Familien gehören zusammen!
Die Koalitionsverhandlungen waren noch nicht beendet, schon wurde das Schicksal vieler Flüchtlingsfamilien besiegelt. Offenbar gab es für die Regierungsparteien kein drängenderes Thema als den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten. Die neue Regelung strotzt vor menschlicher Härte und juristischer Ungereimtheit. Die Betroffenen dieser Politik, die schutzberechtigte Person und ihre engsten Angehörigen, gerieten dabei außer Acht. Ihr Schutzbedürfnis, ihre Vulnerabilität und ihre Hoffnungen sind nur mehr abstrakte, politische Verhandlungsmasse.
Vor und nach der Bundestagswahl schien es kein wichtigeres politisches Thema zu geben als den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigen. Die Frage der Familienzusammenführung wurde emotional hoch aufgeladen debattiert – ohne dabei die Einzelschicksale im Blick zu haben. Sogar vor einem Zuzug millionenfachen Ausmaßes wurde gewarnt. Dabei zeigt eine Untersuchung des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung von Oktober 2017, dass mit einem zusätzlichen Zuzug von 50.000 bis 60.000 Menschen zu rechnen sei, würde auch in Deutschland subsidiär Geschützten wieder gestattet, ihre engsten Angehörigen zu sich zu holen. Eine durchaus realistische Zahl, die sich mit den bisherigen Erfahrungen deckt und in der Praxis handhabbar wäre. Doch eine nüchterne Debatte über praktische Lösungen erscheint unmöglich.
Seit März 2016 dürfen Kinder, Mütter, Väter oder Eheleute, die in Deutschland den subsidiären Schutzstatus erhalten haben, keine Familienangehörigen mehr auf sicherem Wege zu sich holen. Den verzweifelten Menschen wurde damals versprochen, dass es sich nur um eine vorübergehende Aussetzung ihres bestehenden Anspruchs auf Familiennachzug handele. Ab März 2018 sollte der Familiennachzug wieder ermöglicht werden. Doch es kam anders.
Politisches Kontingent statt Rechtsanspruch
Noch während der Koalitionsverhandlungen haben die Regierungsparteien die zeitweise Aussetzung nicht nur verlängert, sondern bestimmt, dass es gar keinen rechtlichen Anspruch auf Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte mehr geben soll. Stattdessen dürfen nur noch bis zu 1.000 Menschen monatlich nach Deutschland kommen, um mit ihren engsten Familienmitgliedern vereint zu werden. Wie die Auswahl der Betroffenen erfolgen soll, ist unklar. Es steht zu befürchten, dass wegen immenser bürokratischer Hürden selbst dieses Kontingent nicht ausgeschöpft wird.
Ausschlaggebend ist, dass ein subjektiver Rechtsanspruch ausgeschlossen werden soll. Entscheidungen liegen allein im Ermessen des Staates. Damit geht der Gesetzgeber weit über die bisherige, rechtlich bereits fragwürdige Aussetzung hinaus. Da hilft es auch nicht, zusätzlich auf Härtefallregelungen zu verweisen. Tatsächlich sieht das Aufenthaltsgesetz in singulären, humanitären Ausnahmefällen die Möglichkeit einer Einreise vor – das hat aber nichts mit Familiennachzug zu tun. Diese Regelung gibt es zudem schon seit Jahren. Im Jahr 2017 sind lediglich 66 Personen im Rahmen der Härtefallregelung nach §22 Aufenthaltsgesetz in die Bundesrepublik eingereist.
Völlig unberücksichtigt lässt die Neuregelung die schwierige Situation derjenigen, die schon zwei Jahre darauf warten, ihre Angehörigen endlich zu sich holen zu können. Dabei gelten in unserem Rechtsstaat das Prinzip der Rechtssicherheit und damit ein Vertrauensschutz. Die Betroffenen wurden nun von der Politik bitter enttäuscht.
Wir reden von Geflüchteten!
In der Debatte wird deutlich, dass oft nicht klar ist, wer überhaupt „subsidiär Schutzberechtigte“ sind. Der rechtliche Begriff mag suggerieren, der Schutz dieser Menschen sei nicht so stark wie der nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK). Dabei sind beide Gruppen lediglich Unterformen des internationalen Schutzes nach europäischem Recht. Sie sind anerkannte Schutzberechtigte, die vor schweren Menschenrechtsverletzungen fliehen. Bei den Flüchtlingen im Sinne der GFK kann das beispielsweise auf einer Verfolgung aus politischen oder religiösen Gründen beruhen, bei subsidiär Schutzberechtigten hingegen auf einer drohenden Todesstrafe, Folter oder einem Bürgerkrieg. In beiden Fällen hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ihren Schutzbedarf ausdrücklich festgestellt.
Auch bezüglich ihrer Aufenthaltsdauer unterscheiden sich die beiden Schutzformen faktisch nicht: Die meisten Menschen werden viele Jahre in Deutschland bleiben. So begann zum Beispiel der syrische Bürgerkrieg bereits vor sieben Jahren, in Afghanistan und Somalia halten die Konflikte ebenfalls schon lange Zeit an, in Eritrea herrscht nach wie vor eine Militärdiktatur. Eine wesentliche und nachhaltige Verbesserung ist in keiner der Regionen in Sicht.
Wir reden von Grund- und Menschenrechten!
Ehe und Familie stehen grund- und menschenrechtlich unter besonderem Schutz. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach betont, welch hohen Rang die Familie in unserer Verfassung genießt. Bereits im Jahr 1987 hat es entschieden, dass eine dreijährige, erzwungene Trennung von Eheleuten verfassungswidrig ist. Das höchste deutsche Gericht musste damals über den Nachzug von Ehepartner*innen zu in Deutschland lebenden Arbeitsmigrant*innen urteilen. Die spezielle und gefährliche Situation, in denen sich Geflüchtete und ihre Angehörigen befinden, wurde bei dieser Entscheidung also noch gar nicht berücksichtigt.
Auch die Europäische Menschenrechtskonvention sowie die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen verpflichten den Staat zur Achtung des Familienlebens und einer vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls. Der völkerrechtlichen Vorgabe, Nachzugsanträge von Minderjährigen oder ihren Eltern »wohlwollend, human und beschleunigt« zu bearbeiten (Art. 10 UN-Kinderrechtskonvention), widerspricht ein bremsendes Kontingent unabhängig davon, wie es konkret ausgestaltet wird.
Zuzugsbegrenzung um jeden Preis
Der Stopp des Familiennachzugs für subsidiär Geschützte reiht sich ein in das Mantra der Zuzugsbegrenzung. Noch 2015 spielte der subsidiäre Schutz kaum eine Rolle, gerade Syrer*innen wurden zu fast 100 Prozent als Flüchtlinge im Sinne der GFK anerkannt. Im Jahr 2017 hingegen erhielten rund 61 Prozent der syrischen Schutzberechtigten subsidiären Schutz. Es scheint auf der Hand zu liegen, dass die Einschränkung des Familiennachzugs die Entscheidungspraxis des BAMF maßgeblich mit beeinflusst.
Beim Familiennachzug reichen die Probleme zudem weit über die der subsidiär Schutzberechtigten hinaus. Selbst der Familiennachzug zu GFK-Flüchtlingen, deren individueller Anspruch unangetastet bleibt, wird behindert: Anforderungen an Dokumente werden erhöht, Auslandsvertretungen sind schwer zugänglich, der Geschwisternachzug wird erschwert.
Innerhalb der EU werden sogar Rechtsansprüche im Rahmen der Dublin-Regelung missachtet: Im vergangenen Jahr wurden Familienzusammenführungen von Geflüchteten in Griechenland mit ihren Angehörigen in Deutschland offenbar auf politischen Druck hin vorübergehend zahlenmäßig gedrosselt – trotz eines klar bestehenden Rechtsanspruchs. Die Kreativität, den Zuzug einzuschränken, scheint keine Grenzen mehr zu kennen. Ob Politiker*innen genauso handeln würden, wären ihre eigenen Familienangehörigen betroffen, ist zu bezweifeln.
Bellinda Bartolucci