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Glücksrad Familiennachzug: Konsequenzen der Neuregelung für subsidiär Schutzberechtigte
Ab 1.8.2018 gilt die Neuregelung zum Familiennachzug zu den sog. subsidiär Schutzberechtigten. Nur 1000 Angehörige pro Monat soll im Rahmen eines Kontingentes der Nachzug gestattet werden. Das Ergebnis des hitzigen Gesetzgebungsverfahrens wird dem Grund- und Menschenrecht auf Familie nicht gerecht und ist in menschlicher Hinsicht nicht vertretbar.
Nach dem »Familiennachzugsneuregelungsgesetz« dürfen monatlich bis zu 1000 Angehörige subsidiär Schutzberechtigter nach Deutschland ziehen. Dies gilt für Eltern unbegleiteter Minderjähriger, für Minderjährige selbst sowie für Ehegatten – sofern ein humanitärer Grund vorliegt und weitere Voraussetzungen erfüllt sind. Das Gesetz lässt jedoch entscheidende Fragen zum Verfahren und der konkreten Auswahlentscheidung offen. Die Ausgestaltung macht es zerrissenen Familien besonders schwer, zu wissen, ob und wann sie überhaupt Chancen auf eine Familienzusammenführung haben.
Es gibt dazu bereits eine Verwaltungsvereinbarung, die jedoch nicht vom zuständigen Auswärtigen Amt veröffentlicht wurde. Ein Rundschreiben des Bundesinnenministeriums (BMI) an die Bundesländer vom 13.07.2018 und Informationen des Auswärtigen Amtes (AA) geben nur erste Hinweise.
Letztlich wird deutlich, dass das Konzept des Kontingents völlig widersprüchlich und praxisuntauglich ist. Statt der ernsthaften Prüfung jeden Einzelfalles auf Anspruch auf Familiennachzug soll jetzt ein Glücksrad über die essentielle Frage der Familienzusammenführung entscheiden. Ein Überblick über die wichtigsten gesetzlichen Regelungen:
»Humanitäre Gründe«
Das Gesetz nennt – nicht abschließend – Beispielsfälle für das Vorliegen humanitärer Gründe (§ 36a Abs. 2 AufenthG). Die Rangfolge bzw. das Verhältnis dieser humanitären Gründe zueinander ist nicht gesetzlich festgelegt. Die Betroffenen sollten daher zu allen Gründen, die in Betracht kommen, ausreichend vortragen.
Ein humanitärer Grund liegt vor, »wenn die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft seit langer Zeit nicht möglich ist«. Für den maßgeblichen Zeitpunkt soll es laut Rundschreiben des BMI auf die Erstregistrierung als Asylsuchende in Deutschland ankommen. Nicht entscheidend soll dabei also die faktische Trennung sein, die weit mehrere Jahre umfassen kann.
Nach der Gesetzesbegründung scheint hier eine nochmalige Prüfung der Möglichkeit einer Zusammenführung in einem Drittstaat erforderlich, obwohl das ohnehin schon geprüft werden kann. So heißt es in der Gesetzesbegründung u.a., dass auf einen Drittstaat dann nicht verwiesen werden kann, wenn es keine Möglichkeit der legalen Einreise gibt oder aus anderen Gründen die Familienzusammenführung dort unzumutbar ist – beispielsweise mangels zumutbarer Lebensumstände oder mangels Bleibeperspektive vor Ort, was z.B. auch Erwerbsmöglichkeiten erfordern würde (Begründung, S. 22).
Die Gesetzesbegründung ist eine von mehreren (!) Auslegungshilfen zur Interpretation der Gesetzesregelungen, sie enthält aber keine verbindliche Regelung.
Ein humanitärer Grund kann vorliegen, wenn Minderjährige involviert sind – unabhängig davon, ob diese sich bereits in Deutschland aufhalten oder aber noch im Herkunfts- oder ein einem Transitstaat ausharren. Da aber auch sie unter das Kontingent fallen, wird nicht jede/r Minderjährige den nötigen Schutz der Familie erhalten.
Zusätzlich zu dieser Fallgruppe wird das Kindeswohl nochmal als explizit besonderes zu berücksichtigender Belang erwähnt (§ 36a Abs. 2 S. 3 AufenthG). In der Praxis ist davon auszugehen, dass insbesondere die Jüngeren bevorzugt werden – obwohl gerade auch Kinder in der Pubertät die Unterstützung ihrer Eltern benötigen und Jugendliche ebenso unter der Trennung leiden.
Leib, Leben oder Freiheit des Ausländers im Aufenthaltsstaat müssten ernsthaft gefährdet sein, so die Gesetzesbegründung (S. 23). Dies sei beispielsweise der Fall bei drohender Gewalt, drohender Rekrutierung als Kindersoldat, drohendem Menschen- oder Kinderhandel oder drohender Zwangsheirat. Dabei soll es sich nicht »nur« um eine rein abstrakte Gefahr handeln.
Die Widersprüchlichkeit des Gesetzes zeigt sich bei dieser Fallgruppe besonders für Bürgerkriegsflüchtlinge, bei denen von einer solchen Gefährdung ohnehin regelmäßig ausgegangen werden müsste.
Ist die subsidiär schutzberechtigte Person oder ein/e Angehörige/r erkrankt oder pflegebedürftig, kann ein humanitärer Grund vorliegen. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu, dass die Erkrankung bzw. Pflegebedürftigkeit nicht nur vorübergehender Natur und nicht im Staat des gewöhnlichen Aufenthalts behandelbar sein dürfe (S. 23). Daher liege eine schwerwiegende Krankheit beispielsweise vor, wenn sie lebensbedrohlich ist oder aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörung die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt. Auch die Pflegebedürftigkeit erfordere eine schwere Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten bzw. der schweren Behinderung.
Da unklar ist, warum solche Fälle nicht ohnehin unter die weiterhin geltende Härtefallklausel nach § 22 AufenthG fallen, wird sich in der Praxis und vor Gericht zeigen müssen, welche Anforderungen hier tatsächlich Bestand haben können.
Der Nachweis der Krankheit bzw. Pflegebedürftigkeit soll durch eine qualifizierte Bescheinigung entsprechend der Regelung in § 60a Abs. 2c S. 3 AufenthG erfolgen. Das AA führt in seinen Informationen näher aus, welche Aspekte dazu gehören (Punkt 7). Für die Angehörigen im Herkunfts- oder Drittstaat können (und müssen aufgrund der faktischen Gegebenheiten) anderweitige Anhaltspunkte für Erkrankungen ausreichen (Gesetzesbegründung, S. 23). Es erscheint absurd, die Hürden so hoch anzusetzen, wo schon hier in Deutschland die Voraussetzungen für den Nachweis schwer zu erfüllen sind.
Besondere Berücksichtigungsaspekte
Zusätzlich zu den humanitären Gründen soll zum einen das Kindeswohl »besonders« berücksichtigt werden (§ 36 Abs. 2 S. 4 AufenthG, siehe schon Beispiel Nr. 2). Zum anderen sollen Integrationsaspekte besonders berücksichtigt werden (§ 36 Abs. 2 S. 5 AufenthG).
Als »positive« Integrationsaspekte nennt die Gesetzesbegründung beispielhaft Kenntnisse der deutschen Sprache der Familienangehörigen oder anderweitige Aspekte, die für eine positive Prognose einer gelingenden Integration sprechen.
Ebenso wird die eigenständige Sicherung von Lebensunterhalt und Wohnraum durch den subsidiär Schutzberechtigten berücksichtigt, das Erlernen der deutschen Sprache, gesellschaftliches Engagement, ehrenamtliche Tätigkeit sowie nachhaltiges Bemühen um eine Erwerbstätigkeit bzw. die Absolvierung einer Ausbildung (Begründung, S. 24). Zu beachten ist, dass die zuständige Behörde laut Rundschreiben des BMI hier keine weitergehende Überprüfung vornehmen will, sondern sich auf die Informationen aus der Ausländerakte beschränkt, diese Unterlagen also umso wichtiger sind.
Zu den »negativen« Integrationsaspekten gehören Straftaten unabhängig vom konkreten Strafmaß, insbesondere wenn es sich um Intensiv- oder Mehrfachtäter handelt (S. 24).
Zwar sollen nach dem Gesetzeswortlaut diese Aspekte nicht als zwingende Voraussetzung vorliegen. In der Praxis steht allerdings zu befürchten, dass aufgrund der eng umgrenzten Kontingentzahl diejenigen mit Integrationsleistungen bevorzugt behandelt werden – obwohl es bei diesem Gesetz um humanitäre Gründe gehen sollte.
Versagung, Ausschluss, Aussetzung
Die Neuregelung enthält zusätzliche Kategorien, die den Familiennachzug (ver)hindern können.
Der neu eingeführte § 27 Abs. 3a AufenthG enthält Versagungsgründe für alle Fälle des Familiennachzugs, d.h. nicht nur zu subsidiär Schutzberechtigten, sondern ebenso für alle ausländischen und deutschen Personen. Dabei kommt es bei den Tatbeständen auf die Person in Deutschland an, d.h. sie darf beispielsweise nicht als »Gefährder« gelten, wobei unklar ist, wann davon auszugehen ist.
36a Abs. 3 AufenthG nennt spezielle Tatbestände, die »in der Regel« zum Ausschluss des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten führen. Dazu gehört, dass beim Ehegattennachzug die Ehe nach der Flucht geschlossen wurde (Nr. 1), bestimmte Straftaten seitens des subsidiär Schutzberechtigten vorliegen (Nr. 2), die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis bzw. Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels nicht zu erwarten ist (Nr. 3) oder aber eine Grenzübertrittsbescheinigung beantragt wurde (Nr. 4). Teilweise sind diese Regelungen sehr weitgehend und unklar, sowie rechtlich nicht gerechtfertigt, wie beispielsweise das Kriterium des Eheschließungszeitpunktes zeigt.
Neu eingeführt werden auch Gründe für eine zeitweilige »Aussetzung« der Entscheidung über den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigte nach § 79 Abs. 3a AufenthG. Schon die Einleitung eines Widerrufs- oder Rücknahmeverfahrens kann danach ausreichen, dass über den Nachzugsantrag nicht entschieden wird. Problematisch ist, dass sich diese zeitweilige Aussetzung damit über einen sehr langen Zeitraum ziehen kann. Gleiches gilt für das Einleiten behördlicher oder strafrechtlicher Verfahren, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht klar ist, ob ein »vorwerfbares« Verhalten vorliegt.
Zum Verfahren
Das Gesetz steht auch deshalb in Kritik, weil es kein klares Verfahren in organisatorischer Hinsicht gibt. Das zeigen schon die teils widersprüchlichen und lückenhaften Ausführungen im Rundschreiben des BMI.
Es sind mindestens drei Behörden involviert: Die Auslandsvertretungen, die die auslandsbezogenen Aspekte prüfen müssen, die lokalen Ausländerbehörden in Deutschland, die primär für die inländischen Aspekte zuständig sind, sowie das Bundesverwaltungsamt, dass verbindlich das Vorliegen eines humanitären Grundes bestätigen und eine Auswahl der 1000 Nachzugsberechtigten pro Monat treffen muss.
Das Gesetz steht auch deshalb in Kritik, weil es kein klares Verfahren in organisatorischer Hinsicht gibt. Es sind mindestens drei Behörden involviert – die Betroffenen können so kaum nachvollziehen, wann und wie über ihren Antrag entschieden wird.
Die Betroffenen können so kaum nachvollziehen, wann und wie über ihren Antrag entschieden wird. Dabei müsste von den Behörden bestmögliche Transparenz eingefordert werden.
Die Fälle derer, die in einem Monat nicht zu den Auserwählten gehören, sollen weiterhin in Prüfung bleiben: »Anträge auf Familiennachzug, die in dem jeweiligen Monat nicht berücksichtigt werden konnten, verbleiben zunächst beim BVA und werden in die Prüfung des kommenden Monats wieder mit einbezogen.« (Rundschreiben des BMI, S. 3).
Was ist in den nächsten Monaten zu erwarten?
Um die Verfahren zu Beginn zu beschleunigen, sollen laut AA die Anträge zunächst nach Antragseingang abgearbeitet werden. Eine wirkliche »Auswahlentscheidung« findet also nicht statt.
Es muss darauf hingewirkt werden, dass auf jeden Fall das 1000er Kontingent voll ausgeschöpft wird. Bis Dezember 2018 soll zwar das monatliche Kontingent bei fehlender Ausschöpfung jeweils auf die nächsten Monate übertragbar sein, sodass bis Ende des Jahres 5000 Personen nachziehen dürfen. Die Verfahren müssen jedoch so ausgestaltet sein, dass auch in Zukunft 1000 Nachzüge garantiert werden.
Die rechtlichen Bedenken gegen die Neuregelung wurden im Gesetzgebungsverfahren mehrfach vorgetragen. Nun sind es vor allem die Richter*innen, die eine Überprüfung der Regelungen in der Hand haben.
(beb)