02.11.2015
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CDU und CSU wollen den Familiennachzug einschränken. Das Resultat: Da die Familien in den Herkunftsländern oft in Gefahr sind, werden nun mehr Frauen und Kinder die gefährliche Flucht nach Europa wagen, anstatt auf sicheren Wegen nachkommen zu können. Das Foto zeigt eine Familie, die am Budapester Bahnhof Keleti gestrandet ist. Foto: Björn Kietzmann

Die Bundesregierung ist sich in der Flüchtlingspolitik in vielen Punkten uneins. Am Wochenende endete ein Koalitionsgipfel ergebnislos. CDU und CSU haben sich dennoch auf ein gemeinsames Papier geeinigt. Doch statt dringend benötigter Konzepte zur Aufnahme und Integration von Flüchtlingen liegt der Fokus des Papiers bei erneuten Asylrechtsverschärfungen und der Abschottung Europas.

Das Papier von CDU und CSU (hier zum Nach­le­sen als PDF) mit dem Titel „Men­schen in Not hel­fen, Zuwan­de­rung ord­nen und steu­ern, Inte­gra­ti­on sichern“ ist vor allem ein Namens­schwin­del: Von Inte­gra­ti­on ist dar­in nicht die Rede. Auch Maß­nah­men zur Besei­ti­gung der men­schen­rechts­wid­ri­gen Zustän­de auf der Bal­kan-Rou­te und auf den grie­chi­schen Inseln wer­den nicht genannt. Dafür nennt das Papier neue Asyl­rechts­ver­schär­fun­gen und Maß­nah­men, die die Inte­gra­ti­on von Schutz­su­chen­den ver­hin­dern. Das Papier teilt sich dabei in zwei Abschnit­te: Natio­na­le Rege­lun­gen (I.) und Euro­päi­sche Maß­nah­men (II.).

Tran­sit­zo­nen: Haft­la­ger an der deut­schen Landgrenze

Die CSU hat sich mit ihrer har­ten Linie wie­der ein­mal in Ber­lin durch­ge­setzt. Auch die CDU for­dert nun Tran­sit­zo­nen an den deut­schen Land­gren­zen (Punkt I.1),  an denen über die Zuläs­sig­keit von Asyl­an­trä­gen ent­schie­den wird. Doch was hät­te dies für Kon­se­quen­zen? Will man die Gren­ze im Sin­ne von CDU/CSU effek­tiv schüt­zen, bedarf es einer rigo­ro­sen Abschot­tung der deut­schen Land­gren­ze. Haft­an­stal­ten zur Fest­set­zung Schutz­su­chen­der und der Bau von Grenz­an­la­gen und Zäu­nen wären die Fol­ge. Wel­che men­schen­rechts­wid­ri­gen und kata­stro­pha­len Fol­gen für Flücht­lin­ge sol­che Gren­zen in der Pra­xis haben, lässt sich in Ungarn und in den spa­ni­schen Enkla­ven Ceu­ta und Mel­il­la beobachten.

CDU/CSU möch­ten an den Land­gren­zen ein Ver­fah­ren, das sich am Flug­ha­fen­ver­fah­ren ori­en­tiert. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat 1996 jedoch klar fest­ge­stellt, dass Schutz­su­chen­de selbst im Flug­ha­fen­ver­fah­ren Zugang zu einem effek­ti­ven Rechts­schutz nach Art. 19 Abs. IV GG haben müs­sen. Hier­zu gehört auch eine kos­ten­lo­se asyl­recht­li­che Bera­tung, wie dem Urteil zu ent­neh­men ist (Rn. 140). Wie in der Tran­sit­zo­ne eine kos­ten­lo­se asyl­recht­li­che Bera­tung, Zugang zu Anwäl­tIn­nen und Struk­tu­ren, die den Bedürf­nis­sen beson­ders schutz­be­dürf­ti­ger Schutz­su­chen­der ent­spre­chen, auf­ge­baut wer­den sol­len, haben CDU/CSU bis­her nicht beant­wor­tet. Und dass selbst im Flug­ha­fen­ver­fah­ren Rech­te von Schutz­su­chen­den struk­tu­rell ver­letzt wer­den, ist anschei­nend nicht mehr der Rede wert.

Ein­schrän­kung des Fami­li­en­nach­zugs: CDU/CSU wol­len Fami­li­en auf lebens­ge­fähr­li­che Flucht­we­ge zwingen

Der Punkt I.4 des CDU/C­SU-Papiers hat es in sich: „Zur bes­se­ren Bewäl­ti­gung der aktu­el­len Situa­ti­on soll der Fami­li­en­nach­zug für Antrag­stel­ler mit sub­si­diä­rem Schutz für einen Zeit­raum von 2 Jah­ren aus­ge­setzt wer­den.“ Schutz­su­chen­de, die als Flücht­lin­ge aner­kannt sind, haben Anspruch auf Fami­li­en­nach­zug. Seit dem 1. August 2015 haben soge­nann­te sub­si­di­är Schutz­be­rech­ti­ge unter den glei­chen Vor­aus­set­zun­gen Anspruch auf Fami­li­en­nach­zug (§ 25 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 Auf­enthG). Sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te erfül­len zwar nicht die Vor­aus­set­zun­gen der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on, erhal­ten aber einen Auf­ent­halts­ti­tel, da ihnen im Fal­le einer Abschie­bung in ihr Her­kunfts­land ein ernst­haf­ter Scha­den droht, bei­spiels­wei­se durch Todes­stra­fe, Fol­ter oder eine ernst­haf­te indi­vi­du­el­le Bedro­hung ihres Lebens.

Eine Aus­set­zung des Fami­li­en­nach­zugs kann nicht per Ver­ord­nung oder Erlass in Kraft tre­ten, son­dern bedürf­te einer erneu­ten Ände­rung des Auf­ent­halts­ge­set­zes: Für Flücht­lin­ge mit sub­si­diä­rem Schutz gel­ten die Neu­re­ge­lun­gen der Geset­zes­än­de­rung vom 1. August. Zudem folgt ihr Anspruch auf Fami­li­en­nach­zug aus Art. 6 GG und Art. 8 Euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on, in dem die Wah­rung und der Schutz der Fami­lie unter beson­de­rem Schutz stehen.

Was wäre im Übri­gen die Kon­se­quenz, wenn man sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten, bei­spiels­wei­se aus Afgha­ni­stan oder dem Irak, den Anspruch auf Fami­li­en­nach­zug ver­weh­ren wür­de? Die der­zei­ti­ge Lage in die­sen Län­dern ist lebens­be­droh­lich, die Fami­li­en der Antrags­stel­le­rIn­nen wür­den sich auf den lebens­ge­fähr­li­chen Weg nach Euro­pa machen, dar­un­ter Frau­en, Kran­ke, Alte und Klein­kin­der, die bis­her nicht den Weg über die Ägä­is, das Mit­tel­meer oder die Bal­kan-Rou­te gegan­gen sind. CDU/CSU schi­cken damit Fami­li­en und Kin­der auf lebens­ge­fähr­li­che Wege – vor den grie­chi­schen Inseln sind allei­ne am Wochen­en­de wie­der meh­re­re Flücht­lin­ge, dar­un­ter vie­le Kin­der, gestor­ben. Und für die Flücht­lin­ge in Deutsch­land wäre die Situa­ti­on psy­chisch kaum aus­halt­bar, denn ihre Fami­li­en hät­ten kei­ne Mög­lich­keit nach­zu­kom­men und wären der lebens­be­droh­li­chen Situa­ti­on in ihren Her­kunfts­län­dern wei­ter ausgesetzt.

Ein­schrän­kung des sozio­kul­tu­rel­len Exis­tenz­mi­ni­mums: Inte­gra­ti­ons­kurs oder Telefonkarte?

Gera­de erst hat die Gro­ße Koali­ti­on mit dem „Asyl­ver­fah­rens­be­schleu­ni­gungs­ge­setz“ neue Rege­lun­gen ver­ab­schie­det, unter denen Flücht­lin­ge vom sozio­kul­tu­rel­len Exis­tenz­mi­ni­mum gemäß § 1a Asyl­blG aus­ge­schlos­sen wer­den kön­nen. Der nächs­te Angriff folgt in Punkt I.5 des CDU/C­SU-Papiers: „Bei der Gewäh­rung von Leis­tun­gen nach dem Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz soll  die  Erbrin­gung  von  Sprach–  und  Inte­gra­ti­ons­kur­sen  künf­tig  auf  das soge­nann­te sozio­kul­tu­rel­le Exis­tenz­mi­ni­mum ange­rech­net werden.“

Mit der Geset­zes­än­de­rung vom Okto­ber wur­de beschlos­sen, für bestimm­te Flücht­lings­grup­pen mit „guter Blei­be­per­spek­ti­ve“ im lau­fen­den Asyl­ver­fah­ren die Inte­gra­ti­ons- und Sprach­kur­se zu öff­nen. Ins­be­son­de­re SPD und Grü­ne hat­ten mit die­ser Ände­rung ihre Zustim­mung begrün­det. Selbst die­se Ver­bes­se­rung gerät nun durch CDU/CSU unter Beschuss. Inte­gra­ti­ons- und Sprach­kur­se wer­den ver­pflich­tend auf den Bar­geld­be­darf von Asyl­be­wer­be­rIn­nen ange­rech­net. Bis­lang hat das BAMF zumin­dest einen Teil der Kos­ten über­nom­men. Das sozio­kul­tu­rel­le Exis­tenz­mi­ni­mum ist jedoch kei­ne Sozi­al­leis­tung, auf die nach poli­ti­schem Gut­dün­ken Kos­ten ange­rech­net wer­den kön­nen. Nach dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt umfasst das aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 1 GG abge­lei­te­te sozio­kul­tu­rel­le Exis­tenz­mi­ni­mum die Teil­ha­be am gesell­schaft­li­chen, kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Leben. Kon­kret fal­len unter die­se Leis­tun­gen bei­spiels­wei­se Tele­fon­kar­ten, um mit den Ver­wand­ten zu tele­fo­nie­ren, Fahr­kar­ten, Kino­kar­ten etc. Durch die Anrech­nung der Kos­ten für Inte­gra­ti­ons­kur­se wer­den Flücht­lin­ge damit vor die Ent­schei­dung gestellt: Gebe ich das Geld für den Erwerb der deut­schen Spra­che aus oder will ich mit mei­nem Ehe­part­ner und mit mei­nen Kin­dern telefonieren?

Im Übri­gen zei­gen sich in der kon­kre­ten Anwen­dung der Sprach­kur­s­öff­nung erheb­li­che Schief­la­gen. Denn unter Flücht­lin­ge mit „guter Blei­be­per­spek­ti­ve“ fal­len nach Anga­be der Bun­des­agen­tur für Arbeit nur jene aus Syri­en, Eri­trea, Iran und Irak. Aus­ge­schlos­sen sind damit bei­spiels­wei­se Soma­lie­rIn­nen, die eben­falls hohe Aner­ken­nungs­quo­ten haben, aber auch Afgha­nIn­nen und staa­ten­lo­se SyrerInnen.

Koope­ra­ti­on mit der Tür­kei: Kein siche­rer Drittstaat

Unter den euro­päi­schen Maß­nah­men sticht ins­be­son­de­re her­vor, dass CDU/CSU die Rück­füh­rung von Flücht­lin­gen in die Tür­kei in Kraft tre­ten las­sen wol­len. Damit ist gemeint: Die Tür­kei soll gemäß der EU-Asyl­ver­fah­rens­richt­li­nie als „siche­rer Dritt­staat“ i.S.v. Art. 38, 39 der Richt­li­nie ein­ge­stuft wer­den. Dann könn­ten Per­so­nen, die über die Tür­kei nach Euro­pa ein­ge­reist sind oder sich dort län­ge­re Zeit auf­ge­hal­ten haben, wie­der in die Tür­kei zurück­ge­scho­ben werden.

Doch unter euro­pa­recht­li­chen Gesichts­punk­ten wäre die­se Ein­stu­fung rechts­wid­rig. Zwar hat die Tür­kei 2013 ein neu­es Asyl­ge­setz beschlos­sen. Jedoch hat das Land bis heu­te den soge­nann­ten geo­gra­phi­schen Vor­be­halt zur Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on nicht zurück­ge­nom­men. Nur Flücht­lin­ge aus Euro­pa erhal­ten in der Tür­kei den Sta­tus nach der GFK. Damit kann die Tür­kei kein „siche­rer Dritt­staat“ nach Art. 39 der Asyl­ver­fah­rens­richt­li­nie sein, denn die­se Ein­stu­fung kann nur bei Staa­ten vor­ge­nom­men wer­den, in denen die GFK unein­ge­schränkt gilt. Flücht­lin­ge, die über die Tür­kei nach Euro­pa rei­sen, dür­fen nicht dort­hin zurück­ge­schickt werden.

Auch Flücht­lin­ge, die sich län­ger in der Tür­kei auf­ge­hal­ten haben, dür­fen nicht dort­hin gebracht wer­den. Nach Art. 38 der Asyl­ver­fah­rens­richt­li­nie müs­sen Flücht­lin­ge in dem „siche­ren Dritt­staat“ die Mög­lich­keit haben, einen Antrag auf Zuer­ken­nung der Flücht­lings­ei­gen­schaft zu stel­len und Schutz nach der GFK zu erhal­ten. Zwar führt UNHCR in der Tür­kei Ver­fah­ren nach der GFK durch. Jedoch erhal­ten Flücht­lin­ge durch das Ver­fah­ren kei­nen Schutz­sta­tus durch den tür­ki­schen Staat. Sie erhal­ten ledig­lich die Mög­lich­keit am Resett­le­ment-Pro­gramm des UNHCR teil­zu­neh­men und in einen ande­ren Staat umver­teilt zu wer­den (Art. 62 des tür­ki­schen Asylgesetzes).

Unab­hän­gig von der juris­ti­schen Ein­schät­zung haben die ver­gan­ge­nen Wochen zudem gezeigt, dass sich die innen­po­li­ti­schen Kon­flik­te in der Tür­kei ver­schär­fen und das Land immer stär­ker das Ziel von ter­ro­ris­ti­schen Angrif­fen wird. Die tür­ki­sche Regie­rung wirkt die­ser Situa­ti­on nicht ent­ge­gen, son­dern befeu­ert die Kon­flik­te. Der Jour­na­list Deniz Yücel wer­tet den jüngs­ten Wahl­sieg der AKP des­halb als „schwar­zen Tag“: „Denn nichts spricht dafür, dass die tür­ki­sche Demo­kra­tie künf­tig bes­ser funk­tio­nie­ren wird und das Land zu Frie­den und Frei­heit findet.“

Was es braucht: Auf­nah­me und Inte­gra­ti­on statt Abschottung

PRO ASYL schon vor Wochen ein umfang­rei­ches Kon­zept für eine men­schen­wür­di­ge Auf­nah­me und schnel­le Inte­gra­ti­on von Flücht­lin­gen prä­sen­tiert. Dem­ge­gen­über zeigt das Papier von CDU/CSU: Über eine huma­ne Auf­nah­me der Schutz­su­chen­den, men­schen­wür­di­ge Unter­brin­gung und schnel­le Inte­gra­ti­on macht sich die Uni­on kei­ne gro­ßen Gedan­ken. Viel­mehr wer­den erneut Maß­nah­men prä­sen­tiert, die ein­zig dazu die­nen sol­len, den Zugang von Flücht­lin­gen zu begren­zen. Die Kon­se­quen­zen von Zäu­nen und Gefäng­nis­sen an der Gren­ze und ver­schlepp­tem Fami­li­en­nach­zug ver­schwei­gen die Par­tei­en: Der Weg nach Euro­pa wird für Flücht­lin­ge noch gefähr­li­cher, es wer­den noch mehr Men­schen auf die­sem Weg ums Leben kommen.

Gro­Ko-Beschluss: Flücht­lin­ge ent­rech­ten, Fami­li­en aus­ein­an­der­rei­ßen, EU abschot­ten (06.11.15)

Ceu­ta, Mel­il­la, Ungarn: Tran­sit­zo­nen an den Gren­zen in der Pra­xis (14.10.15)

Geplan­te Tran­sit­zo­nen: Mas­sen­in­haf­tie­rungs­pro­gramm für Flücht­lin­ge? (13.10.15)

Was jetzt getan wer­den muss (23.09.15)