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Kein Entkommen aus Afghanistan?
Nur ein Bruchteil der gefährdeten Afghan*innen hat es auf die Evakuierungslisten geschafft. Weiterhin harren viele in Verstecken aus und suchen nach Fluchtmöglichkeiten - doch ein Staat nach dem anderen macht die Grenzen dicht. Ein Blick nach Griechenland über die Türkei in den Iran.
In den ersten acht Monaten 2021, während die NATO-Truppen nach fast 20 Jahren den Abzug aus Afghanistan vorbereiteten, waren nach Schätzungen des UNHCR eine halbe Million Menschen gezwungen, innerhalb Afghanistans zu fliehen. Die meisten hatten die Hoffnung, in Kabul der Taliban-Herrschaft zu entgehen – eine Hoffnung, die Mitte August bitter enttäuscht wurde. Bereits im Juli galten 3.5 Millionen Menschen als innerhalb des Landes vertrieben. Die Zahlen machen das Ausmaß der Fluchtbewegung deutlich, die mit den territorialen Gewinnen und letztlich der Machtübergabe an die Taliban einherging.
Für die EU-Innenminister gilt die eigenständige Flucht vor dem Taliban-Regime als »illegale Migration«, die sie durch die gezielte Zusammenarbeit mit Dritt- und Transitstaaten bekämpfen werden.
Viele Afghan*innen sind aufgrund der Zusammenarbeit mit ausländischen Truppen, Journalist*innen, NGOs oder Unternehmen unmittelbar gefährdet. Den Taliban gelten sie als Kollaborateure. Andere fürchten wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihres politischen Engagements oder Religion die Herrschaft der Extremisten. Erst vor ein paar Tagen haben die Taliban 13 Angehörige der Hazara-Minderheit getötet. Nur wenige Menschen haben bislang einen der begehrten Aufnahmeplätze erhalten. Die Flucht bleibt für die meisten überlebenswichtig.
Während die Ausweitung der Evakuierungsmaßnahmen ausbleibt, machten die Innenminister der EU deutlich, dass sie in der eigenständigen Flucht vor dem Regime der Taliban – bis vor kurzem noch bekämpft u.a. durch Truppen der EU-Mitgliedstaaten selbst – nichts weiter sehen als »illegale Migration«, die sie durch die gezielte Zusammenarbeit mit Dritt- und Transitstaaten bekämpfen werden (Vgl. Punkt 4). Eine typische Opfer-Täter-Umkehr.
Das Signal aus Brüssel steht in der Tradition der seit Jahren geschürten Abwehrpolitik. Der faktischen Schließung der EU-Außengrenzen in Griechenland folgt nun ein Land nach dem anderen entlang der Fluchtroute. Um nicht zum »Flüchtlingslager Europas« zu werden, wie der türkische Präsident Erdogan es ausdrückte, wird die Abschottungsmaschinerie intensiviert. Eine Kettenreaktion ist die Folge.
Am Tag nach der Machtübernahme der Taliban in der afghanischen Hauptstadt Kabul machte der griechische Migrationsminister Mitarachis klar, Griechenland dürfe nicht zum »Einfallstor« für Afghan*innen werden. Seit Jahren sind es vor allem Afghan*innen, die Griechenland auf der Suche nach Schutz erreichen. Zwischen Januar und Juni 2021 machten Afghan*innen 45% der Ankünfte auf den griechischen Inseln aus – 596 der insgesamt 1.316 Menschen. Noch 2019 waren es im gleichen Zeitraum knapp 13.000 Menschen. Die Ankünfte sind auf einem historischen Tiefstand, künstlich niedrig gehalten durch skrupellose Pushbacks.
Die maritime Grenze und die Landgrenze zur Türkei werden mit technologischem Eifer und baulichen Maßnahmen abgeriegelt. Ende August wurde die Erweiterung der insgesamt 40 Kilometer langen Grenzbefestigung entlang der Landesgrenze fertiggestellt und durch moderne Überwachungsanlagen ergänzt.
Trotz der anhaltenden Rechtsverletzungen ist die EU-Grenzschutzagentur Frontex nach eigenen Angaben weiterhin mit mehr als 660 Personen aus dem eigenen ständigen Reserve sowie 16 Schiffen in Griechenland aktiv (Stand Mai 2021). Die Festung Europa steht, insbesondere wegen dem starken Rückhalt aus Brüssel. Zwischen 2015 und 2020 wurden Griechenland insgesamt 3.15 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt, um das »Migrationsmanagement« und die Grenzen zu »verbessern«. Zuletzt wurde die Einigkeit beim Thema Abwehr im März 2020 unter Beweis gestellt. Damals reiste Kommissionspräsidentin von der Leyen per Helikopter in die Evros-Region und vermittelte vollen Rückhalt für die militante Grenzabriegelung Griechenlands.
Jüngst wies EU-Innenkommissarin Ylva Johansson die Bitte der griechischen Regierung nach zusätzlichen 15.8 Millionen Euro zur Unterstützung der griechischen Küstenwache zurück. Nach Informationen, die dem Magazin Der Spiegel vorliegen, machte sie die Zahlungen von der Einrichtung eines Mechanismus zur Überwachung der Grundrechte an den Grenzen abhängig. Der leise Einspruch vermag jedoch nicht mal für einen Riss in der »Festung Europa« zu sorgen. An der Funktionsfähigkeit der Pushback-Maschinerie ändert er nichts.
Griechenland setzt auf Pushbacks und Asylrechtsverschärfung
Neben Pushbacks setzt Griechenland auf den Abbau asylrechtlicher Garantien. Seit Juni 2021 werden auch afghanische Schutzsuchende im Zulässigkeitsverfahren behandelt. Ihre Anträge werden nicht inhaltlich geprüft, sondern im Hinblick auf die Frage, ob nicht die Türkei bereits »sicher« gewesen wäre (siehe unten). Die Anwendung des Drittstaatsverfahrens gibt Griechenland die Möglichkeit, zukünftig kaum noch inhaltliche Asylverfahren durchzuführen. Menschen mit griechischem Schutzstatus wird es dann kaum noch geben. Tausende drohen in endlosen Verfahren im Limbo der Illegalität zu enden. Die griechische Regierung will Geflüchtete aus dem Straßenbild bannen. Dafür treibt sie den Bau neuer kontrollierter Camps voran. Wie das neue Lager auf der Insel Samos oder auch das Lager Ritsona auf dem griechischen Festland zeigen, prägen hohe Mauern und Überwachung das Bild.
So zerstritten Griechenland und die Türkei sonst auch sind: Die Botschaft, die von dem Telefonat des griechischen Ministerpräsidenten Mitsotakis mit dem türkischen Präsidenten Erdogan Ende August ausging, war deutlich: Beide Länder bilden eine Front gegen weitere Aufnahmen.
Afghan*innen, die es in die Türkei schaffen, finden dort keinen Schutz. Zu dem Fazit kommt eine von der Stiftung PRO ASYL in Auftrag gegebenen Expertise zur Situation afghanischer Flüchtlinge in der Türkei.
Die Nachricht dürfte besonders an die eigene Bevölkerung gerichtet gewesen sein. In der Türkei hat die rassistische Hetze gegen Geflüchtete stark zugenommen. Die Stimmung eskalierte Anfang August in der Hauptstadt Ankara. Nach einem Mordfall zog ein Mob durch die Straßen, zerstörten Autos, Geschäfte und Wohnungen von Syrer*innen und steckten sie in Brand. Flüchtlingsfeindliche und rassistische Slogans trendeten auf social media Plattformen. Weitere Ausschreitungen werden befürchtet.
Erdogan ist bemüht, sich in der Hardliner-Rolle zu beweisen, die in großen Teilen mit der Aufnahmebereitschaft bricht, die bis zum EU-Türkei Deal galt. Er ist bereits im Wahlkampfmodus. Insbesondere die oppositionellen CHP, die Republikanische Volkspartei, macht mit einer flüchtlingsfeindlichen Agenda Stimmung und verzeichnet Zuspruch.
Sollten es Schutzsuchende doch über die Grenze schaffen, sind auch an der östlichen Grenze der Türkei Pushbacks an der Tagesordnung.
Die 144 Kilometer lange Mauer entlang der Grenze zum Iran wurde erweitert, bis zum Jahresende sollen etwa 300 Kilometer der über 500 Kilometer langen Grenze abgeriegelt sein. Es wird von 24/7‑Überwachung mittels Wärmebildkameras, Radar und Drohnen berichtet. Sollten es Schutzsuchende doch über die Grenze schaffen, sind auch an der östlichen Grenze der Türkei Pushbacks an der Tagesordnung. Bis September 2021 wurden 44.500 Afghan*innen ohne Registrierung aufgegriffen. Nur ein leichter Anstieg im Vergleich zu 50.000 im gesamten Vorjahr. Das ausgegebene Ziel, die Grenze dicht zu machen und Ankünfte zu verhindern, scheint erreicht zu werden.
Auch die EU unterstützt die Verlagerung der Grenzstärkung in Richtung Osten. Bereits im Juli wurden entsprechende Pläne der Kommission bekannt. Diese konkretisieren sich in einem im September 2021 geleakten Entwurf zum Aktionsplan zu Afghanistan. Demnach soll Erdogan bis 2024 weitere 3 Milliarden Euro erhalten, um die Aufnahme von Flüchtlingen und die »migration management capacity« an der östlichen Grenze zu stärken.
Am 21.08 kam es zu einem Telefonat zwischen Kanzlerin Merkel und Erdogan. Nach Angaben der türkischen Regierung äußerte sich Erdogan folgendermaßen: »Eine neue Migrationswelle ist unausweichlich, wenn in Afghanistan und Iran nicht die erforderlichen Maßnahmen ergriffen werden.« Dem Ruf scheint der Iran gefolgt zu sein. Laut der Tagesschau gab das iranische Innenministerium Anweisungen, die Grenze in die Türkei abzuriegeln. Der Transit in die Türkei ist versperrt.
Die Nachbarländer Pakistan und der Iran sind die Hauptaufnahmeländer für Flüchtlinge aus Afghanistan. Schätzungen des UNHCR zufolge lebten bereits im Oktober 2020 über 3.650.000 Afghan*innen im Iran, über 60 Prozent von ihnen ohne gültige Aufenthaltspapiere oder UNHCR Registrierung. Bis Oktober 2021 kamen weitere 22.000 Schutzsuchende dazu. Diese Zahl ist angesichts der dramatischen Ereignisse gering.
Parallel zu den Abzugsvorbereitungen der westlichen Truppen richtete der Iran Berichten zufolge Pufferzonen an der Grenze zu Afghanistan. Hier sollen den Plänen des iranischen Innenministeriums nach afghanische Flüchtlinge in Grenznähe unterkommen. Sie sollen im Falle einer Stabilisierung möglichst schnell wieder nach Afghanistan zurückkehren. Flüchtlingen ohne Visa wird der Zugang zum Iran verweigert. Auch hier kommt es zu Massenzurückweisungen. Laut Medienberichten wurde die Visavergabe im August zunächst eingestellt. Verwandte mit Angehörigen in Afghanistan berichten jetzt von endlosen Schlangen vor dem iranischen Konsulat und den verzweifelten Versuchen, ein Visum zu erhalten.
Legale Fluchtwege schaffen!
Um den gefährdeten Afghan*innen die Möglichkeit zu geben, ihr Leben zu retten, muss die EU jetzt schnellstmöglich handeln. Mit Pakistan und anderen Nachbarstaaten muss sie Verhandlungen führen mit dem Ziel, dass diese Länder bedrohte Afghan*innen einreisen lassen und ihnen dann Ausreisegenehmigungen erteilen. Die Bundesregierung sollte innerhalb der EU-Staaten mit gutem Beispiel vorangehen und sich für großzügige Aufnahmeprogramme einsetzen.
Schutzsuchende Afghan*innen mit einem Bezug zu Deutschland, etwa durch hier lebende Verwandte, würden davon profitieren. Des Weiteren muss der seit Jahren stockende Familiennachzug dringend beschleunigt werden. Diejenigen Afghan*innen, denen der Nachzug zu ihren in Deutschland lebenden Männern, Frauen oder Kindern, die hier als Schutzberechtigte anerkannt wurden, rechtlich zusteht, müssen endlich entsprechende Visa erhalten. Ausgebaut werden muss auch das Resettlement-Programm der Vereinten Nationen. Deutschland und andere EU-Staaten müssen mehr Plätze als bislang zur Verfügung stellen.
(mz)