27.08.2021
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Diese Menschen hatten Glück: Sie haben es in quasi letzter Sekunde am 24. August aus Kabul heraus geschafft. Viele andere harren noch dort aus. Foto: picture alliance / ZUMAPRESS / US Marines

Rund 5.200 Menschen hat Deutschland aus Afghanistan evakuiert, aber Unzählige wurden zurückgelassen. Wir stellen einige besonders dramatische Beispiele vor.

In den ver­gan­ge­nen zwei Wochen hat die Bun­des­wehr cir­ca 5.200 Men­schen aus Kabul eva­ku­iert, dar­un­ter 4.200 Afghan*innen. Wir dan­ken dafür allen Betei­lig­ten. Doch jetzt darf nicht ein­fach Schluss sein – es gilt, wei­ter­zu­ma­chen und auch den vie­len Men­schen, die durchs Ras­ter fal­len, eine siche­re Aus­rei­se zu ermöglichen.

Zurück­ge­las­sen wer­den Orts­kräf­te, die es nicht nach Kabul oder in den Flug­ha­fen geschafft haben, Men­schen, die bei Sub­un­ter­neh­men ange­stellt, aber de fac­to für deut­sche Ein­rich­tun­gen tätig waren und sol­che, deren Arbeit bei der GIZ oder ande­ren deut­schen Ent­wick­lungs­or­ga­ni­sa­tio­nen län­ger zurück­liegt, Menschenrechtler*innen und Journalist*innen. Über­haupt nicht im Blick ist, dass auch Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge von Men­schen, die in Deutsch­land als Flücht­lin­ge aner­kannt wur­den, in gro­ßer Gefahr sind.

Zurückgelassen: Angehörige außerhalb der »Kernfamilie«

Naji­bull­ah* ist eine ehe­ma­li­ge Orts­kraft und lebt seit vie­len Jah­ren in Deutsch­land. Einem sei­ner Söh­ne wur­de der Fami­li­en­nach­zug vor Jah­ren ver­wei­gert, da er schon voll­jäh­rig war. Er wur­de dar­auf­hin von den Tali­ban als Rache­ak­ti­on ent­führt und gefol­tert – als »Ersatz« für sei­nen in Deutsch­land leben­den Vater. Die­sem wur­den Fotos und Vide­os der Gräu­el­ta­ten zuge­schickt. Die Bun­des­re­gie­rung hat es mehr­fach abge­lehnt, die Fami­lie ein­rei­sen zu las­sen. Die Begrün­dung: Erwach­se­ne Kin­der zäh­len nicht zur »Kern­fa­mi­lie« und sind daher vom Fami­li­en­nach­zug ausgenommen.

So geht es auch der 23-Jäh­ri­gen Sahar*: Im Juli wur­de ihre Fami­lie im Rah­men des Orts­kräf­te­ver­fah­rens nach Deutsch­land aus­ge­flo­gen, da ihr Vater für die Bun­des­wehr gear­bei­tet hat­te. Ihm, sei­ner Frau und drei min­der­jäh­ri­gen Kin­dern wur­de die Ein­rei­se gestat­tet – nicht aber der 23-jäh­ri­gen, ledi­gen Sahar. Sie gehört nicht zur »Kern­fa­mi­lie«. Nun lebt Sahar als jun­ge, unver­hei­ra­te­te Frau ohne Ver­wand­te völ­lig auf sich gestellt in Afgha­ni­stan. Ihr Vater wur­de, nach­dem er vom Sieg der Tali­ban gehört hat­te, infol­ge eines Zusam­men­bruchs ins Kran­ken­haus eingeliefert.

»Wir wen­den uns in tie­fer Ver­zweif­lung an Euch«

Eine von vie­len Mails an unse­re Einzelfallberatung

»Wir wen­den uns in tie­fer Ver­zweif­lung an Euch«, beginnt eine Mail von Hafis*. Er war als Orts­kraft für die Bun­des­wehr in Afgha­ni­stan tätig und lebt seit 2015 in Deutsch­land. Ein Bru­der von ihm hat eben­falls für die Bun­des­wehr gear­bei­tet, er, sei­ne Frau und deren Kin­der wären visa­be­rech­tigt. Ein wei­te­rer Bru­der war für die GIZ im Ein­satz und erhielt bis­lang kein Visa, da die Tätig­keit zu lan­ge her war. Die gan­ze Fami­lie lebt zusam­men in einem Haus im Nor­den Afgha­ni­stans und wird von den Tali­ban mit dem Tod bedroht. Es gab bereits drei Anschlä­ge, die sie über­lebt haben. »Wir kön­nen uns nicht dar­auf ver­las­sen, dass der vier­te Anschlag auch miss­lin­gen wird«, schreibt uns Hafis. »Wenn mein visa­be­rech­tig­ter Bru­der das Land ver­lässt, lässt er unse­re Mut­ter und unse­re Schwes­tern schutz­los zurück. Wenn er geht, wird es für alle ande­ren noch schlim­mer. Die­se Fami­lie wird in Afgha­ni­stan ster­ben«, lau­tet die ver­zwei­fel­te Nach­richt von Hafis.

Zurückgelassen: Besonders Schutzbedürftige

Maryam* war in einer wich­ti­gen Posi­ti­on im Jus­tiz­we­sen beschäf­tigt und hat Ver­fah­ren gegen die Tali­ban geführt. Die Demo­kra­ti­sie­rung von Afgha­ni­stan hat sie aus vol­ler Über­zeu­gung unter­stützt. Vor drei Wochen ver­schaff­ten sich Tali­ban Zutritt zu ihrem Wohn­haus; ihr Ehe­mann konn­te ihr Ver­steck verbergen.

Die Mut­ter klei­ner Kin­der floh sofort und wech­selt nun jede Nacht zu einer ande­ren Unter­kunft, da die Tali­ban unun­ter­bro­chen alle Häu­ser nach »Kollaborateur*innen« durch­su­chen. Ihre Schwes­ter und ihr Schwa­ger leben in Deutsch­land, zu ihnen könn­te sie zie­hen. Zwar hat sie nach Wochen des Ban­gens und Zit­terns eine Auf­nah­me­zu­sa­ge bekom­men, jedoch erst am Abend bevor die Luft­brü­cke ende­te – also zu spät.

Zurückgelassen: Subunternehmer ohne deutschen Arbeitsvertrag

Hoch­gra­dig gefähr­det sind auch Afgha­nen wie Adil*. Er arbei­te­te neun Jah­re lang für ein Sicher­heits­un­ter­neh­men und bewach­te eine wich­ti­ge deut­sche Ein­rich­tung. Als Wach­mann war er auf dem Prä­sen­tier­tel­ler, jeder kennt sein Gesicht. Doch weil er nicht direkt von der deut­schen Ein­rich­tung ange­stellt wor­den war, son­dern über ein Sub­un­ter­neh­men, zählt er für die Bun­des­re­gie­rung nicht als Ortskraft.

Moha­med konn­te unter­tau­chen, doch die Tali­ban durch­such­ten das Haus der Fami­lie bereits drei Mal und dro­hen, die klei­ne Toch­ter mitzunehmen.

Zurückgelassen: Mitarbeiter*innen der Entwicklungszusammenarbeit

PRO ASYL ist der Fall eines Man­nes bekannt, der elf Jah­re lang in wich­ti­ger Funk­ti­on bei der GIZ ange­stellt war. Hamid* ist um die Fünf­zig, sei­ne Frau sitzt im Roll­stuhl – eine Flucht ist daher schwie­ri­ger als ohne­hin schon und ohne Hil­fe von außen kaum mög­lich. Eine Toch­ter des Paa­res lebt mit ihren Kin­dern in Deutsch­land, sie zit­tert und bangt um ihre Eltern.

Ähn­lich ver­hält es sich mit Moha­med*, der eben­falls in Deutsch­land lebt und sich mit einem Hil­fe­ruf an die Bun­des­re­gie­rung und an PRO ASYL gewandt hat. Sei­ne Schwes­ter ist mit ihrer Fami­lie in aku­ter Gefahr: ihr Mann war zunächst in der deut­schen Ent­wick­lungs­hil­fe tätig und arbei­te­te anschlie­ßend als Kom­man­dant in einem Gefäng­nis, in dem Tali­ban inhaf­tiert waren. Er konn­te unter­tau­chen, doch die Tali­ban durch­such­ten das Haus der Fami­lie bereits drei Mal und dro­hen, die klei­ne Toch­ter mit­zu­neh­men und zu ver­hei­ra­ten, wenn der Vater sich nicht stellt. Ein Fami­li­en­mit­glied ist bereits geköpft worden.

Zurückgelassen: Journalist*innen & Aktivist*innen

Omid* ist Jour­na­list und war sowohl für die Bun­des­wehr direkt als auch für ein Medi­en­zen­trum, das die Bevöl­ke­rung über den NATO-Ein­satz auf­klä­ren soll­te, als Kame­ra­mann, Cut­ter sowie Redak­teur tätig. Von Janu­ar 2015 bis zum Abzug der Trup­pen Ende Juni 2021 half er dabei mit, sei­nen Lands­leu­ten den Ein­satz zu ver­mit­teln und dafür zu wer­ben. Zudem steht er in der Öffent­lich­keit – ist aktiv bei Twit­ter, posi­tio­nier­te sich in sei­nen Video­bei­trä­gen gegen die Tali­ban und gab deut­schen Medi­en Inter­views. In sei­ner Hei­mat fühl­te er sich auf­grund der näher­rü­cken­den Extre­mis­ten nicht mehr sicher und floh nach Kabul. Sei­ne Frau, sei­ne Kin­der und sei­ne Eltern ließ er zurück – in der Hoff­nung, ihnen wer­de nichts gesche­hen, wenn er untertaucht.

Das Versprechen des Außenministers

Hei­ko Maas ver­kün­de­te am 26. August: »Unse­re Arbeit geht wei­ter, und zwar solan­ge bis alle in Sicher­heit sind, für die wir in Afgha­ni­stan Ver­ant­wor­tung tra­gen«. Dar­an wird sich der Außen­mi­nis­ter mes­sen las­sen müs­sen. Was die Bun­des­re­gie­rung jedoch nach dem Ende der Eva­ku­ie­run­gen unter­neh­men möch­te, greift viel zu kurz.

Denn wei­ter­hin wer­den bei Sub­un­ter­neh­men Ange­stell­te nicht umfasst, der Begriff der Fami­lie zu eng gefasst und zum seit Jah­ren ver­schlepp­ten Fami­li­en­nach­zug aus Afgha­ni­stan fehlt jedes Wort. Die Prü­fung von Gefähr­dungs­an­zei­gen von z.B. Men­schen- und Frauenrechtsverteidiger*innen  wur­de über­ra­schend mit dem Ende der mili­tä­ri­schen Eva­ku­ie­rung gestoppt. Was Deutsch­land statt­des­sen tun muss, haben wir hier formuliert.

Ein Appell in eigener Sache

In den letz­ten Tagen, Wochen und Mona­ten erreich­ten uns etli­che Hil­fe­ru­fe. Wir sind seit­her dau­er­haft im Ein­satz: Wir ste­hen Betrof­fe­nen direkt zur Sei­te, leis­ten Rechts­hil­fe, ver­mit­teln Infor­ma­tio­nen und ver­su­chen, poli­tisch zu inter­ve­nie­ren. Und wir erhe­ben lau­te und kla­re For­de­run­gen in der Öffent­lich­keit. Das alles kön­nen wir nur tun, weil wir unab­hän­gig sind – und vie­le Men­schen uns unter­stüt­zen. Des­halb bit­ten wir an die­ser Stel­le um Spen­den: Jeder Betrag zählt!

(er)

*Alle Namen aus Schutz­grün­den geändert