News
»Meine Familie hat ein neues Leben geschenkt bekommen«
Zwischen den vielen schrecklichen Nachrichten aus Afghanistan blinkt manchmal auch ein Funken Freude auf: Auch mithilfe von PRO ASYL ist es einer besonders gefährdeten afghanischen Familie gelungen, nach Deutschland zu kommen. Im Interview erzählt der Familienvater von seinem Glück.
Seit zwei Jahren lebt der afghanische Journalist Hussein Sirat, der in Kabul für die Deutsche Welle arbeitete, in Deutschland. Er ist als Flüchtling hier anerkannt. Doch seine Frau, die vier Töchter und der kleine Sohn waren extrem gefährdet in Afghanistan. Als Mitte August die Taliban auch in Kabul die Macht an sich rissen, wurde die Situation für Hussein Sirats Familie lebensgefährlich. Sie wechselten dauernd die Wohnung, lebten im Verborgenen, die Kinder konnten nicht mehr zur Schule gehen, denn die Taliban verfolgen auch Familienmitglieder. Für Hussain Sirat waren es Monate des Wartens, Zitterns und Bangens.
PRO ASYL hat ihn in dieser Zeit engmaschig begleitet und unterstützt. Bereits im Sommer erzählte er uns von den schrecklichen Wochen und Monaten des Wartens; damals noch unter Pseudonym, aus Angst um das Leben seiner Familie. Nun ist diese hier – und Hussein Sirat überglücklich. Dass eine Evakuierung tatsächlich geklappt hat, ist leider die Ausnahme. Denn ein Bundesaufnahmeprogramm für besonders gefährdete Afghan*innen wurde abrupt Ende August gestoppt und jene, die seit vielen Jahren auf den Familiennachzug warten, haben derzeit kaum Chancen, dass ihre Fälle zügig bearbeitet werden – trotz der veränderten politischen Situation seit der Machtübernahme durch die Taliban.
Als Journalist haben Sie kritisch über die Taliban berichtet und standen auf deren Feindesliste weit oben. Auch Ihre Familie war aufgrund Ihrer Arbeit gefährdet. Sie hatten das Glück, Mitte August auf der Evakuierungsliste des Auswärtigen Amts zu landen. Was ist dann passiert?
Erst mal gar nichts. Nur durch Zufall haben wir erfahren, dass meine Familie überhaupt auf der Liste steht. Als die Bundeswehr Menschen evakuierte, haben wir jeden Tag darauf gewartet, dass wir einen Anruf oder eine Whatsapp-Nachricht erhalten. Aber es kam nichts. Und dann hieß es: Keine weiteren Evakuierungsflüge mehr. Da habe ich gedacht: »Das war’s. Jetzt haben wir keine Chance mehr.« Meine 14-jährige Tochter hat nur geweint, weil sie dachte, sie könne nie mehr zur Schule gehen.
»Sie haben alle Fotos von mir, die sie auf ihren Handys hatten, zur Sicherheit gelöscht, damit die Taliban sie nicht finden.«
Im Oktober gelang Ihrer Familie die Flucht nach Pakistan. Sie selber waren zu dem Zeitpunkt bereits in Deutschland. Was ging Ihnen durch den Kopf, als der Morgen der Abreise gekommen war?
Ich hatte große Hoffnung und große Angst. Vorher hatten meine Frau und Töchter noch fünf lange, schwarze Burkas gekauft. Als Frauen alleine unterwegs, das ist gefährlich in Afghanistan. Ich hatte außerdem Angst, dass die Taliban sie bei Kontrollen erkennen würden als Familie, deren Mann und Vater für den Westen gearbeitet hat.
Ich habe ihnen deshalb gesagt, dass sie alle Dokumente, die belegen, dass ich für die Deutsche Welle gearbeitet habe, zurücklassen sollen. Nur das Wichtigste mitnehmen: Pässe, Visa, Tazkira. Sie haben alle Fotos von mir, die sie auf ihren Handys hatten, zur Sicherheit gelöscht, damit die Taliban sie nicht finden. Viel mitnehmen durften sie sowieso nicht – nur 15 Kilo pro Person. Meine Frau ist mittlerweile schon ein bisschen traurig, dass sie ihre schönen Kleider zurücklassen musste. Aber in diesem Moment war das nicht wichtig, da zählte nur, rauszukommen.
Wie ging es Ihrer Frau und Ihren Kindern in dieser Situation?
Unser Sohn war total übermüdet, er hatte kaum geschlafen die Nacht vorher. Morgens um 5 ging es dann los, meine Familie war nicht die Einzige, die an diesem Tag aus dem Land gebracht wurde. Am Grenzübergang zwischen Afghanistan und Pakistan standen sie den ganzen Tag. Um 10 Uhr schrieb meine älteste Tochter mir, dass sie nun dort angekommen seien – und erst um 19 Uhr durften sie weiter. Ständig wurden die Dokumente von verschiedenen Leuten kontrolliert, dabei hatten sie alles dabei: Pässe, Visa für Pakistan, einen Brief von der Deutschen Botschaft und einen vom pakistanischen Innenministerium. Aber es hieß zuerst, sie dürften nicht nach Islamabad fahren. Während dieser ganzen Zeit durften sie den Bus nur ein einziges Mal verlassen, um kurz auf die Toilette zu gehen. Aber um Mitternacht waren sie dann endlich in Islamabad. Dass meine Familie tatsächlich rausgekommen ist, war eine riesige Erleichterung!
Eine Woche später durfte sie dann weiterfliegen nach Deutschland. Wie fühlte sich dieser Tag für Sie an?
Das Warten an diesem Tag war besonders schlimm. Nichts tun zu können außer zu warten! Ich mache gerade ein Praktikum in Bonn und wollte zum Flughafen fahren, um sie abzuholen. Sie sollten am Abend in Hannover landen, doch dann kam ich wegen eines Unwetters nicht zum Flughafen. Die Züge dorthin waren ausgefallen. Und ich hörte lange nichts von ihnen, wusste gar nicht, ob sie schon gelandet waren. Schließlich setzte ich mich in den Zug auf den Weg nach Hamburg, denn eigentlich sollte meine Familie in eine Kleinstadt da in der Nähe kommen.
Warum dorthin?
Dort bin ich gemeldet, dort habe ich eine Bekannte, die mich sehr unterstützt und ihr großes Haus für meine Familie zur Verfügung stellt. Sie hat alles vorbereitet, sogar genug Betten besorgt! Aber unterwegs im Zug bekam ich endlich eine Nachricht meiner Tochter. Und sie sagte mir, dass sie nun in ein Flüchtlingslager nach Mönchengladbach gebracht werden. Das war ein Missverständnis vonseiten des BAMF, aber ich stieg dann wieder aus, um zurückzufahren. Da war es schon mitten in der Nacht. Erst am nächsten Tag habe ich sie dann endlich wiedergesehen. Die Kinder sind so gewachsen! Ich habe gestaunt, dass meine älteste Tochter jetzt von ihren jüngeren Schwestern überragt wird. Ich habe sie am 26. Mai 2019 das letzte Mal gesehen gehabt.
»Ich bin PRO ASYL sehr, sehr dankbar für all die Hilfe! Hier stehen meiner Familie alle Wege offen. Meine Töchter können es kaum abwarten, wieder zur Schule gehen zu dürfen.«
Wie lief das Wiedersehen ab?
Es war sehr emotional. Nachdem die Taliban Kabul erobert hatten und die Bundesregierung die Evakuierungen gestoppt hat, habe ich es nicht mehr für möglich gehalten, dass sie nach Deutschland kommen können. Erst als ich sie gesehen haben, konnte ich es wirklich glauben. Es war ein ganz besonderer Moment. Meine Familie hat ein zweites Leben geschenkt bekommen. In Afghanistan hatten sie keine Schule mehr, keine Zukunft. Das ist wie ein langsamer Tod. Jetzt sind wir alle unendlich glücklich und froh. Und ich bin PRO ASYL sehr, sehr dankbar für all die Hilfe! Hier stehen meiner Familie alle Wege offen. Meine Töchter können es kaum abwarten, wieder zur Schule gehen zu dürfen. Und mein kleiner Sohn staunt über die schönen Autos hier, aber vor allem ist er fasziniert von den großen Traktoren.
Wie haben Sie die ersten Tage gemeinsam als Familie in Deutschland verbracht?
Gesehen haben wir uns alle in der Flüchtlingsunterkunft, an einem Freitag. Das Wochenende über sind dann meine Frau und unser Jüngster zu mir gekommen. Da ich in Bonn gerade ein Praktikum mache, habe ich nur eine kleine Wohnung dort, viel zu klein für uns sieben. Es war ja eigentlich geplant, dass wir alle zusammen in das Haus in den Norden ziehen. Also habe ich das erste Wochenende mit meiner Frau und dem 8‑jährigen Sahel verbracht. Die Mädchen sind im Flüchtlingsheim geblieben, sie sind das Wochenende drauf zu mir gekommen. Ich bin dann mit ihnen erstmal einkaufen gegangen, sie brauchen ja was zum Anziehen! Meine Frau und ich haben gekocht, wir waren einfach zusammen. Und Sahel hat mit dem neuen Spielzeug-Traktor gespielt, den ich ihm geschenkt habe. Ich möchte ihnen so viel zeigen, zum Beispiel mit ihnen in den schönen Parks in Deutschland spazieren gehen – endlich ohne Angst.
Durften sie mittlerweile in das Haus Ihrer Bekannten ziehen, in dem alles vorbereitet ist?
Ja, Ende Oktober sind meine Frau und die Kinder dorthin gezogen. Ich sehe sie momentan nur am Wochenende, weil ich ja unter der Woche in Bonn arbeite. Es war sehr schwer für mich, erst Zeit mit ihnen zu verbringen und sie dann wieder loszulassen. Aber es ist ja nicht so weit weg wie Afghanistan! Meine Bekannte, die mich so lieb unterstützt hat, will ein Willkommensfest organisieren. Dann wird es Musik geben und wir werden tanzen und lachen.
Sie und Ihre Liebsten sind nun in Sicherheit, aber Sie müssen sich ein komplett neues Leben hier aufbauen. Wie geht es Ihnen bei dem Gedanken an all das, was jetzt zu tun ist?
Die Hauptsache ist, dass wir jetzt hier in Sicherheit sind. Alles andere wird kommen. Meine Frau und meine Kinder müssen Deutsch lernen, aber den Kindern wird das leicht fallen, da bin ich sicher. In sechs Monaten werden sie Deutsch sprechen. Meine Frau wird es sicher etwas schwerer haben, denn anders als unsere Töchter spricht sie auch kein Englisch.
»Ich habe Jasemin gesagt, dass sie in Deutschland sogar Abgeordnete werden kann. Für uns ist Deutschland wie ein Paradies. Sie haben sechs Menschen gerettet. Für mich bedeutet das alles.«
Rechnen Sie damit, dass Sie irgendwann nach Afghanistan zurückgehen, oder richten Sie sich auf ein Leben hier ein?
Afghanistan ist Vergangenheit. Unsere Zukunft liegt hier in Deutschland. Ein neues Land, eine neue Kultur, eine neue Sprache. Meine Kinder haben Träume! Eine meiner Töchter malt sehr gut, aber sie konnte ihre Zeichensachen nicht mitnehmen, als sie Afghanistan verlassen haben. Nastaran will wieder malen. Und Jasemin, die jetzt 12 ist, interessiert sich sehr für Politik. Ich habe ihr gesagt, dass sie in Deutschland sogar Abgeordnete werden kann. Für uns ist Deutschland wie ein Paradies. Sie haben sechs Menschen gerettet. Für mich bedeutet das alles. Wir feiern ein neues Leben hier.
(er)