Image
Politik ohne zu wissen, was am Ende genau dabei herauskommt? Angela Merkel 2013 bei einer Veranstaltung der Bundeszentrale für politische Bildung. Foto: picturealliance / dpa / Markus Becker

Ab 1.8.2018 gilt die Neuregelung zum Familiennachzug zu den sog. subsidiär Schutzberechtigten. Nur 1000 Angehörige pro Monat soll im Rahmen eines Kontingentes der Nachzug gestattet werden. Das Ergebnis des hitzigen Gesetzgebungsverfahrens wird dem Grund- und Menschenrecht auf Familie nicht gerecht und ist in menschlicher Hinsicht nicht vertretbar.

Nach dem »Fami­li­en­nach­zugs­neu­re­ge­lungs­ge­setz«  dür­fen monat­lich bis zu 1000 Ange­hö­ri­ge sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ter nach Deutsch­land zie­hen. Dies gilt für Eltern unbe­glei­te­ter Min­der­jäh­ri­ger, für Min­der­jäh­ri­ge selbst sowie für Ehe­gat­ten – sofern ein huma­ni­tä­rer Grund vor­liegt und wei­te­re Vor­aus­set­zun­gen erfüllt sind. Das Gesetz lässt jedoch ent­schei­den­de Fra­gen zum Ver­fah­ren und der kon­kre­ten Aus­wahl­ent­schei­dung offen. Die Aus­ge­stal­tung macht es zer­ris­se­nen Fami­li­en beson­ders schwer, zu wis­sen, ob und wann sie über­haupt Chan­cen auf eine Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung haben.

Es gibt dazu bereits eine Ver­wal­tungs­ver­ein­ba­rung, die jedoch nicht vom zustän­di­gen Aus­wär­ti­gen Amt ver­öf­fent­licht wur­de. Ein Rund­schrei­ben des Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­ums (BMI) an die Bun­des­län­der vom 13.07.2018 und Infor­ma­tio­nen des Aus­wär­ti­gen Amtes (AA) geben nur ers­te Hinweise.

Letzt­lich wird deut­lich, dass das Kon­zept des Kon­tin­gents völ­lig wider­sprüch­lich und pra­xis­un­taug­lich ist. Statt der ernst­haf­ten Prü­fung jeden Ein­zel­fal­les auf Anspruch auf Fami­li­en­nach­zug soll jetzt ein Glücks­rad über die essen­ti­el­le Fra­ge der Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung ent­schei­den. Ein Über­blick über die wich­tigs­ten gesetz­li­chen Regelungen:

»Humanitäre Gründe«

Das Gesetz nennt – nicht abschlie­ßend – Bei­spiels­fäl­le für das Vor­lie­gen huma­ni­tä­rer Grün­de (§ 36a Abs. 2 Auf­enthG). Die Rang­fol­ge bzw. das Ver­hält­nis die­ser huma­ni­tä­ren Grün­de zuein­an­der ist nicht gesetz­lich fest­ge­legt. Die Betrof­fe­nen soll­ten daher zu allen Grün­den, die in Betracht kom­men, aus­rei­chend vortragen.

Ein huma­ni­tä­rer Grund liegt vor, »wenn die Her­stel­lung der fami­liä­ren Lebens­ge­mein­schaft seit lan­ger Zeit nicht mög­lich ist«. Für den maß­geb­li­chen Zeit­punkt soll es laut Rund­schrei­ben des BMI auf die Erst­re­gis­trie­rung als Asyl­su­chen­de in Deutsch­land ankom­men. Nicht ent­schei­dend soll dabei also die fak­ti­sche Tren­nung sein, die weit meh­re­re Jah­re umfas­sen kann.

Nach der Geset­zes­be­grün­dung scheint hier eine noch­ma­li­ge Prü­fung der Mög­lich­keit einer Zusam­men­füh­rung in einem Dritt­staat erfor­der­lich, obwohl das ohne­hin schon geprüft wer­den kann. So heißt es in der Geset­zes­be­grün­dung u.a., dass auf einen Dritt­staat dann nicht ver­wie­sen wer­den kann, wenn es kei­ne Mög­lich­keit der lega­len Ein­rei­se gibt oder aus ande­ren Grün­den die Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung dort unzu­mut­bar ist – bei­spiels­wei­se man­gels zumut­ba­rer Lebens­um­stän­de oder man­gels Blei­be­per­spek­ti­ve vor Ort, was z.B. auch Erwerbs­mög­lich­kei­ten erfor­dern wür­de (Begrün­dung, S. 22).

Die Geset­zes­be­grün­dung ist eine von meh­re­ren (!) Aus­le­gungs­hil­fen zur Inter­pre­ta­ti­on der Geset­zes­re­ge­lun­gen, sie ent­hält aber kei­ne ver­bind­li­che Regelung.

Ein huma­ni­tä­rer Grund kann vor­lie­gen, wenn Min­der­jäh­ri­ge invol­viert sind – unab­hän­gig davon, ob die­se sich bereits in Deutsch­land auf­hal­ten oder aber noch im Her­kunfts- oder ein einem Tran­sit­staat aus­har­ren. Da aber auch sie unter das Kon­tin­gent fal­len, wird nicht jede/r Min­der­jäh­ri­ge den nöti­gen Schutz der Fami­lie erhalten.

Zusätz­lich zu die­ser Fall­grup­pe wird das Kin­des­wohl noch­mal als expli­zit beson­de­res zu berück­sich­ti­gen­der Belang erwähnt (§ 36a Abs. 2 S. 3 Auf­enthG). In der Pra­xis ist davon aus­zu­ge­hen, dass ins­be­son­de­re die Jün­ge­ren bevor­zugt wer­den – obwohl gera­de auch Kin­der in der Puber­tät die Unter­stüt­zung ihrer Eltern benö­ti­gen und Jugend­li­che eben­so unter der Tren­nung leiden.

Leib, Leben oder Frei­heit des Aus­län­ders im Auf­ent­halts­staat müss­ten ernst­haft gefähr­det sein, so die Geset­zes­be­grün­dung (S. 23). Dies sei bei­spiels­wei­se der Fall bei dro­hen­der Gewalt, dro­hen­der Rekru­tie­rung als Kin­der­sol­dat, dro­hen­dem Men­schen- oder Kin­der­han­del oder dro­hen­der Zwangs­hei­rat. Dabei soll es sich nicht »nur« um eine rein abs­trak­te Gefahr handeln.

Die Wider­sprüch­lich­keit des Geset­zes zeigt sich bei die­ser Fall­grup­pe beson­ders für Bür­ger­kriegs­flücht­lin­ge, bei denen von einer sol­chen Gefähr­dung ohne­hin regel­mä­ßig aus­ge­gan­gen wer­den müsste.

Ist die sub­si­di­är schutz­be­rech­tig­te Per­son oder ein/e Angehörige/r erkrankt oder pfle­ge­be­dürf­tig, kann ein huma­ni­tä­rer Grund vor­lie­gen. In der Geset­zes­be­grün­dung heißt es dazu, dass die Erkran­kung bzw. Pfle­ge­be­dürf­tig­keit nicht nur vor­über­ge­hen­der Natur und nicht im Staat des gewöhn­li­chen Auf­ent­halts behan­del­bar sein dür­fe (S. 23). Daher lie­ge eine schwer­wie­gen­de Krank­heit bei­spiels­wei­se vor, wenn sie lebens­be­droh­lich ist oder auf­grund der Schwe­re der durch sie ver­ur­sach­ten Gesund­heits­stö­rung die Lebens­qua­li­tät auf Dau­er nach­hal­tig beein­träch­tigt. Auch die Pfle­ge­be­dürf­tig­keit erfor­de­re eine schwe­re Beein­träch­ti­gung der Selbst­stän­dig­keit oder der Fähig­kei­ten bzw. der schwe­ren Behinderung.

Da unklar ist, war­um sol­che Fäl­le nicht ohne­hin unter die wei­ter­hin gel­ten­de Här­te­fall­klau­sel nach § 22 Auf­enthG fal­len, wird sich in der Pra­xis und vor Gericht zei­gen müs­sen, wel­che Anfor­de­run­gen hier tat­säch­lich Bestand haben können.

Der Nach­weis der Krank­heit bzw. Pfle­ge­be­dürf­tig­keit soll durch eine qua­li­fi­zier­te Beschei­ni­gung ent­spre­chend der Rege­lung in § 60a Abs. 2c S. 3 Auf­enthG erfol­gen.  Das AA führt in sei­nen Infor­ma­tio­nen näher aus, wel­che Aspek­te dazu gehö­ren (Punkt 7). Für die Ange­hö­ri­gen im Her­kunfts- oder Dritt­staat kön­nen (und müs­sen auf­grund der fak­ti­schen Gege­ben­hei­ten) ander­wei­ti­ge Anhalts­punk­te für Erkran­kun­gen aus­rei­chen (Geset­zes­be­grün­dung, S. 23). Es erscheint absurd, die Hür­den so hoch anzu­set­zen, wo schon hier in Deutsch­land die Vor­aus­set­zun­gen für den Nach­weis schwer zu erfül­len sind.

Besondere Berücksichtigungsaspekte

Zusätz­lich zu den huma­ni­tä­ren Grün­den soll zum einen das Kin­des­wohl »beson­ders« berück­sich­tigt wer­den (§ 36 Abs. 2 S. 4 Auf­enthG, sie­he schon Bei­spiel Nr. 2). Zum ande­ren sol­len Inte­gra­ti­ons­aspek­te beson­ders berück­sich­tigt wer­den (§ 36 Abs. 2 S. 5 Auf­enthG).

Als »posi­ti­ve« Inte­gra­ti­ons­aspek­te nennt die Geset­zes­be­grün­dung bei­spiel­haft Kennt­nis­se der deut­schen Spra­che der Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen oder ander­wei­ti­ge Aspek­te, die für eine posi­ti­ve Pro­gno­se einer gelin­gen­den Inte­gra­ti­on sprechen.

Eben­so wird die eigen­stän­di­ge Siche­rung von Lebens­un­ter­halt und Wohn­raum durch den sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten berück­sich­tigt, das Erler­nen der deut­schen Spra­che, gesell­schaft­li­ches Enga­ge­ment, ehren­amt­li­che Tätig­keit sowie nach­hal­ti­ges Bemü­hen um eine Erwerbs­tä­tig­keit bzw. die Absol­vie­rung einer Aus­bil­dung (Begrün­dung, S. 24). Zu beach­ten ist, dass die zustän­di­ge Behör­de laut Rund­schrei­ben des BMI hier kei­ne wei­ter­ge­hen­de Über­prü­fung vor­neh­men will, son­dern sich auf die Infor­ma­tio­nen aus der Aus­län­der­ak­te beschränkt, die­se Unter­la­gen also umso wich­ti­ger sind.

Zu den »nega­ti­ven« Inte­gra­ti­ons­aspek­ten gehö­ren Straf­ta­ten unab­hän­gig vom kon­kre­ten Straf­maß, ins­be­son­de­re wenn es sich um Inten­siv- oder Mehr­fach­tä­ter han­delt (S. 24).

Zwar sol­len nach dem Geset­zes­wort­laut die­se Aspek­te nicht als zwin­gen­de Vor­aus­set­zung vor­lie­gen. In der Pra­xis steht aller­dings zu befürch­ten, dass auf­grund der eng umgrenz­ten Kon­tin­g­ent­zahl die­je­ni­gen mit Inte­gra­ti­ons­leis­tun­gen bevor­zugt behan­delt wer­den – obwohl es bei die­sem Gesetz um huma­ni­tä­re Grün­de gehen sollte.

Versagung, Ausschluss, Aussetzung

Die Neu­re­ge­lung ent­hält zusätz­li­che Kate­go­rien, die den Fami­li­en­nach­zug (ver)hindern können.

Der neu ein­ge­führ­te § 27 Abs. 3a Auf­enthG ent­hält Ver­sa­gungs­grün­de für alle Fäl­le des Fami­li­en­nach­zugs, d.h. nicht nur zu sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten, son­dern eben­so für alle aus­län­di­schen und deut­schen Per­so­nen. Dabei kommt es bei den Tat­be­stän­den auf die Per­son in Deutsch­land an, d.h. sie darf bei­spiels­wei­se nicht als »Gefähr­der« gel­ten, wobei unklar ist, wann davon aus­zu­ge­hen ist.

36a Abs. 3 Auf­enthG nennt spe­zi­el­le Tat­be­stän­de, die »in der Regel« zum Aus­schluss des Fami­li­en­nach­zugs zu sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten füh­ren. Dazu gehört, dass beim Ehe­gat­ten­nach­zug die Ehe nach der Flucht geschlos­sen wur­de (Nr. 1), bestimm­te Straf­ta­ten sei­tens des sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten vor­lie­gen (Nr. 2), die Ver­län­ge­rung der Auf­ent­halts­er­laub­nis bzw. Ertei­lung eines ande­ren Auf­ent­halts­ti­tels nicht zu erwar­ten ist (Nr. 3) oder aber eine Grenz­über­tritts­be­schei­ni­gung bean­tragt wur­de (Nr. 4). Teil­wei­se sind die­se Rege­lun­gen sehr weit­ge­hend und unklar, sowie recht­lich nicht gerecht­fer­tigt, wie bei­spiels­wei­se das Kri­te­ri­um des Ehe­schlie­ßungs­zeit­punk­tes zeigt.

Neu ein­ge­führt wer­den auch Grün­de für eine zeit­wei­li­ge »Aus­set­zung« der Ent­schei­dung über den Fami­li­en­nach­zug zu sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te nach § 79 Abs. 3a Auf­enthG. Schon die Ein­lei­tung eines Wider­rufs- oder Rück­nah­me­ver­fah­rens kann danach aus­rei­chen, dass über den Nach­zugs­an­trag nicht ent­schie­den wird. Pro­ble­ma­tisch ist, dass sich die­se zeit­wei­li­ge Aus­set­zung damit über einen sehr lan­gen Zeit­raum zie­hen kann. Glei­ches gilt für das Ein­lei­ten behörd­li­cher oder straf­recht­li­cher Ver­fah­ren, obwohl zu die­sem Zeit­punkt noch gar nicht klar ist, ob ein »vor­werf­ba­res« Ver­hal­ten vorliegt.

Zum Verfahren

Das Gesetz steht auch des­halb in Kri­tik, weil es kein kla­res Ver­fah­ren in orga­ni­sa­to­ri­scher Hin­sicht gibt. Das zei­gen schon die teils wider­sprüch­li­chen und lücken­haf­ten Aus­füh­run­gen im Rund­schrei­ben des BMI.

Es sind min­des­tens drei Behör­den invol­viert: Die Aus­lands­ver­tre­tun­gen, die die aus­lands­be­zo­ge­nen Aspek­te prü­fen müs­sen, die loka­len Aus­län­der­be­hör­den in Deutsch­land, die pri­mär für die inlän­di­schen Aspek­te zustän­dig sind, sowie das Bun­des­ver­wal­tungs­amt, dass ver­bind­lich das Vor­lie­gen eines huma­ni­tä­ren Grun­des bestä­ti­gen und eine Aus­wahl der 1000 Nach­zugs­be­rech­tig­ten pro Monat tref­fen muss.

Das Gesetz steht auch des­halb in Kri­tik, weil es kein kla­res Ver­fah­ren in orga­ni­sa­to­ri­scher Hin­sicht gibt. Es sind min­des­tens drei Behör­den invol­viert – die Betrof­fe­nen kön­nen so kaum nach­voll­zie­hen, wann und wie über ihren Antrag ent­schie­den wird.

Die Betrof­fe­nen kön­nen so kaum nach­voll­zie­hen, wann und wie über ihren Antrag ent­schie­den wird. Dabei müss­te von den Behör­den best­mög­li­che Trans­pa­renz ein­ge­for­dert werden.

Die Fäl­le derer, die in einem Monat nicht zu den Aus­er­wähl­ten gehö­ren, sol­len wei­ter­hin in Prü­fung blei­ben: »Anträ­ge auf Fami­li­en­nach­zug, die in dem jewei­li­gen Monat nicht berück­sich­tigt wer­den konn­ten, ver­blei­ben zunächst beim BVA und wer­den in die Prü­fung des kom­men­den Monats wie­der mit ein­be­zo­gen.« (Rund­schrei­ben des BMI, S. 3).

Was ist in den nächsten Monaten zu erwarten?

Um die Ver­fah­ren zu Beginn zu beschleu­ni­gen, sol­len laut AA die Anträ­ge zunächst nach Antrags­ein­gang abge­ar­bei­tet wer­den. Eine wirk­li­che »Aus­wahl­ent­schei­dung« fin­det also nicht statt.

Es muss  dar­auf hin­ge­wirkt wer­den, dass auf jeden Fall das 1000er Kon­tin­gent voll aus­ge­schöpft wird. Bis Dezem­ber 2018 soll zwar das monat­li­che Kon­tin­gent bei feh­len­der Aus­schöp­fung jeweils auf die nächs­ten Mona­te über­trag­bar sein, sodass bis Ende des Jah­res 5000 Per­so­nen nach­zie­hen dür­fen. Die Ver­fah­ren müs­sen jedoch so aus­ge­stal­tet sein, dass auch in Zukunft 1000 Nach­zü­ge garan­tiert werden.

Die recht­li­chen Beden­ken gegen die Neu­re­ge­lung wur­den im Gesetz­ge­bungs­ver­fah­ren mehr­fach vor­ge­tra­gen. Nun sind es vor allem die Richter*innen, die eine Über­prü­fung der Rege­lun­gen in der Hand haben.

(beb)