31.07.2020

Seit zwei Jahren ist der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte auf 1.000 Personen im Monat beschränkt. PRO ASYL wirft einen Blick zurück auf die Entwicklung der Regelung seit 2015 und zeigt an Einzelfällen, wie dramatisch sich die Regelungen für die betroffenen Familien auswirken.

Am 01. August 2020 jährt sich zum zwei­ten Mal das Inkraft­tre­ten des sog. »Fami­li­en­nach­zugs­neu­re­ge­lungs­ge­set­zes«, mit dem das Recht auf Fami­li­en­nach­zug für sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te abge­schafft und durch eine ein­ge­schränk­te Rege­lung ersetzt wur­de. Die­se besagt, dass monat­lich bis zu 1.000 Ange­hö­ri­ge nach Deutsch­land zie­hen dür­fen. Dem dürf­ti­gen Monats­kon­tin­gent ging ein Tau­zie­hen in der Koali­ti­on vor­aus. Zwi­schen­zeit­lich war der Fami­li­en­nach­zug für sub­si­di­är Geschütz­te kom­plett aus­ge­setzt. Fast in Ver­ges­sen­heit gera­ten ist, dass die­se Geflüch­te­ten­grup­pe noch 2015 auf­grund ihrer Bedro­hungs­si­tua­ti­on genau­so ein Anrecht auf den Fami­li­en­nach­zug hat­ten wie GFK-Flüchtlinge.

August 2015: Gesetzesänderung zur Gleichsetzung beim Familiennachzug

Erst am 1. August 2015 wur­den sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te mit dem »Gesetz zur Neu­be­stim­mung des  Blei­be­rechts und der Auf­ent­halts­be­en­di­gung« bezüg­lich Fami­li­en­nach­zug mit Asyl­be­rech­tig­ten und GFK-Flücht­lin­gen kom­plett gleich­ge­stellt. Dies wur­de – zu Recht – damit begrün­det, dass »(…) auch in die­sen Fäl­len eine Her­stel­lung der Fami­li­en­ein­heit im Her­kunfts­land nicht mög­lich ist« (sie­he Gesetz­ent­wurf vom Febru­ar 2015, S. 46). Denn sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te sind Geflüch­te­te, denen in ihrem Her­kunfts­land eine men­schen­rechts­wid­ri­ge Behand­lung wie die Todes­stra­fe oder Fol­ter droht oder in deren Hei­mat­land ein Bür­ger­krieg tobt und die des­halb an einer Rück­kehr gehin­dert sind. Sie sind also nicht nur für eine kur­ze Zeit in Deutsch­land, son­dern brau­chen in der Regel dau­er­haf­ten Schutz.

Im August 2015 wur­den sub­si­di­är Geschütz­te beim Fami­li­en­nach­zug den GFK-Flücht­lin­gen gleich­ge­stellt. Im März 2016 wur­de das wie­der aus­ge­setzt, 2018 schließ­lich aufgehoben.

99,7%

der syri­schen Geflüch­te­ten bis Ende 2015 erhiel­ten GFK-Schutz.

58%

waren es nur noch im Jahr 2016.

38%

dann im Jahr 2017. Der Rest bekam plötz­lich statt­des­sen sub­si­diä­ren Schutz zuge­spro­chen – ein Schelm, wer böses dabei denkt.

März 2016: Aussetzung des Familiennachzugs bis 2018

Als die Flücht­lings­zah­len in den Jah­ren 2015 und 2016 stark stie­gen, dräng­te vor allem die CDU auf eine Rück­nah­me die­ses Rechts und eine erneu­te Beschrän­kung des Fami­li­en­nach­zugs. In den bei­den Jah­ren war das kriegs­zer­stör­te Syri­en bei wei­tem das Haupt­her­kunfts­land der Asyl­su­chen­den in Deutsch­land: Syri­sche Flücht­lin­ge stell­ten 159.000 Erst­an­trä­ge in 2015 und rund 266.000 Erst­an­trä­ge in 2016. Im Rah­men des soge­nann­ten »Asyl­pa­kets II« wur­de ab dem 17. März 2016 der Fami­li­en­nach­zug zur Grup­pe der sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten unter Ver­weis auf angeb­lich beschränk­te Res­sour­cen der Auf­nah­me – und Inte­gra­ti­ons­sys­te­me bis zum 16. März 2018 außer Kraft gesetzt.

Par­al­lel zur Aus­set­zung des Rechts auf Fami­li­en­nach­zug änder­ten sich auch die Aner­ken­nungs­quo­ten des Bun­des­am­tes für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) dra­ma­tisch: Wur­den bis Ende 2015 Geflüch­te­te aus Syri­en noch in 99,7% der Fäl­le als Flücht­lin­ge im Sin­ne der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on (GFK) bzw. als Asyl­be­rech­tig­te nach dem Grund­ge­setz aner­kannt, änder­te sich die Aner­ken­nungs­pra­xis danach massiv:

Im Jahr 2016 beka­men nur noch 58% der syri­schen Antragsteller*innen Schutz nach der GFK bzw. dem Grund­ge­setz, 42% erhiel­ten sub­si­diä­ren Schutz.  Im Jahr 2017 erhiel­ten 38% der syri­schen Antragsteller*innen nach der GFK bzw. dem Grund­ge­setz aner­kannt, dage­gen erhielt 61% die Mehr­heit den sub­si­diä­ren Schutz. Vie­le der 2015 und 2016 noch über­schwäng­lich will­kom­men gehei­ße­nen Flücht­lin­ge waren damit für zwei Jah­re von jeg­li­cher Aus­sicht auf ein bal­di­ges Zusam­men­le­ben mit ihren Fami­li­en abgeschnitten.

Die Bun­des­re­gie­rung argu­men­tier­te damals, dass »huma­ni­tä­re Här­te­fäl­le« durch Auf­nah­men gelöst wer­den wür­den. Die Här­te­fall­re­ge­lung stell­te sich als Fei­gen­blatt heraus.

PRO ASYL kri­ti­sier­te die­se pau­scha­le Aus­set­zung von Beginn an als ver­fas­sungs- und men­schen­rechts­wid­rig. Die Bun­des­re­gie­rung argu­men­tier­te damals, dass »huma­ni­tä­re Här­te­fäl­le« über die Auf­nah­me aus dem Aus­land auf Grund­la­ge des §22 Auf­enthG gelöst wer­den wür­den. Tat­säch­lich erfolg­ten von Anfang des Jah­res 2017 bis zum März 2018 aber nur 160 Auf­nah­men über §22 Auf­enthG, rund ein Drit­tel der Anträ­ge wur­den abge­lehnt, wei­te­re Ver­fah­ren zu dem Zeit­punkt noch nicht ent­schie­den. Die Här­te­fall­re­ge­lung stell­te sich als ein Fei­gen­blatt der Gro­ßen Koali­ti­on heraus.

März 2018: Verlängerung der Aussetzung während der Koalitionsverhandlungen

Die gesetz­lich bis zum 16. März 2018 ver­ein­bar­te Aus­set­zung führ­te bereits Anfang 2018 zu hek­ti­schen Bestre­bun­gen von CDU/CSU und SPD, ein erneu­tes Inkraft­tre­ten des Rechts auf Fami­li­en­nach­zug zu ver­hin­dern. Bevor sie über­haupt eine gemein­sa­me Regie­rung bil­den konn­ten, ver­stän­dig­ten sich die bei­den Par­tei­en auf eine Ver­län­ge­rung der Aus­set­zung bis zum 31. Juli 2018.

Vor­her wur­den eine Men­ge fal­sche Pro­gno­sen über die Zahl der poten­zi­ell nach­zie­hen­den Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen in die Welt gesetzt.

Vor­her wur­den eine Men­ge fal­sche Pro­gno­sen über die Zahl der poten­zi­ell nach­zie­hen­den Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen in die Welt gesetzt: Unter ande­rem sprach Horst See­ho­fer von 300.000 Men­schen, die angeb­lich im Rah­men des Fami­li­en­nach­zugs zu ihren Ange­hö­ri­gen ein­rei­sen würden.

Von den Rechts­po­pu­lis­ten wur­de die Zahl der nach­zie­hen­den Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen gleich auf Mil­lio­nen hoch­pro­ji­ziert, um das poli­ti­sche und sozia­le Kli­ma für eine Aus­set­zung und Abschaf­fung des Rechts auf ein Fami­li­en­le­ben für Geflüch­te­te zu ver­gif­ten. Dabei zeig­te eine Unter­su­chung des Nürn­ber­ger Insti­tuts für Arbeits­markt- und Berufs­for­schung von Okto­ber 2017, dass mit einem zusätz­li­chen Zuzug von 50.000 bis 60.000 Men­schen zu rech­nen sei, wür­de auch in Deutsch­land sub­si­di­är Geschütz­ten wie­der gestat­tet, ihre engs­ten Ange­hö­ri­gen zu sich zu holen.

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Janu­ar 2018: Gemein­sam mit zwei betrof­fe­nen Flücht­lin­gen haben Vertreter*innen von PRO ASYL dem Peti­ti­ons­aus­schuss des Bun­des­ta­ges fast 30.000 Unter­schrif­ten für den Fami­li­en­nach­zug über­ge­ben. Foto: Chris­ti­an Ditsch

Dauerhafte Trennungen als Folge

Für vie­le der betrof­fe­nen Fami­li­en stell­te die­ser Schritt eine her­be Ent­täu­schung dar, hat­ten sie doch zwei Jah­re lang dar­auf gewar­tet, end­lich ein Visum bean­tra­gen zu kön­nen, und im Ver­trau­en auf das Ende der War­te­zeit bereits Ter­mi­ne ver­ein­bart und Vor­keh­run­gen getrof­fen. Vie­le der im Her­kunfts­land zurück­ge­blie­be­nen Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen waren am Ende ihrer Kräf­te, sie hat­ten auf das Ver­spre­chen der Bun­des­re­gie­rung ver­traut, ihnen ein Leben in Sicher­heit und Wür­de in Deutsch­land zu ermöglichen.

Die erneu­te Ver­län­ge­rung der Aus­set­zung hat­te ins­be­son­de­re für bestimm­te Grup­pen schwer­wie­gen­de Fol­gen: Ganz aus­ge­schlos­sen blie­ben die Ange­hö­ri­gen von Kin­dern, die als unbe­glei­te­te Min­der­jäh­ri­ge nach Deutsch­land flo­hen und wäh­rend der Zeit der Aus­set­zun­gen voll­jäh­rig wur­den. Ob die­se Men­schen in Idlib, Syri­en, ein­ge­kes­selt waren oder in Flücht­lings­la­gern im Sudan oder in Äthio­pi­en fest­ge­hal­ten wur­den, spiel­te für die deut­sche Ver­wal­tung kei­ne Rol­le. Außer­dem bleibt nicht weni­gen Kin­dern, die allein in Syri­en und dem Irak oder in Flücht­lings­la­gern der Nach­bar­län­der über­le­ben muss­ten, ein Fami­li­en­nach­zug nach Errei­chen der Voll­jäh­rig­keits­gren­ze auf Dau­er verwehrt.

Der 47-jäh­ri­ge Fami­li­en­va­ter Moham­med Ghazal lebt seit über drei Jah­ren in Deutsch­land. Er flüch­te­te Ende Sep­tem­ber 2015 aus Syri­en über die Bal­kan­rou­te nach Deutsch­land. Anfang Janu­ar 2017 wur­de ihm nur der sub­si­diä­re Schutz­sta­tus zuer­kannt, womit ihm zu dem Zeit­punkt die Mög­lich­keit des Fami­li­en­nach­zugs kom­plett ver­wehrt war. Er leg­te gegen die Ent­schei­dung des BAMF Kla­ge ein, über die aller­dings noch nicht ent­schie­den wor­den ist. Sei­ne Töch­ter waren damals 10 und 16 Jah­re alt.

Im Mai 2017 bean­trag­te die Fami­lie einen Ter­min bei der Deut­schen Bot­schaft in Bei­rut in der Hoff­nung und im Ver­trau­en dar­auf, dass die gesetz­li­che Aus­set­zung des Fami­li­en­nach­zugs im März 2018 aus­lau­fen wür­de. Es kam anders. CDU/CSU und SPD ver­län­ger­ten die Aus­set­zung bis zum 31. Juli 2018. Die älte­re Toch­ter Maya wur­de im Juli 2018 voll­jäh­rig, ist nach deut­scher Rechts­la­ge damit kein Mit­glied der Kern­fa­mi­lie mehr und in der Regel vom Nach­zug ausgenommen.

Anfang Juli 2019 haben die Mut­ter und die jün­ge­re Schwes­ter ihre Visa im Rah­men des Kon­tin­gents des Fami­li­en­nach­zugs für sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te erhal­ten. Die bei­den zöger­ten aus­zu­rei­sen, denn sie woll­ten Maya nicht allein in Damas­kus zurück las­sen. Die Fami­lie hat kei­ne wei­te­ren Ange­hö­ri­gen mehr in Syri­en, wo Maya leben könn­te. Nach mona­te­lan­gen Über­le­gun­gen und als die erteil­ten Visa abzu­lau­fen droh­ten, ent­schie­den sie sich letzt­lich doch im Okto­ber 2019 ohne Maya zum Vater nach Deutsch­land zu kom­men. Sie haben die Hoff­nung, dass der Nach­zug von Maya über die Här­te­fall­re­ge­lung mög­lich wird, da sie als unver­hei­ra­te­te Frau ohne Ange­hö­ri­ge ganz auf sich allei­ne gestellt ist. Doch die Chan­ce ist gering. Aktu­ell war­tet Maya auf einen Ter­min, um den Antrag bei der deut­schen Bot­schaft in Bei­rut ein­zu­rei­chen und hat bereits ange­fan­gen Deutsch zu ler­nen. In der Regel dau­ert es aber bereits zehn bis vier­zehn Mona­te, um über­haupt einen Antrag stel­len zu kön­nen. Auf­grund der Coro­na-Pan­de­mie könn­te sich dies noch län­ger als sonst hinziehen.

Kin­dern von sub­si­di­är Geschüt­zen, die wäh­rend der gesam­ten zwei­ein­halb Jah­re andau­ern­den Aus­set­zung allein geblie­ben sind, ist der Schmerz der Tren­nung von ihren Eltern bis heu­te anzu­mer­ken – selbst wenn die Fami­li­en es nach lan­ger Tren­nung am Ende geschafft haben, zusammenzukommen.

August 2018: Familiennachzug wird zum Gnadenrecht

Mit dem »Fami­li­en­nach­zugs­neu­re­ge­lungs­ge­setz«, das am 01. August 2018 in Kraft trat, wur­de das Recht auf Fami­li­en­nach­zug für sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te schließ­lich end­gül­tig in ein Gna­den­recht umge­wan­delt: Einen Rechts­an­spruch haben die Fami­li­en nicht mehr, sie kön­nen nur dar­auf hof­fen, im Rah­men des ver­ein­bar­ten »huma­ni­tä­ren Kon­tin­gents« von 1000 Begüns­tig­ten monat­lich Berück­sich­ti­gung zu finden.

Für die  Umset­zung hat  man das Ver­fah­ren so kom­pli­ziert gestal­tet, dass das Kon­tin­gent von 1.000 Per­so­nen nur schwer erreich­bar ist. Es gibt drei behörd­li­che Prüf­in­stan­zen für die Prü­fung der Anträ­ge: Zuerst die deut­schen Aus­lands­ver­tre­tun­gen, dann die Aus­län­der­be­hör­den (sie­he hier­für einen Fall, in dem die ABH ablehn­te), dann das Bun­des­ver­wal­tungs­amt. Zuletzt ent­schei­den dann die deut­schen Aus­lands­ver­tre­tun­gen über die Ertei­lung des Visums. Durch die unzu­rei­chen­de Auf­sto­ckung von Per­so­nal und eine beschränk­te Frei­ga­be von Ter­mi­nen zur Vor­spra­che bei den deut­schen Aus­lands­ver­tre­tun­gen wur­de die Zahl der monat­lich bear­bei­te­ten Fäl­le begrenzt. Damit wur­de auch die Bear­bei­tung von Anträ­gen durch die Inlands­be­hör­den gebremst. So wird der Fami­li­en­nach­zug für vie­le auf die ganz lan­ge Bank gescho­ben: Von der Bean­tra­gung eines Ter­mins bei der deut­schen Aus­lands­ver­tre­tung bis zu einer Visum­ser­tei­lung ver­ge­hen oft Jahre.

Kontingent meist nicht ausgeschöpft

Daher ist es kein Wun­der, dass der Fami­li­en­nach­zug zu sub­si­di­är Geschütz­ten sehr schlep­pend erfolgt: Von August bis Dezem­ber 2018 wur­den 2.612 Visa für den Fami­li­en­nach­zug für sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te aus­ge­stellt, also wur­de nur die Hälf­te des Kon­tin­gents von monat­lich 1.000 Plät­zen, also 5.000 Plät­zen für das Jahr 2018, tat­säch­lich aus­ge­schöpft. Ab Janu­ar bis Juli 2019 stie­gen die Zah­len zwar, aber seit August 2019 wer­den wie­der nur noch ca. zwei Drit­tel des 1.000 Visa Kon­tin­gents erreicht, wie man anhand der monat­li­chen Auf­schlüs­se­lung sehen kann. Ab März 2020 ist eine deut­li­che Beein­träch­ti­gung durch die Aus­brei­tung des Coro­na­vi­rus erkennbar.

Das orga­ni­sa­to­ri­sche Umset­zungs­ver­sa­gen der deut­schen Behör­den senkt die Zahl der Fami­li­en, für die der Fami­li­en­nach­zug Rea­li­tät wird.  Mitt­ler­wei­le meh­ren sich auch Fäl­le einer Visums­ver­wei­ge­rung aus inhalt­li­chen Grün­den: Ehen, die vor der Flucht nach Deutsch­land in Tran­sit­län­dern geschlos­sen wur­den, wer­den nicht als Begrün­dung für ein huma­ni­tä­res Visum aner­kannt und immer häu­fi­ger wird den Betrof­fe­nen zuge­mu­tet, ein Fami­li­en­le­ben außer­halb Deutsch­lands in Tran­sit­län­dern zu füh­ren, wo Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge gezwun­ge­ner­ma­ßen in den ver­gan­ge­nen Jah­ren ihr Leben fris­ten mussten.

Eltern von unbe­glei­te­ten Min­der­jäh­ri­gen erhal­ten zwar ein Visum zum Fami­li­en­nach­zug, Geschwis­ter­kin­dern wird der Nach­zug aber ver­wei­gert, da sie auf­ent­halts­recht­lich nicht zur »Kern­fa­mi­lie« gehö­ren. Das hat zum Ergeb­nis, dass die Eltern sich zwi­schen ihren Kin­dern ent­schei­den oder sich auf­tei­len müssen.

Im Juni 2016 muss die Fami­lie Alburs aus ihrer umkämpf­ten Hei­mat­stadt Idlib in  die Tür­kei flie­hen. Der damals 13-jäh­ri­ge Sohn wird durch die Flucht von der Fami­lie getrennt. Er flüch­tet zusam­men mit sei­nem Onkel und des­sen Fami­lie von der Tür­kei aus über die Ägä­is und die Bal­kan­rou­te und kommt 2016 in Deutsch­land an. Unter der Vor­mund­schaft des Jugend­amts bean­tragt er Asyl und wird Anfang 2017 als sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ter aner­kannt. Wäh­rend der gan­zen Zeit der Tren­nung sehn­te er sich nach sei­ner Fami­lie und hoff­te, dass er nach sei­ner Aner­ken­nung wie­der mit ihr zusam­men leben kann. Doch erst muss er bis zum Ende der Aus­set­zung des Fami­li­en­nach­zugs für sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te warten.

Nur den Eltern wer­den Visa erteilt, den min­der­jäh­ri­gen Geschwis­tern im Alter von 4, 10 und 15 Jah­ren dage­gen nicht.

Wäh­rend­des­sen leben sei­ne Eltern mit sei­nen jün­ge­ren Geschwis­tern unter pre­kä­ren Lebens­be­din­gun­gen in einer klei­nen tür­ki­schen Stadt an der syrisch-tür­ki­schen Gren­ze. Im August 2018 kann sei­ne Fami­lie end­lich den Visums­an­trag stel­len. Nach neun Mona­ten wer­den sie zur Visums­ver­ga­be zum Kon­su­lat nach Istan­bul gela­den. Doch dann der gro­ße Schock: Nur den Eltern wer­den Visa erteilt, den min­der­jäh­ri­gen Geschwis­tern im Alter von 4, 10 und 15 Jah­ren dage­gen nicht. Die zustän­di­ge Aus­län­der­be­hör­de hat dem Nach­zug der Geschwis­ter­kin­der nicht zuge­stimmt, weil der zu dem Zeit­punkt 16-jäh­ri­ge Sohn in Deutsch­land nicht aus­rei­chend Wohn­raum nach­wei­sen und den Lebens­un­ter­halt der gesam­ten Fami­lie nicht sichern kön­ne. Die­se Vor­aus­set­zun­gen gel­ten für den allei­ni­gen Nach­zug der Eltern nicht (sie­he hier für eine Stu­die zum Geschwis­ter­nach­zug von Save the Children).

Nach lan­ger Über­le­gung ent­schied die Fami­lie schwe­ren Her­zens: Wäh­rend der Vater mit den drei Kin­dern in der Tür­kei bleibt, reist nur die Mut­ter Ende Juli 2019 zu ihrem Sohn nach Deutsch­land.  Die Tren­nung von ihren drei Kin­dern in der Tür­kei, ins­be­son­de­re von ihrer jüngs­ten Toch­ter, fällt ihr sehr schwer. Nach ihrer Ankunft in Deutsch­land stellt sie einen Asyl­an­trag, um so nach der Aner­ken­nung ihren Ehe­mann und die Kin­der nach­ho­len zu kön­nen. Inzwi­schen hat sie den sub­si­diä­ren Schutz bekom­men. Doch wie sie schon bei ihrem ältes­ten Sohn erlebt hat, kann das Fami­li­en­nach­zugs­ver­fah­ren jetzt noch lan­ge dau­ern. Wäh­rend sie mit ihrem ältes­ten Sohn nach vier Jah­ren wie­der­ver­eint ist, ist sie auf unbe­kann­te Dau­er vom Rest der Fami­lie getrennt.

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Tau­sen­de Geflüch­te­te vor allem aus Eri­trea haben im Juni 2020 vor dem Reichs­tag dafür demons­triert, ihre Fami­li­en end­lich zu sich holen zu kön­nen. Foto Fami­li­en­le­ben für alle!

Hohe Anforderungen an den Beweis der Familienzusammengehörigkeit

Die Fami­li­en­zu­ge­hö­rig­keit wird im Rah­men des Ver­fah­rens oft in Fra­ge gestellt und die Behör­den ver­lan­gen Nach­wei­se wie eine staat­li­che Regis­trie­rung und Ori­gi­nal­do­ku­men­te, die von den Betrof­fe­nen in Tran­sit­län­dern kaum zu beschaf­fen sind (für ein Inter­view zu den Pro­ble­men beim Fami­li­en­nach­zug aus Eri­trea sie­he hier). Ersatz­wei­se wer­den auch teu­re DNA-Gut­ach­ten ver­langt, deren Erstel­lung das Ver­fah­ren wei­ter in die Län­ge zieht, sowie die Vor­la­ge höchst per­sön­li­cher Daten (Chat­pro­to­kol­le, Brie­fe, etc.)

An der Bedro­hungs­si­tua­ti­on der Betrof­fe­nen hat sich nichts geän­dert. Sie wer­den auf Jah­re hin Schutz benö­ti­gen und sie und ihre Fami­li­en haben ein Recht auf ein Zusam­men­le­ben in Sicherheit.

Als Resü­mee bleibt nach zwei­jäh­ri­ger Pra­xis: Das jah­re­lan­ge War­ten auf enge Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge zer­mürbt die Men­schen und zer­stört Fami­li­en. Das ist nicht nur inte­gra­ti­ons­po­li­tisch unsin­nig, son­dern auch ver­fas­sungs­wid­rig. Die Son­der­re­ge­lung für den Fami­li­en­nach­zug für sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te soll­te abge­schafft und sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te bezüg­lich des Rechts auf Fami­li­en­nach­zug Flücht­lin­gen gleich­ge­stellt wer­den. An der Bedro­hungs­si­tua­ti­on der Betrof­fe­nen hat sich nichts geän­dert. Sie wer­den auf Jah­re hin Schutz benö­ti­gen und sie und ihre Fami­li­en haben ein Recht auf ein Zusam­men­le­ben in Sicherheit.

(Karim Alwa­si­ti, Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen / wj)