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Aus der Praxis: Familiennachzug – Zustimmung in letzter Minute
Seit 2018 ist der Familiennachzug zu subsidiär Geschützten nur unter hohen Auflagen mit Beteiligung mehrerer Behörden möglich. Im vorliegenden Fall verweigert die Ausländerbehörde die Zustimmung. Fast droht die Zusammenführung der Familie zu scheitern.
Abdul* (17) aus Syrien lebt seit vier Jahren mit seiner Großmutter und der Familie seines Onkels in Deutschland. Vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat er den subsidiären Schutz zuerkannt bekommen. Abduls größter Wunsch ist, wieder mit seiner Mutter zusammenzuleben. Seit sieben Jahren hat er sie nicht gesehen.
Seine Mutter Marwa* lebt als Alleinerziehende mit ihrer fünfjährigen Tochter Seba aus zweiter Ehe in einem Flüchtlingslager im Libanon. Abdul macht sich große Sorgen um sie.
Als 2018 der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten nur noch eingeschränkt und unter hohen Auflagen im Rahmen eines monatlichen 1000er-Kontingents wieder möglich wird, stellt Marwa sofort Visumsanträge bei der deutschen Botschaft. Doch der Familiennachzug droht an den deutschen Behörden zu scheitern.
Die Ausländerbehörde verweigert die Zustimmung
Im Visumsverfahren wird auch die Ausländerbehörde beteiligt. Nur wenn sie zustimmt, kann das Visum erteilt werden. Bei einem Termin bei der lokalen Ausländerbehörde kündigt die Behördenmitarbeiterin Abdul an, das Visum abzulehnen. Der Jugendliche erleidet eine Panikattacke und muss ins Krankenhaus. Die Voraussetzungen dafür, dass auch die Schwester nachziehen darf, sind sehr hoch: Gesicherter Lebensunterhalt und ausreichend Wohnraum müssen nachgewiesen werden. Einen Wohnraumnachweis haben sie dank einer Unterstützerin, aber wie soll der 17-jährige Abdul für den Lebensunterhalt seiner Halbschwester aufkommen?
Bei einem erneuten Termin bei der Ausländerbehörde wird auch das Visum der Mutter infrage gestellt.
Abdul durfte nicht bei seiner Mutter aufwachsen
Bei einem erneuten Termin bei der Ausländerbehörde wird auch das Visum der Mutter infrage gestellt. Weil Abdul und seine Mutter über viele Jahre hinweg keinen Kontakt hatten, wird die familiäre Bindung bezweifelt. Doch diese lange Trennung war weder von Abdul noch von seiner Mutter gewollt.
Familie wird getrennt
Nachdem Abduls Vater die Familie bereits lange Zeit verlassen hatte, ließen sich die Eltern schließlich scheiden. Auf Druck der Familie heiratete Marwa erneut. Der neue Mann bestimmte, dass Abdul in der Familie des Onkels aufgezogen wurde und verbat Marwa und ihrem Sohn den Kontakt. Abdul ist damals zehn Jahre alt. In der Befragung der Ausländerbehörde erklärt er: »Mein Onkel hat gesagt, wenn deine Mutter dich nicht anruft oder kontaktiert, dann darfst du auch keinen Kontakt zu ihr haben. In der Zeit habe ich viel geweint und meine Mutter sehr vermisst. 2014 ist mein Onkel mit seiner Familie in die Türkei und später nach Deutschland gegangen und ich musste mit.«
Endlich wieder Kontakt
Erst nachdem Marwa sich trennte und mit der kleinen Seba* in den Libanon geflohen war, konnte sie nach ihrem Sohn suchen. Über Facebook wurde sie schließlich fündig. »Sie hat mich über Messenger kontaktiert und wir haben telefoniert. Das war der glücklichste Tag in meinem Leben«, erzählt Abdul, »ich war unbeschreiblich froh«. Seitdem sind sie im regelmäßigen Kontakt, schreiben sich und telefonieren.
Abdul erfuhr damals auch erstmals von seiner kleinen Halbschwester Seba und freut sich: »Ich wollte nie ein Einzelkind sein, deswegen finde ich es jetzt so schön, großer Bruder zu sein. Ich mache immer viel Spaß am Telefon mit ihr, weil sie so oft traurig ist und weint. Und dann freue ich mich, wenn ich sie zum Lachen bringen kann.«
Ausländerbehörde mauert
Obwohl durch Dokumente unzweifelhaft klar ist, dass Abdul der Sohn von Marwa ist und seine Erklärung bei der Ausländerbehörde deutlich gemacht hatte, wie sehr er unter der Trennung leidet, verweigert die Ausländerbehörde die Zustimmung zum Familiennachzug. Die deutsche Botschaft darf daraufhin weder für die Mutter noch für die Tochter ein Visum erteilen und lehnt die Anträge ab.
Das Gerichtsverfahren: Ungewissheit bis zuletzt
Mit Unterstützung von PRO ASYL beauftragt die Familie einen Rechtsanwalt, der gegen diese Ablehnungen vorgeht. In wenigen Wochen wird Abdul volljährig. Wenn seine Mutter und Schwester nicht vor seinem 18. Geburtstag einreisen, droht es keine Möglichkeit eines Familiennachzugs mehr zu geben. Die Familie, die ehrenamtliche Unterstützerin und der Anwalt fiebern von Tag zu Tag.
Mit Unterstützung von PRO ASYL beauftragt die Familie einen Rechtsanwalt, der gegen diese Ablehnungen vorgeht. In wenigen Wochen wird Abdul volljährig. Wenn seine Mutter und Schwester nicht vor seinem 18. Geburtstag einreisen, droht es keine Möglichkeit eines Familiennachzugs mehr zu geben:
Mutter darf einreisen, kleine Schwester nicht
Beim Verwaltungsgericht trägt die Ausländerbehörde vor, dass Abdul »den größten Teil seiner Kindheit bei seiner Großmutter verbracht und zu seiner Mutter, der Antragstellerin, jahrelang keinen Kontakt gepflegt [hat]«. Beim Gericht wird ein Vergleich vorgeschlagen: Die Botschaft soll das Visum erteilen, dafür trägt die Familie die Gerichtskosten. Alle sind einverstanden – bis auf die Ausländerbehörde. Als Beigeladene im Prozess stimmt sie dem Vergleich schließlich nur in Bezug auf die Mutter zu, nicht aber für ihre 5‑jährige Tochter.
Die Mutter ist verzweifelt. Sie möchte ihren Sohn nach der jahrelangen Trennung unbedingt wiedersehen, aber die kleine Seba kann sie unmöglich allein im Libanon zurücklassen. Es gibt keine Verwandten, die auf sie aufpassen könnten.
Visum für die Familie in letzter Minute
Die Zeit drängt. In vier Tagen wird Abdul 18 Jahre alt. Das Gericht trifft quasi in letzter Minute eine Entscheidung zur Visumserteilung von Seba. Begründung: Die Ausländerbehörde hat ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Von dem Erfordernis des gesicherten Lebensunterhalts muss abgesehen werden, weil das kleine Mädchen nicht allein zurückgelassen werden kann. Das Gericht beschließt, dass die Botschaft auch für die kleine Schwester ein Visum ausstellen soll.
»Endlich wie eine normale Familie zusammenleben können«
Die Botschaft tut dies innerhalb von Stunden. Schon am nächsten Tag fliegen Mutter und Tochter nach Deutschland. Nach vielen Jahren der Trennung sieht Abdul seine Mutter endlich wieder und lernt seine kleine Halbschwester richtig kennen. Zu seinem Geburtstag ist sein größter Wunsch in Erfüllung gegangen, die er im Visumsverfahren geäußert hatte, »endlich wie eine normale Familie zusammenleben können und dass Seba eine schönere Kindheit haben darf, als ich sie hatte.«
*alle Namen geändert
(jb)