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Die Zurückgelassenen
Rund 5.200 Menschen hat Deutschland aus Afghanistan evakuiert, aber Unzählige wurden zurückgelassen. Wir stellen einige besonders dramatische Beispiele vor.
In den vergangenen zwei Wochen hat die Bundeswehr circa 5.200 Menschen aus Kabul evakuiert, darunter 4.200 Afghan*innen. Wir danken dafür allen Beteiligten. Doch jetzt darf nicht einfach Schluss sein – es gilt, weiterzumachen und auch den vielen Menschen, die durchs Raster fallen, eine sichere Ausreise zu ermöglichen.
Zurückgelassen werden Ortskräfte, die es nicht nach Kabul oder in den Flughafen geschafft haben, Menschen, die bei Subunternehmen angestellt, aber de facto für deutsche Einrichtungen tätig waren und solche, deren Arbeit bei der GIZ oder anderen deutschen Entwicklungsorganisationen länger zurückliegt, Menschenrechtler*innen und Journalist*innen. Überhaupt nicht im Blick ist, dass auch Familienangehörige von Menschen, die in Deutschland als Flüchtlinge anerkannt wurden, in großer Gefahr sind.
Zurückgelassen: Angehörige außerhalb der »Kernfamilie«
Najibullah* ist eine ehemalige Ortskraft und lebt seit vielen Jahren in Deutschland. Einem seiner Söhne wurde der Familiennachzug vor Jahren verweigert, da er schon volljährig war. Er wurde daraufhin von den Taliban als Racheaktion entführt und gefoltert – als »Ersatz« für seinen in Deutschland lebenden Vater. Diesem wurden Fotos und Videos der Gräueltaten zugeschickt. Die Bundesregierung hat es mehrfach abgelehnt, die Familie einreisen zu lassen. Die Begründung: Erwachsene Kinder zählen nicht zur »Kernfamilie« und sind daher vom Familiennachzug ausgenommen.
So geht es auch der 23-Jährigen Sahar*: Im Juli wurde ihre Familie im Rahmen des Ortskräfteverfahrens nach Deutschland ausgeflogen, da ihr Vater für die Bundeswehr gearbeitet hatte. Ihm, seiner Frau und drei minderjährigen Kindern wurde die Einreise gestattet – nicht aber der 23-jährigen, ledigen Sahar. Sie gehört nicht zur »Kernfamilie«. Nun lebt Sahar als junge, unverheiratete Frau ohne Verwandte völlig auf sich gestellt in Afghanistan. Ihr Vater wurde, nachdem er vom Sieg der Taliban gehört hatte, infolge eines Zusammenbruchs ins Krankenhaus eingeliefert.
»Wir wenden uns in tiefer Verzweiflung an Euch«
»Wir wenden uns in tiefer Verzweiflung an Euch«, beginnt eine Mail von Hafis*. Er war als Ortskraft für die Bundeswehr in Afghanistan tätig und lebt seit 2015 in Deutschland. Ein Bruder von ihm hat ebenfalls für die Bundeswehr gearbeitet, er, seine Frau und deren Kinder wären visaberechtigt. Ein weiterer Bruder war für die GIZ im Einsatz und erhielt bislang kein Visa, da die Tätigkeit zu lange her war. Die ganze Familie lebt zusammen in einem Haus im Norden Afghanistans und wird von den Taliban mit dem Tod bedroht. Es gab bereits drei Anschläge, die sie überlebt haben. »Wir können uns nicht darauf verlassen, dass der vierte Anschlag auch misslingen wird«, schreibt uns Hafis. »Wenn mein visaberechtigter Bruder das Land verlässt, lässt er unsere Mutter und unsere Schwestern schutzlos zurück. Wenn er geht, wird es für alle anderen noch schlimmer. Diese Familie wird in Afghanistan sterben«, lautet die verzweifelte Nachricht von Hafis.
Zurückgelassen: Besonders Schutzbedürftige
Maryam* war in einer wichtigen Position im Justizwesen beschäftigt und hat Verfahren gegen die Taliban geführt. Die Demokratisierung von Afghanistan hat sie aus voller Überzeugung unterstützt. Vor drei Wochen verschafften sich Taliban Zutritt zu ihrem Wohnhaus; ihr Ehemann konnte ihr Versteck verbergen.
Die Mutter kleiner Kinder floh sofort und wechselt nun jede Nacht zu einer anderen Unterkunft, da die Taliban ununterbrochen alle Häuser nach »Kollaborateur*innen« durchsuchen. Ihre Schwester und ihr Schwager leben in Deutschland, zu ihnen könnte sie ziehen. Zwar hat sie nach Wochen des Bangens und Zitterns eine Aufnahmezusage bekommen, jedoch erst am Abend bevor die Luftbrücke endete – also zu spät.
Zurückgelassen: Subunternehmer ohne deutschen Arbeitsvertrag
Hochgradig gefährdet sind auch Afghanen wie Adil*. Er arbeitete neun Jahre lang für ein Sicherheitsunternehmen und bewachte eine wichtige deutsche Einrichtung. Als Wachmann war er auf dem Präsentierteller, jeder kennt sein Gesicht. Doch weil er nicht direkt von der deutschen Einrichtung angestellt worden war, sondern über ein Subunternehmen, zählt er für die Bundesregierung nicht als Ortskraft.
Mohamed konnte untertauchen, doch die Taliban durchsuchten das Haus der Familie bereits drei Mal und drohen, die kleine Tochter mitzunehmen.
Zurückgelassen: Mitarbeiter*innen der Entwicklungszusammenarbeit
PRO ASYL ist der Fall eines Mannes bekannt, der elf Jahre lang in wichtiger Funktion bei der GIZ angestellt war. Hamid* ist um die Fünfzig, seine Frau sitzt im Rollstuhl – eine Flucht ist daher schwieriger als ohnehin schon und ohne Hilfe von außen kaum möglich. Eine Tochter des Paares lebt mit ihren Kindern in Deutschland, sie zittert und bangt um ihre Eltern.
Ähnlich verhält es sich mit Mohamed*, der ebenfalls in Deutschland lebt und sich mit einem Hilferuf an die Bundesregierung und an PRO ASYL gewandt hat. Seine Schwester ist mit ihrer Familie in akuter Gefahr: ihr Mann war zunächst in der deutschen Entwicklungshilfe tätig und arbeitete anschließend als Kommandant in einem Gefängnis, in dem Taliban inhaftiert waren. Er konnte untertauchen, doch die Taliban durchsuchten das Haus der Familie bereits drei Mal und drohen, die kleine Tochter mitzunehmen und zu verheiraten, wenn der Vater sich nicht stellt. Ein Familienmitglied ist bereits geköpft worden.
Zurückgelassen: Journalist*innen & Aktivist*innen
Omid* ist Journalist und war sowohl für die Bundeswehr direkt als auch für ein Medienzentrum, das die Bevölkerung über den NATO-Einsatz aufklären sollte, als Kameramann, Cutter sowie Redakteur tätig. Von Januar 2015 bis zum Abzug der Truppen Ende Juni 2021 half er dabei mit, seinen Landsleuten den Einsatz zu vermitteln und dafür zu werben. Zudem steht er in der Öffentlichkeit – ist aktiv bei Twitter, positionierte sich in seinen Videobeiträgen gegen die Taliban und gab deutschen Medien Interviews. In seiner Heimat fühlte er sich aufgrund der näherrückenden Extremisten nicht mehr sicher und floh nach Kabul. Seine Frau, seine Kinder und seine Eltern ließ er zurück – in der Hoffnung, ihnen werde nichts geschehen, wenn er untertaucht.
Das Versprechen des Außenministers
Heiko Maas verkündete am 26. August: »Unsere Arbeit geht weiter, und zwar solange bis alle in Sicherheit sind, für die wir in Afghanistan Verantwortung tragen«. Daran wird sich der Außenminister messen lassen müssen. Was die Bundesregierung jedoch nach dem Ende der Evakuierungen unternehmen möchte, greift viel zu kurz.
Denn weiterhin werden bei Subunternehmen Angestellte nicht umfasst, der Begriff der Familie zu eng gefasst und zum seit Jahren verschleppten Familiennachzug aus Afghanistan fehlt jedes Wort. Die Prüfung von Gefährdungsanzeigen von z.B. Menschen- und Frauenrechtsverteidiger*innen wurde überraschend mit dem Ende der militärischen Evakuierung gestoppt. Was Deutschland stattdessen tun muss, haben wir hier formuliert.
Ein Appell in eigener Sache
In den letzten Tagen, Wochen und Monaten erreichten uns etliche Hilferufe. Wir sind seither dauerhaft im Einsatz: Wir stehen Betroffenen direkt zur Seite, leisten Rechtshilfe, vermitteln Informationen und versuchen, politisch zu intervenieren. Und wir erheben laute und klare Forderungen in der Öffentlichkeit. Das alles können wir nur tun, weil wir unabhängig sind – und viele Menschen uns unterstützen. Deshalb bitten wir an dieser Stelle um Spenden: Jeder Betrag zählt!
(er)
*Alle Namen aus Schutzgründen geändert