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Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge
Seit Ungarn den Bau eines Grenzzauns bekanntgegeben hat, versuchen tausende Flüchtlinge noch vorher über Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Zentraleuropa zu gelangen. Auf der Route leiden Flüchtlinge unter Obdachlosigkeit und Angriffen.
Griechisch-mazedonische Grenze: Flucht durch das Nadelöhr
Die Bilder sind dramatisch: Hunderte Flüchtlinge drängen auf die mazedonische Grenze zu, Polizisten und Soldaten versperren den Weg. Syrer strecken den Beamten ihre weinenden Kinder entgegen, doch es ist kein Durchkommen. Zwischen 1500 bis 3000 Menschen saßen letzte Woche im Niemandsland an der griechisch-mazedonischen Grenze fest, nachdem Mazedonien die Grenze geschlossen hatte. Als Flüchtlinge versuchten die Absperrungen zu überwinden, wurde mit Tränengas und Blendgranaten gegen sie vorgegangen. Am Wochenende hat die mazedonische Regierung den Grenzübergang auf Drängen des UN-Flüchtlingskommissars wieder geöffnet.
Mazedonien ist das zentrales Transitland für Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und Irak geworden, die zunächst auf den griechischen Inseln anlanden – 160.000 waren es bisher in 2015 – und dann über die Balkanroute nach Norden weiterreisen. Nach jüngsten Berichten lassen die Beamten die Schutzsuchenden wieder weitgehend ohne Registrierung weiterreisen. Wer keinen Platz in den überfüllten Zügen in Richtung Serbien ergattern kann, schlägt sich weiter zu Fuß, per Fahrrad oder Taxi durch.
Doch der kleine Balkanstaat ist eine gefährliche Station auf dem Weg nach Mitteleuropa. Wer den Fußmarsch auf sich nimmt, folgt meistens den Bahnlinien. Immer wieder versuchen Flüchtlinge auf vorbeifahrende Züge aufzuspringen, wenn diese streckenweise langsam fahren. Regelmäßig kommt es dabei zu Todesfällen. Auch Banden überfallen Flüchtlinge, viele Schutzsuchende berichten davon, ausgeraubt worden zu sein. Dazu kommt die Not: Mazedonien kann die Flüchtlinge nicht versorgen. Kinder, Frauen und Männer übernachten im Freien und legen Gewaltmärsche zurück.
Augenzeugenberichte: Obdachlos in Belgrad
Wer es bis nach Serbien geschafft hat, bekommt dort meist ein Papier ausgestellt, das zum 72-stündigen Aufenthalt in Serbien berechtigt. 7.000 Flüchtlinge sollen alleine in der Nacht zu Sonntag dem 23. August 2015 nach Serbien eingereist sein. Die meisten nehmen im Grenzort Bujanovac einen Zug nach Belgrad, wo sie nach rund sieben Stunden Fahrt eintreffen. Auch hier ist die Situation äußerst angespannt.
PRO ASYL haben Augenzeugenberichte erreicht, nach denen es um den Belgrader Hauptbahnhof zu dramatischen Szenen kommt. Die Flüchtlinge übernachten im Freien, wo sie vollkommen schutzlos den Witterungen ausgesetzt sind. Die Versorgungslage ist miserabel. Hilfsorganisationen verteilen zum Teil Nahrungsmittel an die Migranten. Dabei kommt es zu chaotischen Szenen: Bilder zeigen wie zahlreiche Flüchtlinge verzweifelt versuchen ihren Teil einer Lebensmittelspenden aus einer Hilfslieferung zu erhalten, aneinander vorbeidrängen und in Auseinandersetzungen geraten – Es ist ein Kampf um das Nötigste mitten in Europa.
Bereits werden Stimmen rechter Oppositionspolitiker aus Serbien laut, man solle es Ungarn gleichtun und entlang der Südgrenze einen Zaun zur Abwehr der Flüchtlinge errichten.
Einige Flüchtlinge beantragen in Serbien Asyl. Bis Ende Mai hatten UNHCR zufolge in 2015 insgesamt 22.182 Asylsuchende ihre Absicht erklärt, ein Schutzgesuch zu stellen – 5.692 mehr als im ganzen Jahr 2014. Doch nur rund die Hälfte aller Absichtserklärungen würde tatsächlich ein Asylgesuch nach sich ziehen, so schätzt UNHCR. Menschenrechtsorganisationen haben das Fehlen eines funktionierenden Schutzsystems in Serbien immer wieder kritisiert.
Im Jahr 2008 trat Serbiens Asylgesetz in Kraft. Bis Ende 2014 wurden lediglich sechs Personen als Flüchtlinge anerkannt, zwölf erhielten einen subsidiären Schutzstatus. Bis Ende Mai 2015 wurde weiteren vier Flüchtlingen Asyl gewährt. Auch Amnesty International bestätigt in dem im Juli 2015 veröffentlichten Bericht „Europe´s Borderlands. Violations against refugees and migrants in Macedonia, Serbia and Hungary“, dass Flüchtlinge in Serbien mit einem desolaten Schutzsystem konfrontiert sind. Zahlreichen Schutzsuchenden drohe die Zurückweisung nach Mazedonien oder Griechenland. Doch für die meisten Flüchtlinge ist Serbien nur eine Transitstation auf ihrem Weg nach Ungarn, wo die Regierung von Viktor Orbán mit rassistischer Stimmungsmache und immer repressiveren Maßnahmen gegen Flüchtlinge vorgeht.
175 Kilometer Stacheldrahtzaun und tausende Grenzpolizisten gegen Flüchtlinge
Die ungarische Regierung ist entschieden, den Bau des 175 Kilometer langen und vier Meter hohen Zauns so schnell wie möglich zu beenden. Auch daher drängt es die Flüchtlinge aus Griechenland über Mazedonien und Serbien zur Eile. Die Zahl der Asylanträge in Ungarn ist bereits jetzt dreimal so hoch wie im gesamten Vorjahr. Von Januar bis Juli 2015 wurden 103.000 Anträge gezählt, in 2014 waren es insgesamt 43.000.
Ungarn setzt alles daran, die eigene Grenze für Flüchtlinge unpassierbar zu machen – dabei scheint jedes Mittel recht. Am Dienstag verkündete Janos Lazar, Stabschef von Premier Viktor Orbán, man werde die Grenzkontrollen im Süden mit tausenden Polizisten verstärken. Das „zunehmend aggressive und energische Verhalten“ der Schutzsuchenden erfordere dies. Die Aufgabe der Grenzpolizisten sei es, „den Grenzabschnitt zu verteidigen“, so Lazar. Außerdem forderte er das Parlament auf, in einer Sondersitzung die Strafe für „illegale Grenzüberschreitung“ und „Beschädigung des Grenzzauns“ auf bis zu vier Jahre zu erhöhen.
Im Juli erst hatte das ungarische Parlament eine massive Verschärfung der Asylgesetzgebung verabschiedet, die zum 1. August 2015 in Kraft trat. Unter anderem wurde Serbien zum „sicheren Drittstaat“ erklärt. Die Änderung des Asylgesetz ermöglicht die Ablehnung als unzulässig aller Asylgesuche von Schutzsuchenden, die über einen „sicheren Herkunftsstaat“ eingereist sind: Damit könnten 99% aller Asylgesuche unmittelbar zurückgewiesen werden, so kritisiert das Hungarian Helsinki Committee (HHC), PRO ASYL-Partner in Ungarn, in einer Stellungnahme vom 7. August 2015. Denn über 99% aller Asylsuchenden gelangen über die serbisch-ungarische Grenze ins Land – ihre Schutzgesuche müssen im Normalfall künftig nicht mehr materiell geprüft werden. Es droht die sofortige Abschiebung nach Serbien – in ein Land ohne funktionierendes Schutzsystem. HHC zeigt sich alarmiert: Die Gesetzesänderungen könnten zum Kollaps des ungarischen Asylsystems führen und Flüchtlingen den Zugang zu internationalem Schutz versperren, so das mehr als besorgniserregende Fazit der Menschenrechtsorganisation.
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