Familien gehören zusammen!
Hunderttausende Geflüchtete leben nicht mit ihren engsten Angehörigen zusammen, weil Krieg und schwere Menschenrechtsverletzungen sie auseinandergerissen haben. Auch in Deutschland ist es vielen von ihnen nicht möglich, als Familie zusammen zu sein, weil die Bundesregierung und gesetzliche Bestimmungen dies massiv erschweren oder gar verhindern.
Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung, heißt es in Artikel 6 des Grundgesetzes. Doch für Tausende Geflüchtete in Deutschland gilt das bloß in der Theorie. Viele Menschen aus Eritrea, Syrien, Afghanistan und weiteren Ländern haben ihre Liebsten vor sieben oder gar zehn Jahren das letzte Mal in den Arm genommen. Dabei haben anerkannte Flüchtlinge einen Rechtsanspruch auf Familiennachzug der Ehepartner*innen, Kinder oder (bei Minderjährigen) der Eltern.
Die Visaverfahren ziehen sich wegen der Überlastung deutscher Behörden, bürokratischer Hürden oder kaum zu erfüllender Voraussetzungen unzumutbar lange hin.
Schuld an den jahrelangen Verfahren ist auch die restriktive Praxis des Auswärtigen Amts. Die Visaverfahren ziehen sich wegen der Überlastung deutscher Behörden, bürokratischer Hürden oder kaum zu erfüllender Voraussetzungen unzumutbar lange hin. Während der Corona-Pandemie haben viele Botschaften nur eingeschränkt gearbeitet oder hatten ganz geschlossen. Die Folge: Visumanträge auf Familiennachzug konnten dort entweder gar nicht erst gestellt werden oder blieben liegen. In anderen Fällen wird von den Betroffenen verlangt, Dokumente einzureichen, die es in ihren Herkunftsländern nicht gibt oder die zu beschaffen schwierig ist – etwa staatliche Heiratsurkunden, obwohl in einigen Ländern religiöse Zeremonien die Regel sind.
Jahrelange Wartezeiten
Allein die Wartezeiten, um überhaupt erst einen Antrag auf ein Visum auf Familiennachzug stellen zu dürfen, sind absurd lang: Im Februar 2020 betrugen sie etwa in Addis Abeba (Äthiopien) 13 Monate, in Khartum (Sudan) zehn Monate und in Nairobi (Kenia) 14 Monate. Für Neu-Delhi (afghanische Staatsangehörige) und Islamabad (pakistanische und afghanische Staatsangehörige) gab die Bundesregierung für den Stichtag Anfang April 2021 »über ein Jahr« an. Dies ist der allererste Schritt – weitere Monate und Jahre des Wartens folgen, in denen die jeweilige Deutsche Botschaft, die Internationale Organisation für Migration und die deutschen Ausländerbehörden die Unterlagen prüfen.
Gefährliche Reise zu den deutschen Auslandsvertretungen
In diesen Zeiten besonders schlimm sind die massiven Verzögerungen beim Familiennachzug in Afghanistan: Die westlichen Truppen ziehen ab, die Taliban rücken vor, das Leben für die Zivilbevölkerung wird zunehmend lebensgefährlich – erst recht für Familien, von denen bekannt ist, dass der Vater »im Westen« lebt. Das gilt zum Beispiel für die Familie eines afghanischen Journalisten, der vor mehr als zwei Jahren floh, nachdem er von den Taliban wiederholt mit dem Tod bedroht worden war. Seine Angst um seine im Verborgenen lebende Familie wird in diesen Wochen immer größer.
Und um überhaupt den Visumantrag stellen zu können, müssen afghanische Familien nach Islamabad (Pakistan) oder Neu-Delhi (Indien), weil die Visaabteilung der deutschen Auslandsvertretung in Kabul geschlossen hat.
Ohne die Familie fällt die Integration schwer
Während der langen Wartezeiten entfremden sich Ehepartner, verbringen Kinder wichtige Jahre ohne Vater oder Mutter, bangen Männer um die Sicherheit ihrer Frauen, die in Kriegsgebieten oder überfüllten Flüchtlingslagern ausharren. Diese Belastung zermürbt Familien – und behindert die Integration. »Ich führe meine Ehe nur noch telefonisch. Acht lange Jahre sind meine Frau und ich voneinander getrennt«, sagt ein Familienvater aus Eritrea.
Eritreer, die aus der Diktatur ihres Heimatlandes geflohen sind, zählen zu den besonders Betroffenen: Die Bundesregierung verlangt als Voraussetzung für den Familiennachzug von ihnen, Dokumente vorzulegen, die sie nur beibringen können, wenn sie mit ihrem Verfolgerstaat Kontakt aufnehmen. Da die deutsche Auslandsvertretung in Eritrea keine Visa zum Familiennachzug entgegennimmt, müssen Familien außerdem erst ins Nachbarland Äthiopien ausreisen.
Diese Kontingentregelung hat aus dem Rechtsanspruch auf Familiennachzug einen Gnadenakt des Staates gemacht.
Unzumutbar: Eltern müssen sich zwischen ihren Kindern entscheiden
Flüchtlinge, die »nur« subsidiären Schutz erhalten – beispielsweise Syrer*innen, die vor Krieg und Terror aus ihrer Heimat geflohen sind – stehen vor ganz eigenen Herausforderungen. Für sie war der Familiennachzug von 2016 bis 2018 komplett ausgesetzt. Mittlerweile gilt das sogenannte Familiennachzugsneuregelungsgesetz: Es sieht vor, dass pro Monat maximal 1000 Menschen im Rahmen des Familiennachzugs zu ihrer Kernfamilie mit subsidiärem Schutz nach Deutschland kommen dürfen. Diese Kontingentregelung hat aus dem Rechtsanspruch auf Familiennachzug einen Gnadenakt des Staates gemacht.
Ein weiteres Problem ist der sogenannte Geschwisternachzug: Eltern haben rechtlich einen Anspruch darauf, zu ihrem als Flüchtling in Deutschland anerkannten Kind zu ziehen; Geschwisterkindern wird dieses Recht jedoch verweigert. Konkret bedeutet dies, dass sich Eltern zwischen ihren Kindern entscheiden müssen: Entweder sie lassen ihre weiteren minderjährigen Kinder allein im Ausland zurück oder die Eltern verzichten auf den Familiennachzug und damit auf die familiäre Gemeinschaft mit ihrem in Deutschland als Flüchtling anerkannten Kind – eine unzumutbare Entscheidung!
Das Warten muss ein Ende haben!
Deshalb hat PRO ASYL eine Aktion gestartet: »Das Warten muss ein Ende haben! Familien gehören zusammen.« Konkrete Forderungen an die Politik lauten: ein beschleunigtes und digitales Antragsverfahren für den Familiennachzug, die rechtliche Gleichstellung von subsidiär Schutzberechtigten und Flüchtlingen, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention Schutz erhalten, sowie die Ermöglichung des Geschwisternachzugs.
(Ober-)Bürgermeister aus unterschiedlichen Parteien gehören zu den Erstunterzeichnern eines entsprechenden Aufrufs, außerdem rund 220 zivilgesellschaftliche Organisationen.