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„Man sagte uns, das Meer sei voller Toter“ – Bootskatastrophe vor Lesbos
Mindestens 42 Menschen sterben am 28. Oktober 2015 kurz vor der Küste von Lesbos. Die griechische Insel in der Nordägäis ist dieses Jahr nicht nur Hauptankunftsort von Schutzsuchenden in Europa, sondern auch trauriger Ort zahlreicher Schiffsunglücke. MitarbeiterInnen des PRO ASYL-Projektes Refugee Support Program Aegean berichten von den erschütternden Ereignissen.
Am 28. Oktober 2015 kommt es in den Gewässern nördlich von Lesbos zum wohl bislang größten Schiffsunglück auf der griechischen Seite der Ägäis. 42 Menschen sterben – darunter 20 Kinder. 272 Schutzsuchende werden gerettet. Wie viele noch vermisst werden, ist unklar. Die Hoffnung, weitere Überlebende zu finden, schwindet. Griechische und türkische Fischer, lokale Aktivisten, aber auch ausländische ehrenamtliche Helfer sind an der Rettungsaktion beteiligt. Für die Geretteten gibt es keinerlei staatlich organisierte Notversorgung und psychologische Unterstützung.
„Wie in einem Kriegsgebiet“
„Gegen 18 Uhr erfuhren wir von einem großen Schiffsunglück in der Nähe von Molyvos“, berichtet RSPA-Mitarbeiterin und Anwältin Natassa Strachini. „Man sagte uns, das Meer sei voller Lebender und voller Toter. Überlebende würden ins Krankenhaus von Mytilini geschickt werden. Etwa anderthalb Stunden später füllte sich die Klinik mit unterkühlten Kleinkindern und Babys, die Atembeschwerden aufzeigen. Es herrschte Panik, wie in einem Kriegsgebiet. Ärzte und Krankenschwestern hatten kaum Mittel, sie zu versorgen. Sie gaben uns Anweisungen, wie wir die blauen kleinen Körper wärmen sollten. An den noch nassen Kindern klebten Algen und Diesel. Wir mussten ihre Kleider wechseln, sie in Decken wickeln, ihnen in der Mikrowelle gewärmte Tropfe verabreichen. Dann rieben wir stundenlang ihre Körper, die Wachsfiguren glichen. Überall das Röcheln der mit Meereswasser gefüllten Lungen. Die Kinder sind ohne ihre Eltern eingeliefert worden. Sie murmelten vor sich hin. Wir verstanden nur: „Mama“. Nach zwei Stunden verloren wir ein kleines Mädchen. Jemand flüsterte: Guck, der Arzt weint. Wir waren wie erstarrt. Drei Kinder wurden in die Intensivstation gebracht und mussten später nach Athen transportiert werden. Eines von ihnen starb am nächsten Tag dort.“
RSPA-Mitarbeiter Mostafa Dawa fuhr kurz nach dem Schiffsunglück zwischen Molyvos und Petra hin und her und versuchte die überlebenden Familien wieder zusammenzuführen: „Die Überlebenden standen zunächst so unter Schock, dass sie die erste Stunde nach ihrer Rettung nicht einmal nach ihren Angehörigen suchten. Doch es gab auch rührende Momente. Als eine schwangere Frau ihren Mann schließlich fand, liefen die beiden Liebenden aufeinander zu und fielen sich in die Arme. Der Mann legte sogleich seinen Kopf auf den Bauch seiner Frau und so verharrten sie innig aneinandergeklammert.“
Ein Krankenhaus der Solidarität inmitten des Flüchtlingsdramas
„Das Krankenhaus von Mytilini ist der Ort, an dem sich das Versagen der europäischen Politik gegenüber dem Flüchtlingsdrama auf Lesbos am deutlichsten abzeichnet“, so RSPA-Mitarbeiter Mubarak Shah. „Es ist der Ort, an dem man die Auswirkungen der geschlossenen Grenzen Europas sowie der unmenschlichen Lebensbedingungen im Hot Spot Mytilini an den tragischen Schicksalen einzelner Menschen ablesen kann: Opfer von Schiffunglücken, Polizeigewalt, Unterkühlung, Hunger und Durst im Jahr 2015 in Europa. Es ist aber auch ein Krankenhaus der Solidarität. Es ist bemerkenswert, wie das Personal reagiert.“
Ein kürzlich veröffentlichter Dankesbrief des Refugee Support Program Aegean ist nur ein kleines Zeichen der Anerkennung und des Dankes für das beachtliche Engagement des Personals im Krankenhaus. In unermüdlichem Einsatz leisten ÄrztInnen, Krankenpfleger und HelferInnen Beeindruckendes unter schwersten Bedingungen.
345.000 erreichen Europa über die Insel Lesbos
Über 600.000 Flüchtlinge gelangen in den ersten zehn Monaten dieses Jahres nach Griechenland, so UNHCR. Dies entspricht über 80 Prozent der Ankünfte in Europa. Über 345.000 erreichten über Lesbos die EU. Im Oktober verdoppelten sich die Ankünfte auf der Insel gegenüber August auf 125.000 – trotz der schlechten Wetterbedingungen, berichtet das International Rescue Team in seiner Presseerklärung vom 30. Oktober 2015.
Der örtliche Friedhof ist voll
Nach Angaben von Amnesty International (Presseerklärung vom 2. November 2015) sind in den ersten zehn Monaten diesen Jahres schon mehr als 454 Menschen in der Ägäis ertrunken. Die meisten Opfer der Seegrenze sind kleine Kinder. Auf Lesbos kann zurzeit für 30 Verstorbene kein Begräbnis organisiert werden. Der örtliche Friedhof ist voll. Ständig werden leblose Körper an die Strände gespült.
Auch für die hochtraumatisierten Überlebenden von Schiffsunglücken gäbe es keinen Schutz, so Eleni Velivasaki, ebenfalls Anwältin bei RSPA. Sie würden wie alle anderen nach Moria geschickt, um registriert zu werden. „In mehreren Fällen mussten sich Paare, die ihre Kinder verloren hatten, von der Küstenwache registrieren lassen. Erst danach konnten sie ins Krankenhaus gehen, um nach ihren Kinder zu suchen. Denn Ausnahmen gibt es auch für die Angehörigen der Ertrunkenen nicht. Immerhin gibt es diesmal ein gesondertes Schnellverfahren. Doch das ist eine Ausnahme.“
Noch wenige Stunden vor dem großen Schiffunglück, saßen am Lagerfeuer vor dem Haftlager Moria die Überlebenden eines anderen Schiffsunglücks. Die Familienväter hatten keinen Platz mehr in den UNHCR-Containern gefunden. „Der 7‑Jährige Junge, der verstorben war, hatte in der Türkei am Abend zuvor seine Eltern noch angefleht, nicht ins Boot zu steigen. ‚Wir werden ertrinken’, hatte er voller Angst gesagt“, erinnert sich ein Mitreisender.
Unermüdlicher Einsatz von Ehrenamtlichen – schwere Vorwürfe an die Politik
Ehrenamtliche Helfer, die in Lesbos aktiv sind, erhoben schwere Vorwürfe gegen europäische PolitikerInnen und internationale Organisationen, die dem Sterben an den Grenzen tatenlos zusähen. Oscar Camps von der spanischen Organisation ehrenamtlicher Seeretter PROAKTIVA kritisierte, dass die europäische Grenzagentur Frontex vollkommen ungeeignet für die Rettung von Menschenleben auf See sei: „Das sind nur Polizisten der Meere, die nicht wissen wie man Menschenleben rettet”, so der ehrenamtliche Retter nur einen Tag nach der Katastrophe gegenüber der Zeitung El Mundo. „Ich musste mich entscheiden, wen ich rette: Die Mutter, die ertrinkt, die Kinder, die nicht schwimmen können, den Vater, an den sich seine ganze Familie klammert. Gestern retteten wir 242 Leben, aber mehr als 50 Menschen starben. Ich sah sie sterben. Es war schrecklich. Wir sind psychisch und körperlich zerstört. Und ich schäme mich für Europa.”
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