27.10.2015
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Im ersten Halbjahr 2015 wurden rund 103.000 Menschen in Afghanistan durch bewaffnete Auseinandersetzungen vertrieben. Die Zahl der „internally displaced Persons “ (IDP) steigt weiter. Das Bild zeigt binnenvertriebene Kinder in Kabul. Foto: UNHCR / S.Schulman

Wie es um die Sicherheitslage in Afghanistan steht, bewies jüngst die mehrtätige Besetzung der Stadt Kundus durch die Taliban. Dessen ungeachtet will die Bundesregierung verstärkt nach Afghanistan abschieben. Angesichts der hohen Flüchtlingszahlen will die Bundesregierung offenbar Handlungsfähigkeit beweisen – ohne Rücksicht auf die Realität und die Menschenrechte.

Ange­sichts der vie­len Flücht­lin­ge, die in Grie­chen­land anlan­den und sich in elen­den Trecks durch Süd­ost­eu­ro­pa Rich­tung Öster­reich und Deutsch­land bewe­gen, ist der Bun­des­re­gie­rung offen­bar jedes abschre­cken­de Signal recht: Medi­en­be­rich­ten zufol­ge drängt sie dar­auf, durch ein Rück­nah­me­ab­kom­men auf EU-Ebe­ne Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan zu erleich­tern und droht damit, den fak­ti­schen Abschie­be­stopp der letz­ten Jah­re been­den zu wol­len –  trotz der sich lau­fend ver­schlech­tern­den Sicherheitslage.

»Hor­ror der Gewalt in Afghanistan«

Der Kon­flikt zwi­schen Regie­rungs­trup­pen und Tali­ban hat in die­sem Jahr mehr Opfer unter der Zivil­be­völ­ke­rung gefor­dert als in den Vor­jah­ren, wie die UN-Afgha­ni­stan-Mis­si­on UNAMA berich­tet. Zwi­schen Janu­ar und Juni sind dem­nach 1592 Zivi­lis­ten getö­tet und 3329 wei­te­re ver­letzt wor­den. Inzwi­schen gibt es mehr Opfer durch Kampf­hand­lun­gen am Boden als durch Atten­ta­te, Spreng­sät­ze und ähn­li­ches. „Die nack­te Sta­tis­tik zivi­ler Opfer spie­gelt nicht in aus­rei­chen­dem Maße den Hor­ror der Gewalt in Afgha­ni­stan wie­der“, hat­te Unama-Chef Nicho­las Hay­som zur Halb­jah­res­sta­tis­tik erklärt.

Die FAZ berich­te­te am 6.10.2015 unter dem Titel „Scher­ben­hau­fen Kun­dus“, wie das Land seit zwei Jah­ren dem Abgrund ent­ge­gen schlit­te­re. Erst kürz­lich gelang es den Tali­ban, die Pro­vinz­haupt­stadt Kun­dus zu erobern und meh­re­re Tage zu hal­ten. Der Fall von Kun­dus wird von vie­len Beob­ach­tern als Wen­de­punkt für Afgha­ni­stan inter­pre­tiert, gal­ten doch die grö­ße­ren Städ­te den moder­nen Eli­ten trotz regel­mä­ßi­ger Bom­ben­an­schlä­ge noch immer als rela­tiv sicher vor dem Zugriff der Tali­ban. Damit ist  es offen­bar vor­bei. Dass die Bun­des­re­gie­rung vor die­sem Hin­ter­grund Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan for­cie­ren will, ist aus men­schen­recht­li­cher Sicht inakzeptabel.

Hohe Zahl gedul­de­ter Afghanistan-Flüchtlinge

Ein gro­ßer Teil  der afgha­ni­schen Asyl­su­chen­den wird in Deutsch­land im Asyl­ver­fah­ren aner­kannt. Bei den inhalt­lich erfolg­ten Ent­schei­dun­gen erhiel­ten 2014 68 Pro­zent der Betrof­fe­nen einen Schutz­sta­tus zuge­spro­chen. Beach­tet man, dass Ver­wal­tungs­ge­rich­te häu­fig nega­ti­ve Ent­schei­dun­gen des Bun­des­amts für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge kor­ri­gie­ren, dürf­te die Schutz­quo­te noch höher liegen.

Abschie­bun­gen von abge­lehn­ten afgha­ni­schen Asyl­su­chen­den nach Afgha­ni­stan erfolg­ten in den letz­ten Jah­ren nur im ein­stel­li­gen Bereich. Bei den Betrof­fe­nen han­del­te es sich in der Regel um Straf­tä­ter. Den­noch wur­de die Fik­ti­on auf­recht­erhal­ten, abge­lehn­te afgha­ni­sche Asyl­su­chen­de könn­ten eines Tages im gro­ßen Stil abge­scho­ben wer­den. Ins­be­son­de­re allein­ste­hen­den Män­nern, so der Tenor der Rechts­spre­chungs­pra­xis, könn­te zuge­mu­tet wer­den, sich im rela­tiv siche­ren Kabul irgend­wie durchzuschlagen.

Mit die­ser Argu­men­ta­ti­on wird ein Teil der afgha­ni­schen Asyl­su­chen­den mit einer Dul­dung abge­speist – die Betrof­fe­nen blei­ben nicht sel­ten jah­re­lang ohne siche­re Lebens­per­spek­ti­ve. PRO ASYL hat die Bun­des­in­nen­mi­nis­ter­kon­fe­renz in den letz­ten Jah­ren immer wie­der gebe­ten, aus der aus guten Grün­den zurück­hal­ten­den Abschie­bungs­pra­xis aller Bun­des­län­der die Kon­se­quenz zu zie­hen und ledig­lich gedul­de­ten Afgha­nen einen Auf­ent­halts­ti­tel zuzusprechen.

Abschie­bung als Mit­tel der Abschreckung

Die­sen Zustand der Nicht­ab­schie­bung bei gleich­zei­ti­ger Ver­wei­ge­rung eines Schutz­sta­tus will die Bun­des­re­gie­rung offen­bar jetzt been­den – zum denk­bar schlech­tes­ten Zeit­punkt. Rund 7000 gedul­de­te Afgha­ni­stan-Flücht­lin­ge könn­ten von den geplan­ten  Abschie­bun­gen betrof­fen sein. Das Schick­sal der oft bereits seit Jah­ren in Deutsch­land leben­den Flücht­lin­ge soll nun offen­bar zur Abschre­ckung jener miss­braucht wer­den, die sich aktu­ell in Afgha­ni­stan zur Flucht entschließen.

In der Tat wol­len sich vie­le Men­schen in Afgha­ni­stan nach der Erobe­rung von Kun­dus und der stän­dig zuneh­men­den Gewalt  nicht mehr mit den übli­chen Ver­harm­lo­sun­gen abspei­sen las­sen, die im Rah­men des ISAF-Ein­sat­zes in Afgha­ni­stan sei­tens der west­li­chen Staa­ten immer wie­der ver­kün­det wer­den. Ange­sichts der sich ver­schär­fen­den Situa­ti­on der Sicher­heits­la­ge und den Erfol­gen der Tali­ban ist damit zu rech­nen, dass die Zahl der Flücht­lin­ge aus Afgha­ni­stan wei­ter steigt.

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