.2015. Wie dort faire Asylverfahren installiert werden sollen, bleibt bislang jedoch unklar.
Wenn weiterhin die Asylanträge und Registrierungen ausschließlich in Griechenland, Italien oder Ungarn bearbeitet werden sollen, droht, dass die Flüchtlinge in diesen Staaten lange in den „Hot-Spot-Centern“ kaserniert werden. Dazu kommt, dass ein Quoten-Modell zur Verteilung der Schutzsuchenden Weiterwanderungen kaum verhindern wird. Die Quote wird keinen Flüchtling aus Syrien, der seine Netzwerke in Deutschland hat, davon abhalten, sich aus dem ihm zugewiesenen Staat erneut auf den Weg durch Europa in das Land seiner Wahl zu machen. Die zwangsweise Zuständigskeitsverteilung nach Quote droht – wie im Fall des bisherigen Dublin-Systems – wieder zu massenweisen innereuropäischen Abschiebungen zu führen.
Warum andere EU-Staaten die Solidarität verweigern
Lange gehörte die Bundesregierung zu den Verfechtern der strukturell unsolidarischen Dublin-Regelung. Bei den Verhandlungen über die Dublin-II-Verordnung im Jahr 2003 hatten die reichen europäischen Kernstaaten, insbesondere Deutschland, die südlichen EU-Staaten mit dem Versprechen eingekauft, finanzielle Mittel für die Flüchtlingsaufnahme bereit zu stellen. Sonst hätten die EU-Randstaaten der Dublin-Regelung kaum zugestimmt.
Längst sind die Ausgangsbedingungen der Dublin-Regelung von 2003 Makulatur. Und da die Bundesregierung mittlerweile aufgrund der Weiterwanderung tausender Schutzsuchender aus den EU-Randstaaten nach Deutschland das Scheitern des Systems an den hierzulande stark gestiegenen Asylzugangszahlen ablesen kann, tritt mittlerweile auch Deutschland dafür ein, das Dublin-System durch ein neues, „gerechteres“ Modell zu ersetzen.
Flüchtlingsinteressen in den Vordergrund – Freie Wahl des Zufluchtsorts
PRO ASYL tritt mit der Diakonie Deutschland, dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, der Arbeiterwohlfahrt, dem Jesuiten-Flüchtlingsdienst, dem Deutschen Anwaltsverein, dem Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein, der Neuen Richtervereinigung und der Rechtsberaterkonferenz für die freie Wahl des Zielstaats der Flucht ein: Flüchtlinge sollen die Möglichkeit haben ihren Asylantrag im Staat ihrer Wahl zu stellen. (Erstes Memorandum von 2013, Neuauflage 2015).
Das Prinzip der freien Wahl bewirkt, dass Asylsuchende dort hingehen können, wo sie die Unterstützung ihrer Familien oder Communities erhalten. Damit würden die Interessen der Asylsuchenden berücksichtigt. Dies führt dazu, dass sie sich von Beginn an besser integrieren und zurechtfinden können. Auch eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt, dass dieses System integrationspolitisch sinnvoll ist. Selbst ein Forschungsbericht des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zeigt, dass die Netzwerke von Angehörigen und Freunden für Flüchtlinge entscheidend bei ihrer Zielstaatssuche sind. Dies ist im bisherigen Dublin-System nicht vorgesehen. Außerdem können Menschenrechtsverletzungen an Flüchtlingen vermieden werden, wenn diese nicht länger zum Aufenthalt in Ländern gezwungen werden, die weder ein ordentliches Asylsystem noch ein Mindestmaß an menschenwürdiger Behandlung für sie bereithalten.
Aber auch pragmatische Aspekte sprechen für ein solches Konzept: Wenn Asylsuchende nicht zwangsweise in EU-Staaten abgeschoben werden können, wird verhindert, dass sie von einem EU-Land ins nächste wandern. Die sogenannte Sekundärwanderung innerhalb der EU wird vermieden. Die derzeit diskutierten Quoten und Verteilungsschlüssel lassen weiterhin die Interessen der Flüchtlinge außer Acht und hätten Zwangsverteilungen zur Folge. Durch das Modell der freien Wahl des Zufluchtsorts können Kosten für die erheblich bürokratischen Verfahren zur Überstellung in andere EU-Staaten reduziert werden.
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