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»Ich hatte nie die Absicht, Afghanistan zu verlassen«
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Esmatullah Saedi* kam im September 2021 nach Deutschland, er hatte als Ortskraft für die GIZ gearbeitet. Mithilfe von PRO ASYL gelang seine Aufnahme. Doch Tausende weitere Ortskräfte harren unter Lebensgefahr in Afghanistan aus. Die deutsche Regierung muss die versprochene Reform des Ortskräfteverfahrens endlich anpacken.
Sie wurden aufgrund Ihrer Tätigkeit über viele Jahre hinweg von den Taliban bedroht; angefangen hat das schon 2014. Trotzdem haben Sie für die GIZ weitergearbeitet. Warum?
Es war eine gute Arbeit. Die Afghanen, mit denen wir zusammengearbeitet haben, haben es geschätzt, dass wir sie dabei unterstützten, ein eigenes kleines Business aufzubauen. Und es lief ja auch eine ganze Weile alles gut. Dass sich die Situation dann innerhalb kurzer Zeit so verschlechtert hat, kam für uns alle überraschend. Aber es stimmt, ich wurde schon viele Jahre bedroht und war deshalb nur noch eingeschränkt im Land unterwegs. Auch meine Kinder wurden jeden Tag von einem Fahrer zur Schule gebracht und wieder abgeholt, damit sie nicht auf dem Schulweg gekidnapped werden. Die Taliban haben meinen Bruder umgebracht, und ich konnte noch nicht mal zu seiner Beerdigung gehen, weil sie sonst auch mich geschnappt hätten. Das war schlimm für mich.
War Ihnen bewusst, auf was Sie sich da einlassen, als Sie die Arbeit bei der GIZ begonnen haben?
Naja, lange hatte ich noch die Möglichkeit, innerhalb des Landes relativ problemlos zu reisen. Aber seit 2015 wurde es schwieriger. Dass ich von den Taliban bedroht wurde, lag nicht nur an meiner Arbeit für die GIZ und dass sie die aus ideellen Gründen ablehnen. Afghanen, die in höheren Positionen für internationale Organisationen tätig waren, wurden vergleichsweise gut bezahlt – und sind deshalb auch aus finanziellen Gründen interessant für Kriminelle. Es gibt ja nicht nur die Taliban, sondern auch andere kriminelle Gruppen. Die schrecken vor nichts zurück. Sie entführen sogar Kinder und fordern Lösegeld, und es kommt vor, dass das gezahlt wird und sie die Kinder trotzdem töten.
Sie haben zehn Jahre für die GIZ in Afghanistan gearbeitet. Was war Ihre Aufgabe?
Nach meinem Uni-Abschluss habe ich zunächst zwei Jahre lang für die Organisation terre des hommes im Bereich der ländlichen wirtschaftlichen Entwicklung gearbeitet. Dann bin ich zur GIZ gegangen und war dort Projektkoordinator. Ich habe Menschen in ländlichen Gebieten unterstützt, die von Naturkatastrophen wie Dürren, Flutwellen und Stürmen betroffen waren. Unser Ziel war, ihnen dabei zu helfen, ein eigenes Geschäftsmodell zu entwickeln. Sie wurden unterstützt, landwirtschaftliche Produktions- und Verarbeitungsanlagen aufzubauen, damit sie wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen. Wir haben insbesondere Frauen unterstützt. Das Projekt half auch dabei, den Ruf der deutschen Regierung im Norden Afghanistans zu verbessern. Denn dadurch wurde deutlich, dass die Deutschen nicht nur im militärischen Bereich engagiert sind, sondern auch sozio-ökonomische Perspektiven bieten.
Als die Taliban das Zentrum meines Distrikts erobert hatten, war mir klar: »Jetzt müssen wir hier raus.«
Trotz der Gefahr haben Sie Ihre Arbeit gerne gemacht?
Ja, ich mochte meinen Job wirklich. Es ging darum, dass meine Landsleute eigenständig ihr Leben in die Hand nehmen und sich selbst eine Zukunft aufbauen. Das hat mich motiviert und das finde ich nach wie vor vielversprechend. Das Gute ist: Selbst jetzt, wo die Taliban an der Macht sind und die höherrangigen GIZ-Mitarbeiter das Land verlassen haben, laufen die lokalen Aktivitäten weiter, weil die Basis noch da ist und die Gemeinschaftsstrukturen, die wir aufgebaut haben, tragen.
In Ihrem Gefährdungsschreiben, das Sie im Sommer 2021 an PRO ASYL geschickt hatten, berichten Sie, dass Sie darauf vertraut hätten, die afghanische Regierung sei stark genug, sich den Taliban entgegenzustellen. Dieses Vertrauen wurde enttäuscht…
Als die Taliban das Zentrum meines Distrikts erobert hatten, war mir klar: »Jetzt müssen wir hier raus.« Das war im Juni 2021. Da begriff ich, dass es keine Hoffnung mehr gibt. Ich wusste, dass ich nicht überleben würde, wenn ich in Afghanistan bleibe. Durch Zufall bin ich bei einer Google-Recherche auf PRO ASYL gestoßen und habe eine E‑Mail geschrieben. Kurze Zeit später erhielt ich eine Antwort – glücklicherweise, denn ich stand unter enormem Druck. PRO ASYL hat mich sehr unterstützt, dafür bin ich dankbar. Ich hatte mich auch an meinen Arbeitgeber gewandt, die GIZ, aber von dort bekam ich die Antwort, dass sie mir nicht wirklich helfen könnten, es würde alles von der deutschen Regierung abhängen.
Es war wirklich keine leichte Entscheidung für mich, zu gehen. Ich hatte ganz andere Pläne.
Ende Juni haben Sie Ihrem GIZ-Vorgesetzten geschrieben, dass Sie Ihr Zuhause verlassen und aus Sicherheitsgründen nach Kabul ziehen müssten, von dort aber weiterarbeiten würden. Warum haben Sie nicht zu diesem Zeitpunkt schon eine Gefährdungsanzeige bei der GIZ gestellt?
Das hatte mehrere Gründe. Ich hatte große Hoffnungen in die Friedensverhandlungen in Doha, Katar, gesetzt, und wir hatten erwartet, dass wir eine Einigung über die Bildung einer Einheitsregierung erzielen würden, und ich dachte, bis dahin wäre es in der Hauptstadtsicher. Und so war der Plan, dass ich mit meiner Familie zunächst in Kabul bleibe. Ich war optimistisch, dass Afghanistan eine bessere und hellere Zukunft bevorsteht. Ich hatte nie vor, mein Land zu verlassen. 2011 war ich einmal in Deutschland gewesen, im Rahmen eines GIZ-Trainingskurses. Einige Leute sagten damals: » Bleib doch da! « Ich habe ihnen geantwortet: »Was sagt ihr da? Warum sollte ich?« Vor zehn Jahren war die Situation in Afghanistan für mich gut. Selbst vor einem Jahr wäre meine Antwort noch negativ gewesen, wenn mich jemand gefragt hätte, ob ich das Land verlassen will. Es war wirklich keine leichte Entscheidung für mich, zu gehen. Ich hatte ganz andere Pläne.
Welche Pläne hatten Sie?
Ich hatte mich für einen zweiten Masterstudiengang an der American University eingeschrieben und studierte im dritten Semester Business Administration and Management. Mein Plan war, mich danach für einen Regierungsposten zu bewerben. Aber als die Taliban nach und nach alle größeren Städte unter ihre Kontrolle brachten, war klar, dass es so nicht weitergeht. Es kam aber noch ein weiterer Grund hinzu, weshalb ich nicht früher eine Gefährdungsanzeige gestellt habe – nämlich der, dass die GIZ viel Druck ausgeübt hat auf ihre Mitarbeiter.
»In unseren Arbeitstreffen hat die obere Führungsebene der GIZ sehr klar kommuniziert, dass jeder Arbeitsvertrag sofort beendet werden würde, sobald jemand eine Gefährdungsanzeige stellt.«
Inwiefern?
In unseren Arbeitstreffen hat die obere Führungsebene der GIZ sehr klar kommuniziert, dass jeder Arbeitsvertrag sofort beendet werden würde, sobald jemand eine Gefährdungsanzeige stellt. Und nach den internen Regeln der GIZ kann man sich frühestens zweieinhalb Jahre später erneut bewerben, wenn der Vertrag aufgelöst wird. Na, und so einfach gibt man seine Arbeit nicht auf.
Sie haben Afghanistan dann zusammen mit Ihrer Familie frühzeitig verlassen und sind zunächst nach Pakistan gegangen. Was war das für ein Gefühl, alles aufzugeben?
Das Einzige, was mir in den Kopf kam, war, das wir irgendwie überleben müssen. Wir hatten keine andere Möglichkeit. Die Taliban hatten da schon angefangen, Häuser zu durchsuchen nach »Verrätern«. Bevor sie die großen Städte und die Hauptstadt eroberten, haben sie mich aufgefordert, ihnen meinen ältesten Sohn als Kämpfer zu überlassen. Wir sind im Juli nach Pakistan geflohen und im September nach Deutschland gekommen. Es ging so rasend schnell, dass die Regierung zusammenbrach und es keinerlei Strukturen mehr gab – ich war schockiert, das zu erleben. Für sehr viele Menschen gibt es keine Zukunft mehr in Afghanistan. Die Taliban sagen: »Alle Menschen, die in den vergangenen zwanzig Jahren unter der ‚westlichen Besatzung‘ studiert haben, sind nutzlos für das Land. « Über einhundert ehemalige Regierungsbeamte wurden umgebracht. Journalisten, Aktivisten und Frauen, die ihre Stimme erheben, werden entführt, willkürlich eingesperrt oder schlimmeres. Gegenüber dem Westen bestreiten die Taliban das und geben sich ahnungslos. Niemand will dafür verantwortlich sein. Und da es kein funktionierendes Rechtssystem mehr gibt, wird auch niemand zur Rechenschaft gezogen.
Im Januar 2022 hat das BMZ behauptet, dass Ortskräfte der Entwicklungszusammenarbeit gar nicht verfolgt werden – zumindest sei das nicht nachprüfbar. Was löst es in Ihnen aus, das zu hören?
Das Problem ist, dass die GIZ nach der Vertragsart geht. Ich habe mit vielen Kollegen zusammengearbeitet, die Subunternehmer waren oder Werkverträge hatten und deshalb keine Chance auf eine Aufnahmezusage haben. Aber die Bedrohung durch die Taliban richtet sich nicht nach der Art des Vertrags. Die Personen, die Polizeikräfte alphabetisiert haben, sind zum Beispiel höchstgefährdet, auch wenn sie nicht direkt bei der GIZ angestellt waren. Problematisch ist auch, dass Kinder über 18 ausgeschlossen sind – sie müssen zurückbleiben, wenn die Familie eine Aufnahmezusage erhält. Für einige junge Frauen wurden wohl immerhin in letzter Zeit Ausnahmen gemacht. Es gibt aber noch weitere Probleme: Viele meiner früheren Kollegen haben weder einen Pass noch ein Visum für eines der Nachbarländer. Da nützt ihnen auch eine deutsche Aufnahmezusage nichts, sie kommen einfach nicht raus aus Afghanistan.
Sind Sie aufgrund dieses Umgangs mit den Ortskräften von der GIZ enttäuscht?
Nein. Ich habe viel gelernt in den Jahren, in denen ich für die GIZ gearbeitet habe. Ich bin dankbar für die Möglichkeiten: Für die Trainingskurse, für die Reisen innerhalb des Landes, für die Erfahrungen, die ich gesammelt habe. Vor allen Dingen habe ich etwas für die Menschen getan. Die sind dankbar dafür, und das ist ein guter Lohn für mich. Man muss auch verstehen, dass die GIZ all die Projekte nicht einfach aufgeben wollte, all das, was in jahrelanger Arbeit entstanden ist. Natürlich hat sie ein Interesse daran, dass das fortgesetzt wird, und dafür sind Leute nötig. Aber die Gefahr ist groß.
Seit September sind Sie mit Ihrer Frau und Ihren fünf Kindern in Deutschland. Haben Sie das Gefühl, in Hessen schon ein bisschen angekommen zu sein, oder ist noch alles fremd?
Für mich war es nicht so schwierig, ich kenne ja die westliche Kultur durch meine Arbeit gut. Aber für meine Frau ist es schwer. Die Kinder gehen nun zur Schule, ich mache einen Sprachkurs, und meine Frau wird auch bald einen beginnen. Wir wurden in eine Unterkunft gesteckt mit lauter Afghanen. Einerseits hilft das, weil wir so nicht alleine sind und mit denen zusammen leben, die unsere Kultur teilen. Aber es ist wichtig für uns, Deutsch zu lernen und uns in die Gesellschaft zu integrieren. Und das ist schwierig, wenn man in einer Flüchtlingsunterkunft lebt.
Sie hatten in Afghanistan eine leitende Position inne, gehörten zur Mittelschicht, nun müssen Sie hier ganz von vorne beginnen…
In der Unterkunft alles teilen zu müssen und keinen Rückzugsraum für sich zu haben, ist nicht einfach. Es gibt auch viele Vorschriften von der Einrichtungsleitung. Wir dürfen unsere Zimmer zum Beispiel nicht dekorieren, uns nicht so einrichten, wie wir möchten, nichts verändern. Da stehen Betten und das war’s – in Afghanistan sind wir aber zum Beispiel gewohnt, auf Matten auf dem Boden zu schlafen. Hinzu kommt, dass die gemeinsame Nutzung von Küche, Dusche und Waschmaschinen auch ihre Komplikationen mit sich bringt. Menschen verhalten sich unterschiedlich, und es ist nicht immer einfach, damit umzugehen. Aber eine eigene Wohnung zu finden für eine siebenköpfige Familie wie meine ist extrem schwer. Die Deutschen geben ihre Wohnungen nicht an Neuankömmlinge wie uns, erst recht nicht, wenn man keinen Arbeitsvertrag vorweisen kann. Im Rathaus haben sie mir gesagt, dass es Jahre dauern kann, bis wir aus der Sammelunterkunft rauskönnen. Damit müssen wir klarkommen. Ich denke, die Sprache zu sprechen, ist der Schlüssel. Das braucht seine Zeit.
Was würde Ihnen darüber hinaus Teilhabe ermöglichen?
Arbeit! Deutschland sollte den Flüchtlingen ermöglichen, sich schnell in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Und dafür brauchen die Flüchtlinge eine Art Tutor, jemand, der sie dabei unterstützt, der ihre Fähigkeiten erkennt. Die allermeisten Menschen wollen doch arbeiten. Nur zuhause zu sitzen, ohne etwas tun zu dürfen, da fühlt man sich wirklich nutzlos. Dieses Nichtstun führt dazu, dass man von der Gesellschaft als minderwertig angesehen wird und sich irgendwann auch selbst so fühlt. Ohne Arbeit kann man sich kein besseres Leben aufbauen. Deshalb ist es so wichtig, dass es Unterstützungsmöglichkeiten gibt für Flüchtlinge, ein Netzwerk.
Was sind Ihre Träume und Ziele für ein Leben in Deutschland?
Ich wünsche mir, das zu erreichen, was ich in Afghanistan hatte: Eine gute Arbeit, ein Haus, ein geregeltes Leben. Ich hoffe, meine Kinder werden die Schule gut abschließen und dann studieren oder eine Ausbildung machen. Ich möchte wieder positiver und erfolgreicher sein als jetzt. Im Moment befinde ich mich in einer Zwischenphase, aber ich denke die Schwierigkeiten, mit denen ich konfrontiert bin, werde ich meistern. Mein Ziel ist, ein aktiver Teil der Gesellschaft zu werden.
(er; tl)
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