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Späte Gerechtigkeit für die Überlebenden von Farmakonisi
Acht Kinder und drei Frauen sind im Schlepptau der griechischen Küstenwache im Januar 2014 gestorben. Jedoch: Die Überlebenden von Farmakonisi mussten länger als acht Jahre auf Gerechtigkeit warten. Der Menschenrechtsgerichtshof hat kürzlich Griechenland in allen zentralen Punkten verurteilt. Eine Einschätzung über die Bedeutung des Urteils.
»Zum Glück weiß jetzt jeder, dass es nicht unsere Schuld war, sondern deren Schuld.« Das sind die ersten Worte des Überlebenden Abdulsabor A. auf einer Pressekonferenz, zu der mehrere griechische Organisationen und PRO ASYL nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) am 7. Juli 2022 eingeladen hatten. Er verlor bei der lebensgefährlichen Aktion der Küstenwache seine Frau und seinen zehnjährigen Sohn: Sie ertranken im Januar 2014 im Mittelmeer. Aus Sicht der Überlebenden war dies ein versuchter Pushback, der Gerichtshof äußerte sich dazu nicht.
Länger als acht Jahre hat es gedauert, bis nun durch den Menschenrechtsgerichthof in Straßburg anerkannt wurde: Das Recht auf Leben wurde verletzt. Griechenland ist verantwortlich für den elffachen Tod. Die 16 Überlebenden wurden unmenschlich und erniedrigend behandelt. Es fand keine rechtsstattliche Untersuchung der tödlichen Pushback-Operation statt, sondern es wurde vielmehr vertuscht.
Chronik einer tödlichen Operation
Zum Hintergrund: Als ein Patrouillenboot der griechischen Küstenwache in der stürmischen Nacht des 20. Januars 2014 in der östlichen Ägäis auf ein Flüchtlingsboot mit ausgeschaltetem Motor trifft, soll dieses bereits seeuntauglich gewesen sein. Der Fischkutter ist mit 27 Flüchtlingen aus Syrien und Afghanistan überfüllt, es befinden sich neun Kinder an Bord, niemand trägt eine Rettungsweste. Die Küstenwache nimmt das Boot in Schlepptau und – so die Überlebenden – zieht es mit einer hohen Geschwindigkeit in Richtung Türkei.
Die Schleppkräfte, die dabei auf das Boot wirken, sind so stark, dass der Ankerpunkt am Bug des Boots herausbricht. Ein Beamter der Küstenwache klettert auf den Kutter und befestigt das Abschleppseil erneut. Bei diesem zweiten Abschleppversuch wird das Boot weiter so stark beschädigt, dass es zu sinken beginnt. Die beteiligten Beamten der Küstenwache werden später behaupten, dass das Boot aufgrund von Panik auf dem Boot gekentert sei. Sie schneiden das Seil durch – drei Frauen und acht Kinder ertrinken. Fünfzehn Männer und ein Kind können sich auf das Boot der Küstenwache retten.
Seenotrettung sieht anders aus
Bei dieser Aktion missachtete die griechische Küstenwache alle internationalen Standards der Seenotrettung. Die Flüchtlinge wurden weder rechtzeitig an Bord des Schiffs der Küstenwache geholt noch wurden Rettungswesten ausgeteilt. Das Flüchtlingsboot war mindestens 15 Minuten im Schlepptau der griechischen Küstenwache, zwei Küstenwachbeamte hatten es sogar betreten, um das Seil zu befestigen. Es war also unter voller Kontrolle der griechischen Beamten, bevor es sank. Einen Notruf an umliegende Schiffe sandten sie erst zwölf Minuten, nachdem das Boot schon komplett gesunken war, aus.
Alle Details, die in der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte sowie in dem Gutachten eines unabhängigen Schifffahrtsexperten über die tödliche Operation zu Tage treten, lassen nur einen Schluss zu: Es fand formal und praktisch keine Seenotrettungsaktion, sondern ein Grenzüberwachungseinsatz statt. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kommt in seinem Urteil zu der Erkenntnis: »Es gibt keine Erklärung dafür, wie die Behörden planten, die Betroffenen mit ihrem […] Schnellboot ohne die für eine Rettung notwendige Ausrüstung in Sicherheit zu bringen. Die Küstenwache zog zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit in Betracht, zusätzliche Hilfe anzufordern oder […] ein für eine Rettungsaktion besser geeignetes Boot an den Ort des Geschehens zu schicken.«
»Es gibt keine Erklärung dafür, wie die Behörden planten, die Betroffenen mit ihrem […] Schnellboot ohne die für eine Rettung notwendige Ausrüstung in Sicherheit zu bringen.«
Erniedrigende Behandlung der Überlebenden
Die Überlebenden wurden von der griechischen Küstenwache auf die Insel Farmakonisi gebracht, wo sie von griechischen Soldat*innen in Empfang genommen wurden. Sie durften sich nicht frei bewegen, sondern mussten sich – noch im Schockzustand – einer Leibesvisitation unterziehen und sich dafür vor mindestens 13 Personen in Eiseskälte ausziehen. Der EGMR stellt zu dieser Maßnahme eine Verletzung des Schutzes vor erniedrigender Behandlung fest: »Die Betroffenen befanden sich in einer extrem verletzlichen Situation: Sie hatten gerade einen Schiffbruch überlebt und einige von ihnen hatten ihre Angehörigen verloren. Sie befanden sich zweifellos in einer extremen Stresssituation und hatten bereits Gefühle von Schmerz und intensiver Trauer. Diese Leibesvisitationen beruhten nicht auf einer überzeugenden Notwendigkeit der Sicherheit, der Verteidigung der Ordnung oder der Verhinderung von Straftaten. Sie konnten bei den Beschwerdeführern ein Gefühl der Willkür, Minderwertigkeit und Angst hervorrufen […]«.
Keine effektive Untersuchung durch Griechenland
Der Gerichtshof äußert sich nicht zu der Frage, ob es sich bei den Maßnahmen der griechischen Küstenwache um einen versuchten Pushback in Richtung Türkei gehandelt hat. Die Überlebenden berichten, dass sie bereits die Lichter der Häuser auf dem türkischen Festland gesehen haben und in diese Richtung bei stürmischer See mit voller Kraft gezogen wurden. Die Küstenwache behauptet, dass sie das Boot retten wollte und es langsam in Richtung Farmakonisi geschleppt habe. Das Boot sei dann gesunken, weil die Insass*innen in Panik geraten seien.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte lässt in seinem Urteil diese Frage unbeantwortet, weil ihm dazu die notwendigen Informationen fehle – »in Ermanglung einer gründlichen und effektiven Untersuchung durch die nationalen Behörden«.
Die erste Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat in ihrem Urteil vom 07. Juli 2022 einstimmig festgestellt, dass:
- die griechische Küstenwache bei ihrer Operation gegen das Recht auf Leben der Beschwerdeführer verstoßen hat (Verletzung von Art. 2 EMRK),
- die Überlebenden bei Ankunft auf griechischem Boden einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt waren (Verletzung von Art. 3 EMRK),
- die griechischen Behörden nicht angemessen auf die Vorwürfe der Überlebenden reagiert und nicht die notwendigen Ermittlungen zur Klärung der Ursache und der Verantwortlichen eingeleitet haben (Verletzung von Art. 13 EMRK).
Der griechische Staat muss den Überlebenden eine Entschädigung von insgesamt 330.000 Euro zahlen. Eine Pressemitteilung des EGMRs zu dem Urteil finden Sie hier.
Aufarbeitung ? Fehlanzeige
Unstrittig aber sind die Tatsachen, dass niemand der Schutzsuchenden eine Rettungsweste erhielt, dass nach dem ersten Abschleppversuch ein Teil aus dem Boot brach und trotzdem ein weiterer Abschleppversuch eingeleitet wurde, dass das Boot erst nach der Intervention durch die Küstenwache sank und dass zu spät Hilfe angefordert wurde. Allein diese offensichtlichen Fakten und der Tod von elf Menschen hätten zu einer ernsthaften Aufarbeitung des Falls durch die griechischen Behörden und zu personellen Konsequenzen bei den Verantwortlichen führen müssen.
Aber weit gefehlt: Ein noch im Januar 2014 eingeleitetes Strafverfahren gegen die Küstenwache wies erhebliche Mängel auf. Frappierend! Es existieren keine technischen Aufzeichnungen vom tödlichen Einsatz: keine GPS- und Radaraufzeichnungen, keine Dokumentation der Telefon- und Funkkommunikation, keine Foto- oder Filmaufnahmen. Nach Angaben der Grenzagentur Frontex wurden auch keine Daten im neuen Grenzüberwachungssystem EUROSUR eingespeist. Zudem gab es erhebliche Probleme bei der Aufnahme der Zeug*innenaussagen. Ein dolmetschender Küstenwachbeamter, der später zugab, die Sprache der Überlebenden nicht zu beherrschen, gab in seiner Übersetzung an, dass das Schiff durch plötzliche Bewegung der Passagiere gesunken sei. Obwohl die Überlebenden das abstritten und auf die Verständigungsprobleme mit dem Dolmetscher hinwiesen, wurde diese Aussage als integraler Bestandteil der Fallakte behandelt. Giorgos Tsarbopoulos, ehemaliger UNHCR- Chef in Griechenland, kritisiert zudem: »Der UNHCR wurde von der Staatsanwaltschaft nie als Zeuge vorgeladen, obwohl er die ersten Zeugenaussagen von Menschen gesammelt und sie einige Tage später wortwörtlich an den Minister weitergeleitet hatte, mit der Bitte um eingehende Untersuchung.«
Zu den Akten gelegt
Der zuständige Staatsanwalt beim griechischen Seegericht stellte das Verfahren bereits im Juni 2014 ein, und zwar mit der alleinigen Begründung, dass Pushbacks in türkische Hoheitsgewässer als Praxis nicht existierten. Es sei daher »unnötig und überflüssig«, die Behauptungen der Überlebenden zu berücksichtigen, da ihre Version der Ereignisse auf der Annahme beruhe, dass ihr Boot Richtung Türkei geschleppt worden sei.
Mangels Aufarbeitung durch die griechische Justiz reichten ein Jahr nach dem Vorfall 14 der 16 Überlebenden, mit einem Anwaltsteam und unterstützt von PRO ASYL, Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein.
Täter-Opfer-Verkehrung
Während die griechischen Behörden die Suche nach der Verantwortung von griechischen Beamt*innen einstellten, konzentrierten sie sich auf ein Verfahren gegen einen damals 21-jährigen syrischen Flüchtling, den sechzehnten Überlebenden. Man warf ihm vor, dass er das Boot gelenkt und das Bootsunglück verursacht habe. Er selbst beteuerte seine Unschuld und auch die anderen Überlebenden betonten: Er ist ein Flüchtling, wie wir. Es gab überhaupt keinen Schlepper an Bord.
Trotzdem wurde er als angeblicher Kapitän des Bootes für den Tod der elf Menschen zu einer Haftstrafe von 120 Jahren und drei Monaten sowie zu einer Geldstrafe von 570.050 Euro verurteilt. Obendrauf kam eine Haftstrafe von 25 Jahren für den angeblichen illegalen Transport. Seit dem Urteil befand er sich in Jugendhaft. Erst im Berufungsverfahren wurde er am 26. Juni 2017 vom Gericht in Rhodos von der Verantwortung für den Tod der elf Opfer freigesprochen. Niemand an Bord des Bootes hätte den tödlichen Ausgang verhindern können, so das Gericht. Zudem wurde seine Strafe wegen des angeblich illegalen Transports auf zehn Jahre herabgesetzt. Kurze Zeit später kam er frei.
Griechenlands menschenverachtende Grenzpolitik
Die Situation in Griechenland ist besonders seit März 2020 geprägt von Gewalt und Pushbacks in einer bisher ungekannten Systematik. Laut Recherchen mehrerer Organisationen erlitten seit 2020 fast 27.500 Flüchtlinge in der Ägäis einen »Driftback«, eine Variante von Pushbacks, bei dem Schutzsuchende auf dem Meer meist durch die griechische Küstenwache einfach ausgesetzt werden. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex ist in solche Pushback-Praktiken und in ihre Verschleierung immer wieder involviert. Diese eklatanten Menschenrechtsverletzungen und schweren Straftaten bleiben in der Regel ungesühnt, die Zeug*innen und Überlebenden völlig ungeschützt.
In Griechenland existiert eine Krise der Rechtsstaatlichkeit. Zudem herrscht ein Klima der Angst. Die gezielte Einschüchterung von Rechtsanwält*innen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Journalist*innen und sogar von UNHCR-Personal durch griechische Sicherheitskräfte verschärft die Situation. Und Migrationsminister Notis Mitarakis reagiert auf Medienberichte über tote Flüchtlinge immer wieder mit Vorwürfen gegen die Türkei und die Medien – ohne eigene Untersuchungen einzuleiten.
Was aus dem Urteil folgen muss
Anwältin Marianna Tzeferakou, die für die griechische Partnerorganisation von PRO ASYL arbeitet, hat gemeinsam mit einem Anwält*innen-Team bereits ein paar Tage nach dem Schiffbruch das Mandat für die Überlebenden übernommen. Sie zeigt sich mit dem aktuellen Urteil des EGMR zufrieden: »Ein Stück Gerechtigkeit. Klar ist jedoch, dass Pushback ‑Praktiken, die bis heute umgesetzt werden, nicht auf Initiative einiger Offiziere der Küstenwache geschehen. Die Befehle kommen von ganz oben in der Hierarchie.«
»Deshalb ist das Farmakonisi-Urteil so wichtig. Es geht nicht nur um die Rechte der Flüchtlinge, sondern dieses Urteil betrifft uns alle. Es geht um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Werte unserer Gesellschaft.«
Sie verweist darauf, dass in Straßburg mehrere Fälle anhängig sind, die Pushbacks, einschließlich Fälle von Schusswaffengebrauch oder Gewalt durch Offiziere der Küstenwache, umfassen. »Das Muster ist immer das Gleiche«, so Tzeferakou. »Es gibt keine effektive Untersuchung. Deshalb ist das Farmakonisi-Urteil so wichtig. Es geht nicht nur um die Rechte der Flüchtlinge, sondern dieses Urteil betrifft uns alle. Es geht um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Werte unserer Gesellschaft.«
PRO ASYL fordert schon lange, dass der tödlichen Grenzpolitik Griechenlands Einhalt geboten werden muss. Doch die EU-Kommission, die sich angesichts der Brutalität an den Außengrenzen zwar regelmäßig tief betroffen zeigt, bleibt bislang tatenlos. Dabei wäre es dringend geboten, dass sie Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland und andere Staaten, die an ihren Außengrenzen die Menschenrechte eklatant verletzen, einleitet.
Außerdem braucht es einen verlässlichen Überwachungsmechanismus an den EU-Außengrenzen, durch den gewährleistet wird, dass Menschenrechtsverletzungen sofort erkannt, zeitnah aufgebarbeitet und strafrechtlich verfolgt werden. Solange schwere Straftaten ungesühnt bleiben, oder – wie im vorliegenden Fall – erst nach über acht Jahren das höchste europäische Gericht das Unrecht überhaupt feststellt, gibt es keine Abschreckungswirkung. In einer von der Stiftung PRO ASYL mitfinanzierten Studie wurden dem EU-Parlament im Mai 2022 bereits Vorschläge zur Einrichtung eines solchen unabhängigen Menschenrechtsmechanismus an den EU-Außengrenzen unterbreitet.
»Was die Leute uns angetan haben, kann ich nicht vergessen […] Wenn ich auf der Straße Kinder sehe, die im gleichen Alter sind, wie mein Sohn zuletzt war, mit ihrer Mutter oder mit ihrem Papa, sticht mir das ins Herz.«
Der Überlebende Abdulsabor A. wünscht sich, dass »diese Leute […] nie wieder eine Uniform tragen, damit sie ein solches Verhalten nicht wiederholen. Ich möchte, dass die Verantwortlichen verhaftet werden. Was die Leute uns angetan haben, kann ich nicht vergessen.« Und er fügt hinzu: »Wenn ich auf der Straße Kinder sehe, die im gleichen Alter sind, wie mein Sohn zuletzt war, mit ihrer Mutter oder mit ihrem Papa, sticht mir das ins Herz. Ich kann die ganze Liebe, die ich für meine Frau und für meinen Sohn empfinde, nicht vergessen.«
Für PRO ASYL und die Angehörigen ist das Urteil aus Straßburg wegweisend. Es ist eine sehr späte Form der Gerechtigkeit und wichtiger Schlag gegen die Kultur der Straflosigkeit an Europa Außengrenzen.
PRO ASYL hat die Überlebenden von Anfang an mit rechtlichem und humanitärem Beistand begleitet und ihre Klagen auf nationalstaatlicher Ebene und vor dem Menschenrechtsgerichtshof unterstützt.
(fw, kk)