Das Mittelmeer ist ein Massengrab. Allein seit dem 1. Januar 2014 haben dort nach UN-Angaben 18.892 Menschen ihr Leben verloren (Stand 11. Oktober 2019). Sie starben bei dem Versuch, über das Meer nach Europa zu gelangen.
Die Rechte der geflüchteten Menschen spielen in der Debatte immer weniger eine Rolle. Sie drohen mehr und mehr der Gleichgültigkeit anheim zu fallen – dabei entspricht es dem Selbstverständnis und der Pflicht der Staatengemeinschaft Europas, das Recht auf Leben eines jeden Menschen zu schützen. Dazu gehört auch die Seenotrettung.
Erregte das alltägliche Sterben von Männern, Frauen und Kindern vor unserer Haustür in den Jahren bis 2015 noch Entsetzen und Fassungslosigkeit, schaut die europäische Öffentlichkeit heute kaum noch hin. Stattdessen überbieten sich deutsche und europäische Politiker mit Vorschlägen, wie man die Tore Europas vor ungebetenen Schutzsuchenden endgültig verschließen könnte.
Die Seenotrettung ist eine menschenrechtliche und völkerrechtliche Verpflichtung und ein ehernes Gesetz der Seefahrt. In zahlreichen seerechtlichen Abkommen haben sich die Staaten verpflichtet, Menschen in Seenot zu retten und sie in sichere Häfen zu verbringen. Zentral ist Art. 98 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (SRÜ):
»Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes, jeder Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten«.
Der Staat muss auch Handelsschiffe effektiv unterstützen, die an Seenotrettungsmaßnahmen beteiligt sind.
»Mit den Stunden, die vergingen, konnten sich immer mehr von uns nicht mehr über Wasser halten, einer nach dem anderen sank und tauchte nicht mehr an der Wasseroberfläche auf.«
Europa missachtet Menschenrechte
Niemand setzt sich leichtfertig auf ein marodes Boot. Niemand setzt ohne schwerwiegenden Grund alles aufs Spiel, sogar das eigene Leben und das der eigenen Kinder. Auch heute noch ist die mit Abstand größte Gruppe unter den Bootsflüchtlingen diejenige der Menschen aus dem syrischen Bürgerkrieg. Aus den Hauptherkunftsländern von Asylsuchenden – Syrien, Irak, Nigeria, Afghanistan – fliehen Menschen vor verbreiteter und nicht selten fürchterlicher Gewalt.
Und was tut die EU? Anstatt die Verzweifelten aus dem Meer zu retten und in einen sicheren Hafen nach Europa zu bringen, setzt sie auf Abschreckung und Zurückweisung:
Kooperation mit brutalen Partnern
Angestrebt wird, Flüchtlinge möglichst von Europa fernzuhalten und in Drittstaaten außerhalb Europas zu bringen. Dabei schreckt die EU vor keinem Partner zurück: So lässt die EU Flüchtlinge von der libyschen Küstenwache, die von brutalen Milizen durchsetzt ist, abfangen. In Libyen werden zehntausende Geflüchtete in illegalen Gefangenenlagern festgehalten. Das Geschäft mit Entführungen und Lösegelderpressungen blüht, Geflüchtete werden in großer Zahl gefoltert, versklavt, verkauft und ermordet. Über die Zustände in Libyen wurde inzwischen vielfach berichtet, selbst deutsche Diplomaten beklagten »KZ-ähnliche Zustände«.
Seit einiger Zeit lässt die EU besonders schutzbedürftige Menschen nach Niger evakuieren – in eines der ärmsten Länder der Welt. Das Versprechen, einige zehntausend der Flüchtlinge nach Europa zu bringen, wurde bislang nicht eingelöst.
»Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte…«
Kriminalisierung von Retter*innen
Lebensretter werden unter Druck gesetzt: Seit einiger Zeit werden die humanitär und meist ehrenamtlich arbeitenden Seenotretter*innen als Schleppergehilfen in der Öffentlichkeit diffamiert und kriminalisiert. Alle Seenot-Organisationen wurden genötigt, einen von der italienischen Regierung erstellten Verhaltenskodex zu unterzeichnen, der ihre Arbeit erschwert und internationalem Seerecht widerspricht. Italien hat bereits Schiffe privater Rettungsorganisationen beschlagnahmt, mehrfach wurden Lebensretter als Schlepper vor Gericht gestellt. Immer wieder wird Schiffen, die aus Seenot Gerettete an Bord haben, in europäischen Häfen die Anlandung verweigert.
Elendslager statt Zusammenarbeit auch in Europa
Geflüchtete, die es trotz allem nach Europa geschafft haben, werden unter menschenunwürdigen Bedingungen monatelang in Massenlagern (»Hotspots«) in Italien und Griechenland festgehalten.
Immer mehr Staaten Europas versuchen, sich der Verantwortung für die Flüchtlinge zu entziehen. Eine solidarische Aufnahme der Flüchtlinge durch die europäischen Staaten ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Mit dem geplanten Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) soll das Recht auf Asyl in Europa untergraben werden.
Am Umgang mit Flüchtlingen zeigt sich, wie verlässlich das Versprechen Europas ist, die Menschenrechte einzuhalten.
Für ein rechtsstaatliches und solidarisches Europa!
Im Artikel 2 des Vertrags der Europäischen Union heißt es: »Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte …«
Die gegenwärtige Politik der EU-Mitgliedsstaaten ignoriert dieses Bekenntnis und bricht das Völkerrecht. Dies geht uns alle an: Am Umgang mit Flüchtlingen zeigt sich, wie verlässlich das Versprechen Europas ist, die Menschenrechte einzuhalten.
Das Sterbenlassen von Menschen an den Außengrenzen Europas und ihre Abschiebung in Folter und Tod gehören zu den dunkelsten Kapiteln der europäischen Politik. Die Abschottung und der Versuch der EU-Mitgliedstaaten, die Flucht- und Migrationskontrolle in Transit- und Herkunftsländer zu verlagern, sind verantwortungslos und menschenverachtend.
Wir wollen ein Europa, das sich seiner historischen und aktuellen Verantwortung stellt.
Wir fordern
- Eine zivile europäische Seenotrettung
- Sichere und legale Zugangswege nach Europa
- Eine menschenwürdige Aufnahme
- Schutz für Flüchtlinge in einem solidarischen Europa