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Die Bundesregierung beschließt immer weitere Einschnitte im Asylrecht - anstatt sich mit Integration und menschenwürdiger Unterbringung zu befassen. Das Bild zeigt die Zustände in einer Flüchtlingsunterkunft in Baden-Württemberg. Foto: Sarah Gerweck (September 2015)

Gestern hat die Große Koalition einen 9-Punkte umfassenden Beschluss zur Flüchtlingspolitik gefasst. Die Priorität ist klar: Von neun Punkten befasst sich lediglich ein Punkt mit Integration – und dieser ist noch dazu besonders schwammig formuliert. Die Bundesregierung lässt kein Aufnahme- und Integrationskonzept erkennen, ein Flüchtlingsgipfel jagt den nächsten ohne die akuten Probleme in der Flüchtlingsaufnahme (langwierige Verfahren, keine menschenwürdige Unterbringung) geschweige denn langfristige Projekte (sozialer Wohnungsbau, Arbeitsmarktzugang, etc.) anzugehen.

In der Öffent­lich­keit wird der Beschluss der Gro­ßen Koali­ti­on nicht als Ver­schär­fung des Asyl­rechts dis­ku­tiert, schließ­lich sind die seit lan­gem umstrit­te­nen Tran­sit­zo­nen vom Tisch. Doch CDU/CSU haben gepo­kert und die SPD mit den Tran­sit­zo­nen vor sich her­ge­trie­ben – so konn­ten zahl­rei­che Beschlüs­se des CDU/C­SU-Papiers vom Wochen­en­de durch­ge­setzt wer­den. Die Beschlüs­se sind weit­rei­chend und beinhal­ten Maß­nah­men, die Flücht­lin­ge noch stär­ker ent­rech­ten werden.

Ver­fah­rens­be­schleu­ni­gung? Schnel­le­re Abschiebungen!

Durch den Beschluss wer­den drei bis fünf neue „Auf­nah­me­zen­tren“ geschaf­fen. In die­sen sol­len bestimm­te Flücht­lings­grup­pen einem ver­schärf­ten Asyl­ver­fah­ren aus­ge­setzt wer­den: Die Rege­lun­gen gel­ten für Schutz­su­chen­de aus „siche­ren Her­kunfts­staa­ten“, für jene mit Wie­der­ein­rei­se­sper­ren und Fol­ge­an­trä­gen sowie Flücht­lin­ge „ohne Mit­wir­kungs­be­reit­schaft“. Ins­be­son­de­re der letz­te Punkt hat es in sich, denn in der Pra­xis wird Flücht­lin­gen häu­fig vor­ge­wor­fen, kei­ne Mit­wir­kungs­be­reit­schaft zu zei­gen, bspw. weil sie schlicht kei­ne Iden­ti­täts­do­ku­men­te mehr besitzen.

Die­se Flücht­lin­ge unter­lie­gen in den Auf­nah­me­zen­tren einer ver­schärf­ten Resi­denz­pflicht. Ver­las­sen Schutz­su­chen­de den Bezirk des Auf­nah­me­zen­trums, ver­lie­ren sie Leis­tungs­an­sprü­che und ihr Asyl­an­trag ruht. Letz­te­res ist ein kla­rer Ver­stoß gegen die EU-Auf­nah­me­richt­li­nie, die über dem natio­na­len Recht steht: Zwar kann nach Art. 7 der Richt­li­nie die Ver­ga­be mate­ri­el­ler Leis­tun­gen an den zuge­wie­se­nen Auf­ent­halts­ort geknüpft wer­den. Jedoch sieht die Richt­li­nie nicht vor, dass damit das Asyl­ver­fah­ren aus­ge­setzt wer­den kann. Über die Richt­li­nie hin­aus­rei­chen­de Sank­tio­nen sind mit dem Euro­pa­recht nicht vereinbar.

Zudem wird für die Flücht­lin­ge ein Eil­ver­fah­ren ana­log dem Flug­ha­fen­ver­fah­ren geschaf­fen. Asyl­ver­fah­ren sol­len nur eine Woche dau­ern und Rechts­mit­tel­ver­fah­ren bis zu zwei Wochen. Das ohne­hin pro­ble­ma­ti­sche Flug­ha­fen­ver­fah­ren, das in der Pra­xis zu vie­len Fehl­ent­schei­dun­gen führt, wird damit aus­ge­wei­tet. Bestimm­te Flücht­lings­grup­pen wer­den von einem fai­ren Asyl­ver­fah­ren aus­ge­schlos­sen. Durch Eil­ver­fah­ren steht zu befürch­ten, dass ihre Anträ­ge nicht mehr ordent­lich inhalt­lich geprüft werden.

Die Ein­tei­lung in „gute“ und „schlech­te“ Flücht­lin­ge wird mit dem Beschluss der Gro­ßen Koali­ti­on fort­ge­trie­ben. Dabei ist doch Kern des recht­staat­li­chen Asyl­ver­fah­rens, dass erst am Ende des Ver­fah­rens und nicht vor­her, eine Ent­schei­dung über ein Auf­ent­halts­recht erge­hen darf. Dass bei genaue­rer inhalt­li­cher Prü­fung auch Flücht­lin­ge aus sog. „siche­ren Her­kunfts­staa­ten“ Asyl in Deutsch­land erhal­ten, hat zuletzt das Ver­wal­tungs­ge­richt Olden­burg fest­ge­stellt: Eine Rom­ni aus Maze­do­ni­en hat den Flücht­lings­sta­tus wegen poli­ti­scher Ver­fol­gung erhalten.

Gro­Ko treibt Fami­li­en ins Elend: Ver­schlech­te­run­gen für afgha­ni­sche Flücht­lin­ge beabsichtigt

Beson­ders anstö­ßig ist die Aus­set­zung des Fami­li­en­nach­zugs für sub­si­di­är geschütz­te Flücht­lin­ge, also jenen die nicht abge­scho­ben wer­den kön­nen, weil ihnen Tod, Fol­ter oder ernst­haf­te Bedro­hung im Her­kunfts­staat droht. Erst durch die Geset­zes­än­de­rung vom 1. August wur­de ihr Sta­tus dem­je­ni­gen von GFK-Flücht­lin­gen ange­gli­chen. Jetzt sol­len sie für zwei Jah­re ihre Fami­li­en nicht nach­ho­len dürfen.

In Deutsch­land erhiel­ten von Janu­ar bis Okto­ber 2015 1.366 Per­so­nen sub­si­diä­ren Schutz nach § 4 AsylG. Dar­un­ter 326 aus Eri­trea, 254 aus Afgha­ni­stan, 185 aus dem Irak und 55 aus Syri­en. Die Quo­te von sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten liegt bei 0,6 Pro­zent der Gesamtentscheidungen.

Man könn­te nun ein­wen­den, dass der Beschluss damit auf eine ver­gleichs­wei­se gerin­ge Grup­pe zielt. Jedoch: Ers­tens bedeu­tet die Aus­set­zung des Fami­li­en­nach­zugs für jede Ein­zel­per­son eine unver­gleich­ba­re Här­te. Und zwei­tens muss der Beschluss in Zusam­men­hang mit den Aus­füh­run­gen über Afgha­ni­stan gele­sen wer­den. Denn die Gro­ße Koali­ti­on will durch mili­tä­ri­sches Enga­ge­ment die geschei­ter­te Stra­te­gie in Afgha­ni­stan fort­set­zen und dort „inlän­di­sche Flucht­al­ter­na­ti­ven“ schaf­fen. Und das in einem Land, in dem der „Hor­ror der Gewalt“ herrscht, wie ein UN-Kom­mis­sar äußer­te. Dadurch soll zugleich die Ent­schei­dungs­pra­xis des BAMF für Afgha­nen ver­än­dert wer­den. Die Regie­rung will offen­sicht­lich für Afgha­nIn­nen einen schlech­te­ren Schutz­sta­tus beim BAMF bewir­ken und sie damit vom Fami­li­en­nach­zug aus­schlie­ßen. In die­sem Jahr sind laut EASY-Sta­tis­tik 67.191 afgha­ni­sche Flücht­lin­ge ein­ge­reist, davon allein 31.051 (46%) allein im Oktober.

Die Fol­gen des ein­ge­schränk­ten Fami­li­en­nach­zugs wer­den dra­ma­tisch sein: Schon jetzt flie­hen immer mehr Frau­en und Kin­der über die gefähr­li­chen Flucht­rou­ten nach Euro­pa, weil sie kei­ne lega­len Zugangs­we­ge haben. Jeden Tag wer­den in der Ägä­is tote Men­schen am Strand ange­spült. Mit der Aus­set­zung des Fami­li­en­nach­zugs zwingt die Bun­des­re­gie­rung noch mehr Men­schen auf die lebens­ge­fähr­li­chen Wege – und macht sich damit am Ster­ben im Meer mitschuldig.

Außen­gren­zen dichtmachen

Auch hin­sicht­lich der euro­pa­po­li­ti­schen Her­aus­for­de­run­gen atmet das Papier den Geist der „Fes­tung Euro­pa“. Der Schutz der Außen­gren­zen soll her­ge­stellt, ille­ga­le Schleu­sun­gen been­det wer­den. Wirk­li­che Alter­na­ti­ven wer­den nicht gebo­ten: „Flücht­lings­schutz“ gibt es nach der Gro­ßen Koali­ti­on nur außer­halb Euro­pas, z.B. durch Koope­ra­tio­nen mit der Tür­kei – ein Staat, in dem die innen­po­li­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen bro­deln und Anschlä­ge gegen Oppo­si­tio­nel­le durch­ge­führt wer­den. Auch der Ver­weis des Papiers, man wol­le die Regis­trie­rung von Flücht­lin­gen in den „Hot-Spot“-Centern ver­bes­sern ist blan­ker Hohn: im Regis­trie­rungs­cen­ter auf Moria herr­schen elen­di­ge Bedingungen.

Es ist Zeit für ein Integrationsprogramm

Der Beschluss der Gro­ßen Koali­ti­on zielt an den Her­aus­for­de­run­gen vor­bei: In dem Papier fin­den sich kei­ne Wor­te über die Unter­stüt­zung der Ehren­amt­li­chen, kei­ne Ideen für eine men­schen­wür­di­ge Unter­brin­gung der Flücht­lin­ge und nur war­me Wor­te statt Taten für mehr Inte­gra­ti­on – im Gegen­teil, denn CDU/CSU konn­ten sich mit ihrer For­de­rung durch­set­zen, die Kos­ten für Inte­gra­ti­ons­kur­se auf das sozio­kul­tu­rel­le Exis­tenz­mi­ni­mum anzurechnen.

Indem die Regie­rungs­par­tei­en jede Woche aufs Neue Debat­ten über die Abschot­tung Deutsch­lands begin­nen, ver­pas­sen sie die Mög­lich­keit huma­ne Auf­nah­me­be­din­gun­gen in Deutsch­land zu schaf­fen. PRO ASYL hat bereits im Sep­tem­ber ein umfang­rei­ches Maß­nah­men­pa­ket vor­ge­legt (PDF-Datei des Papiers). Dar­un­ter fin­den sich Vor­schlä­ge, wie die Asyl­ver­fah­ren ohne Rechts­be­schnei­dung der Schutz­su­chen­den ver­ein­facht wer­den kön­nen, wie Inte­gra­ti­on gestal­tet und ehren­amt­li­ches Enga­ge­ment unter­stützt wer­den kann.

Asyl­pa­ket II: Fron­tal­an­griff auf das indi­vi­du­el­le Asyl­recht (18.11.15)

Aus­set­zung des Fami­li­en­nach­zugs wird Frau­en und Kin­der in den Tod schi­cken (09.11.15)

Gro­Ko beschließt wei­te­ren gra­vie­ren­den Ein­schnitt in das Asyl­recht  (06.11.15)

„Hot Spot“ Les­bos: »Ein Ort der Schan­de« (05.11.15)

PRO ASYL: Kei­ne fau­len Kom­pro­mis­se auf Kos­ten der Men­schen­rech­te! (05.11.15)

Papier von CDU/CSU: Rechts­wid­rig, repres­siv, inte­gra­ti­ons­ver­hin­dernd (02.11.15)

Flücht­lin­ge aus Afgha­ni­stan: De Mai­ziè­res dilet­tan­ti­scher Aus­flug in die deut­sche Ent­wick­lungs­hil­fe (29.10.15)

Bun­des­re­gie­rung will Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan for­cie­ren (27.10.15)