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Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban – Handlungsbedarf der Innenminister*innen
Bei der heute beginnenden Innenministerkonferenz muss ein Fokus darauf gerichtet werden, welche Konsequenzen aus der Machtübernahme der Taliban im Hinblick auf die in Deutschland lebenden Afghan*innen zu ziehen sind, aber auch in Bezug auf dort zurückgebliebene, gefährdete Menschen.
Am 15. August 2021 haben die Taliban Kabul eingenommen, nach ihrem unaufhaltsamen Vorrücken von Provinz zu Provinz seit Beginn des Abzugs der NATO-Truppen ab Mai dieses Jahres. Mit der Eroberung des Panjshirtals am 06. September, in dem sich die Nationale Widerstandsfront (NRF) unter Führung von Ahmad Massud noch wenige Wochen halten konnte, haben die neuen Machthaber endgültig die landesweite Kontrolle erlangt. Aus der Machtübernahme der Taliban müssen seitens der Innenminister*innen und ‑senatoren wichtige Schlussfolgerungen gezogen werden.
Drohender Zusammenbruch der afghanischen Wirtschaft
Mit der Machtübernahme der Taliban verschärft sich zugleich die ohnehin schon desaströse wirtschaftliche Situation im Land. Die Afghanistan-Beauftragte des UNO-Welternährungsprogramms (WFP), Mary-Ellen McGroarty prognostizierte bereits Anfang Oktober, dass es sich nur noch um Wochen handeln könne, bis die Ökonomie des Landes zusammenbreche. Erst vor wenigen Tagen warnten die UN vor einem Kollaps der afghanischen Banken infolge der eingefrorenen Reserven des Landes und der damit ausbleibenden Dollar-Lieferungen und dessen dramatischen Folgen. Auch im jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes wird gewarnt, dass die Wirtschaft, die schon infolge der COVID-19-Pandemie und anhaltender Dürreperioden extrem angespannt war, nun vor dem vollständigen Kollaps steht.
Gefahren für Rückkehrende aus dem westlichen Ausland
In diesem Lagebericht fehlt indessen vollständig das Kapitel »Rückkehrfragen«, in welchem sonst üblicherweise auf die Situation von Rückkehrenden – insbesondere aus dem westlichen Ausland – und auf finanzielle und sonstige Rückkehrhilfen eingegangen wird. Finanzielle Rückkehrhilfen wurden in der Vergangenheit bei freiwilliger Rückkehr ausgezahlt. So erhielten etwa alleinstehende erwachsene Männer 3700 Euro an Rückkehrhilfen aus den Programmen REAG/GARP und Starthilfe Plus. Manche Verwaltungsgerichte hielten Abschiebungen von jungen, alleinstehenden Männern ohne familiäres Netzwerk in Afghanistan nur angesichts dieser Rückkehrhilfen gerade noch für zulässig, so beispielsweise das Verwaltungsgericht Freiburg in einem Urteil vom 05. März 2021. Seit dem 17. August 2021 ist indessen die geförderte freiwillige Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der sich stark verschlechternden Sicherheitslage bis auf weiteres vollständig ausgesetzt.
Hinzu kommt, dass Rückkehrer*innen aus dem westlichen Ausland in Afghanistan schon vor deren Machtübernahme massiven Anfeindungen seitens der Taliban ausgesetzt waren.
Hinzu kommt, dass Rückkehrer*innen aus dem westlichen Ausland in Afghanistan schon vor deren Machtübernahme massiven Anfeindungen seitens der Taliban ausgesetzt waren. So wurden die Rückehrenden aufgrund der Flucht nach Europa und dem damit unterstellten »Überlaufen zum Feind« als Gegner verfolgt. Es traf sie der Vorwurf der Verwestlichung, von »unmoralischem« Verhalten in Europa, als auch der Apostasie, also dem Abfall vom muslimischen Glauben. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie der Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann im Juni 2021. Die Gefahr derartiger Anfeindungen und darauf basierender Verfolgungen seitens der Taliban ist nach deren Machtübernahme um ein Vielfaches höher.
Das Verwaltungsgericht Freiburg sieht in einem Urteil vom 21.09.2021 die Gefahr für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland sogar als so hoch an, dass es einem jungen afghanischen Mann, der bereits als 16-Jähriger nach Deutschland geflohen war und so einen wesentlichen Teil seiner Sozialisation hier verbracht hat, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, da ihm dort Verfolgung aus politischen und religiösen Gründen droht. Das Gericht geht davon aus, dass der junge Mann »aufgrund seines Verhaltens, seiner Wertvorstellungen und politischen Überzeugungen, seiner Sozialisierung im Ganzen und seines Erscheinungsbildes nicht in der Lage wäre, sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan an die dortigen Lebensverhältnisse so anzupassen, dass er nicht in den Verdacht geraten würde, westliche Verhaltensweisen und Wertvorstellungen übernommen zu haben und sich damit im Widerspruch zu den radikal-fanatischen religiösen Vorstellungen zu setzen, die das von den Taliban ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan kennzeichnen«.
Notwendigkeit eines offiziellen Abschiebstopps
Im August dieses Jahres hat Bundesinnenminister Seehofer zwar wenige Tage vor der Eroberung Kabuls durch die Taliban erklärt, dass Abschiebungen nach Afghanistan »zunächst ausgesetzt« würden. Es bedarf aber angesichts der geschilderten dramatischen wirtschaftlichen Lage und der Gefahren gerade für Rückkehrende aus dem westlichen Ausland eines offiziellen Abschiebestopps im Sinne von § 60a Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes, um Ausreisepflichtigen Sicherheit zu vermitteln. Denn mit dem Erlass eines Abschiebestopps ist für dessen Dauer die Gewährleistung für die Betroffenen verbunden, dass keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen ergriffen werden. Diese Entscheidung muss durch die Innenminister*innen und ‑senatoren der Länder im Rahmen der Innnenministerkonferenz getroffen werden.
Es braucht ein Bleiberecht für hier lebende Afghan*innen
Für die rund 30.000 afghanischen Staatsangehörigen, die bereits länger in Deutschland leben und die in früheren Asylverfahren keinen Schutz zugesprochen bekommen haben (und deshalb schon seit Jahren im prekären Status der Duldung leben), bedarf es darüber hinaus auch einer bleiberechtlichen Perspektive, da sich die Situation in absehbarer Zeit voraussichtlich nicht verbessern wird und ihr weiterer Aufenthalt im Bundesgebiet entsprechend von langer Dauer sein wird.
Eine bleiberechtliche Lösung sollte durch die Anwendung von § 23 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes erfolgen. § 60a Abs. 1 S. 2 AufenthG sieht vor, dass bei einem länger als sechs Monate währenden Zeitraum Abschiebungen nicht mehr nur über § 60a Abs. 1 AufenthG ausgesetzt werden sollen, sondern § 23 Abs. 1 AufenthG gilt. Das heißt dass bei einer Lage, bei welcher sich über den Zeitraum von sechs Monaten hinaus Abschiebungen verbieten, nicht nur Duldungen auszustellen, sondern Aufenthaltserlaubnisse nach dieser Vorschrift zu erteilen sind. Bei bisherigen Abschiebestopps ist dieser vorgesehene gesetzliche Mechanismus nie zur Anwendung gelangt. Diesen gilt es aber zu nutzen, um zu vermeiden, dass Betroffene dauerhaft im Duldungsstatus verbleiben. Da jetzt bereits absehbar ist, dass sich die Situation in Afghanistan in den nächsten sechs Monaten nicht verbessern wird, fordert PRO ASYL die sofortige Anwendung von § 23 Abs. 1 AufenthG und die entsprechende Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen. Damit würde den Betroffenen von vornherein Rechtssicherheit für ihren weiteren Verbleib in Deutschland gewährt. Auch hätten Arbeitgeber von Betroffenen so mehr Planungssicherheit.
Aufnahme durch Bundes- und Landesaufnahmeprogramme
Deutschland hat sich zwar zur Aufnahme von afghanischen Ortskräften verpflichtet. Dabei blieben die Kriterien des Aufnahmeprogramms aber so eng, dass zahlreiche Menschen, die in der Vergangenheit für das Auswärtige Amt, das Bundesverteidigungsministerium, die GIZ oder andere deutsche Institutionen Dienste geleistet haben, aber nicht berücksichtigt wurden. Grund hierfür ist, dass sie nicht in einem unmittelbaren Angestelltenverhältnis zu diesen standen, sondern auf der Basis von Werkverträgen tätig oder bei Subunternehmen angestellt waren.
Die Taliban machen keinen Unterschied, ob jemand direkt in einem Arbeitsverhältnis zu deutschen Institutionen stand oder »Mitarbeitender externer Dienstleister« war, wie es in Ablehnungen von Anträgen ehemaliger Ortskräfte heißt.
In erster Linie für diese Menschen bedarf es jetzt eines Bundesaufnahmeprogramms nach § 23 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes: Die Taliban machen keinen Unterschied, ob jemand direkt in einem Arbeitsverhältnis zu deutschen Institutionen stand oder »Mitarbeitender externer Dienstleister« war, wie es in Ablehnungen auf Anträge für Aufnahmezusagen nach dem Aufnahmeprogramm für Ortskräfte heißt. Für sie ist entscheidend, dass Menschen für deutsche Organisationen Dienste ausgeübt haben. Aber auch gefährdete Menschenrechtler*innen, Journalist*innen, Künstler- und Sportler*innen sollten mit einem Bundesaufnahmeprogramm berücksichtigt werden sowie die gefährdeten Familienmitgliedern von in Deutschland lebenden Menschen.
Im Koalitionsvertrag hat die künftige Bundesregierung bereits angekündigt, ein Aufnahmeprogramm des Bundes für afghanische Staatsangehörige aufzulegen. Ein solches muss durch die Bundesländer unterstützt werden. Im Rahmen der Innenministerkonferenz sollten die Länder ihre diesbezügliche Bereitschaft signalisieren und auch selbst Landesaufnahmeprogramme, insbesondere für Angehörige, ergänzend aufsetzen.
(pva)