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»Ortskräfte aus Afghanistan zu retten, ist eine juristische Verpflichtung«
Rechtsanwalt Matthias Lehnert verklagt die Bundesregierung wegen Untätigkeit. Sie lasse ehemalige afghanische Mitarbeiter eines GIZ-Polizeiprojekts, die extrem gefährdet sind, zu Unrecht zurück, argumentiert er. Mit Unterstützung von PRO ASYL reicht er Klage am Verwaltungsgericht Berlin ein. Im Interview spricht Lehnert über die Hintergründe.
Herr Lehnert, warum verklagen Sie die Bundesregierung?
Ich verklage die Bundesregierung in Vertretung von mehreren Afghanen, die in einem Polizeiprojekt der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gearbeitet haben und die dringend Schutz benötigen – der ihnen aber von Deutschland verwehrt wird. Bei dem Projekt (PCP) handelte es sich um eine Kooperation zwischen der GIZ, einer halb-staatlichen deutschen Einrichtung, und dem afghanischen Innenministerium.
Ziel war es, afghanische Polizist*innen auszubilden, unter anderem bei der Alphabetisierung und in Menschenrechtsfragen. Das Lehrpersonal war für Schulungen dieser Art im Auftrag der GIZ in allen Provinzen des Landes tätig. Zu ihnen gehörten auch die Kläger, die ich rechtlich vertrete. Die Bundesregierung verweigert ihre Aufnahme mit dem Argument, dass sie nur Werksverträge hatten. Ich halte das für falsch und für juristisch nicht haltbar.
Aus welchen Gründen?
Erstens: Deutschland hat eine Schutzpflicht gegenüber Personen, die im deutschen Auftrag in Afghanistan tätig waren, und zwar unabhängig davon, wie genau der Vertrag bezeichnet wird. Zweitens: Die Betroffenen sind einer massiven Gefährdung durch die Taliban ausgesetzt. Drittens: Es gibt ja ein Ortskräfteverfahren, um solche Menschen zu retten. Damit gesteht die Bundesregierung zu, dass verfolgte Personen aufgenommen werden müssen. Die Unterscheidung, die einen aufzunehmen – jene, die Arbeitsverträge hatten – und die anderen nicht – nämlich diejenigen mit Werksverträgen – ist perfide. Die Taliban unterscheiden nicht zwischen verschiedenen Vertragsformen!
Die Kläger, die ich vertrete, sind durch ihre Mitarbeit in dem Polizeiprojekt gravierend gefährdet, weil sie im Sicherheitssektor tätig waren, was per se ein Verfolgungsgrund für die Taliban ist. Hinzu kommt, dass sie im Rahmen ihrer Arbeit mit vielen Leuten in Kontakt waren und damit ihre Tätigkeit vielen Menschen bekannt ist. Dass sie Kurse zu Menschenrechten und Alphabetisierung geleitet haben, Themen also, die die Taliban mit Verwestlichung verbinden, erhöht den Grad ihrer Gefährdung noch.
»Häufig wird in der Debatte suggeriert, dass es sich um einen humanitäre Gnadenakte handelt. Aber das stimmt nicht, wir reden hier von verfassungsrechtlichen Schutzpflichten.«
Sie sagen, die Bundesregierung hat eine Schutzpflicht. Moralischer Art oder auch rechtlich?
Die Bundesregierung hat auch aus juristischer Perspektive Schutzpflichten. Häufig wird in der Debatte um die Aufnahme von bedrohten Afghaninnen und Afghanen suggeriert, dass es sich dabei um einen humanitären Gnadenakt handelt. Aber das stimmt nicht, wir reden hier von verfassungsrechtlichen Schutzpflichten. Denn die Verfolgung der ehemaligen Ortskräfte durch die Taliban ist Deutschland zurechenbar.
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungs-gerichts und des Bundesverwaltungsgerichts sind hierfür Anknüpfungspunkte. Für die Kläger besteht Gefahr für Leib und Leben aufgrund ihrer Tätigkeit für deutsche Einrichtungen. Auch das Deutsche Institut für Menschenrechte hat das kürzlich in einer Analyse deutlich gemacht. Es weist unter anderem darauf hin, dass nicht zu hohe Anforderungen an die Ortskräfte gestellt werden dürfen, für ihre Gefährdung Beweise beizubringen.
Dabei mangelt es in den Fällen, die Sie vertreten, nicht an Beweisen. Können Sie die Gefährdung Ihrer Mandanten kurz schildern?
Ich vertrete zum Beispiel eine Person, dessen Familie bereits kurz vor der Machtübernahme durch die Taliban im Juli zuhause überfallen und misshandelt worden war. Später haben sie meinen Mandaten acht Stunden lang an einen Baum aufgehängt und ihm mehrere Knochen gebrochen. Sie sagten zu ihm, er habe gesündigt, weil er mit den Deutschen zusammengearbeitet hat. Dass die Bundesregierung Menschen wie ihm keine Aufnahmezusage erteilt, finde ich empörend.
Ein anderer Mandant von mir hat mehrfach Drohbriefe von den Taliban erhalten und sie haben sein Haus verwüstet auf der Suche nach Informationen über die GIZ. Bei einem dieser »Besuche« war er nicht zuhause – aber sein Bruder wurde ermordet, weil er nicht preisgeben wollte, wo der »Kollaborateur mit den Deutschen« sich aufhält.
Was wollen Sie mit der Klage erreichen?
Klageziel ist, dass den Klägern und ihren Familien ein Visum erteilt wird. Dafür zuständig sind die Deutschen Botschaften, die dem Auswärtigen Amt unterstehen. Deshalb wird die Klage am Verwaltungsgericht Berlin eingereicht, weil das Auswärtige Amt dort seinen Sitz hat. Mit Unterstützung von PRO ASYL vertrete ich sechs ehemalige Mitarbeiter des GIZ-Polizeiprojektes vor Gericht, und eine Kollegin von mir, die ebenfalls Klage einreicht, vertritt fünf weitere Familien.
»Mit Unterstützung von PRO ASYL vertrete ich sechs ehemalige Mitarbeiter des GIZ-Polizeiprojektes vor Gericht.«
Gibt es bereits ähnliche Gerichtsverfahren oder ist das ein Novum?
Bei Gericht anhängig sind bereits Klagen ähnlicher Art, etwa von Subunternehmern, denen die Bundesregierung ebenfalls keinen Ortskräftestatus zuerkennt und damit jede Chance auf Aufnahme versagt. Eingereicht wurden auch Klagen von afghanischen Staatsbürgern, die klar unter die offizielle Ortskräfte-Definition der Bundesregierung fallen – und trotzdem auf ihre Gefährdungsanzeige nie eine Antwort von deutschen Stellen erhalten haben. Es handelt sich meines Wissens nach aber um die ersten Klagen von Klägern aus den Reihen des GIZ-Polizeikooperationsprojektes. Eine gerichtliche Entscheidung in diesen Fällen hätte Signalwirkung, weil zwischen 2000 und 3000 Menschen mit Werksverträgen in besagtem Projekt tätig waren.
Aus den Schriftsätzen der Gegenseite in anderen Verfahren geht hervor, dass dem Auswärtigen Amt keine Vorgänge zu Ihren Mandanten vorliegen, obwohl diese bereits im August Gefährdungsanzeigen eingereicht haben. Heißt das, das Auswärtige Amt war mit der Flut an eingegangenen E‑Mails so überfordert, dass es diese nicht mal ordentlich abgelegt hat?
So ist es, und das ist ein großes Problem. Die alte Bundesregierung hat sich – übrigens viel zu spät! – auf ein Verfahren geeinigt, wie Ortskräfte Schutz beantragen sollen. Hierfür wurden spezielle Email-Adressen eingerichtet. In der Folge haben sich viele Afghaninnen und Afghanen dorthin gewandt, aber nie eine Antwort erhalten.
Natürlich sind nach der Machtergreifung der Taliban sehr viele Gefährdungsanzeigen und Visaanträge beim Auswärtigen Amt eingegangen. Aber das war vorhersehbar! Die Bundesregierung muss dafür Sorge tragen, dass ausreichend Personal die Eingänge bearbeitet und Akten angelegt werden. Stattdessen ging offenbar vieles verloren.
Sie argumentieren in der Klageschrift, Ihre Mandanten seien trotz Werksverträgen GIZ-Mitarbeiter gewesen. Wie begründen Sie das?
Die Verträge waren nur dem Anschein nach Werksverträge – de facto kommen sie Arbeitsverträgen gleich. Denn in den Verträgen sind Vorschriften über Art, Ort und Zeit der Arbeitsleistung genau festgelegt. Die Kläger wurden darin detailliert angewiesen, wie die Schulungen durchzuführen seien und mit welchem Schulungsmaterial, und die Verträge wurden vom Programmleiter des GIZ-PCP-Projekts unterzeichnet. Zudem beinhalten diese Verträge ein weitreichendes Nebenbeschäftigungsverbot. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs handelt es sich damit um einen klassischen Arbeitsvertrag.
Das Auswärtige Amt vertritt die Position, es handele sich bei der Visumsvergabe nach § 22 Aufenthaltsgesetz, auf die Sie sich berufen, um eine politische Entscheidung, die im Ermessen der Bundesregierung liege und rechtlich nicht eingefordert werden könne.
Das lasse ich nicht gelten! Es mag eine politische Entscheidung sein, wem die Bundesregierung Aufnahmezusagen erteilt, aber auch das kann nicht willkürlich erfolgen. Die Regierung kann nicht sagen: »Den nehmen wir auf, und den nicht» – das widerspricht dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes, konkret: Artikel 3 GG. Die Aufnahme von gefährdeten Afghaninnen und Afghanen erwächst aus der Schutzpflicht des Grundgesetzes und ist somit sehr wohl eine juristische Angelegenheit.
Allerdings berufe ich mich nicht nur auf eine Visumserteilung nach §22 AufenthG, der die Aufnahme von Personen aus dem Ausland in Einzelfällen regelt, sondern auch auf §23 AufenthG. Meines Erachtens wäre das die passendere Rechtsgrundlage, weil dieser Paragraph die Aufnahme aus dem Ausland für bestimmte Gruppen ermöglicht – in diesem Fall also für Ortskräfte aus Afghanistan.
»Es mag eine politische Entscheidung sein, wem die Bundesregierung Aufnahmezusagen erteilt, aber auch das kann nicht willkürlich erfolgen. Die Regierung kann nicht sagen: »Den nehmen wir auf, und den nicht« «
Wann ist mit einer Entscheidung zu rechnen?
Ich habe einen Antrag auf Eilrechtsschutz gestellt, da meine Mandant*innen konkret in Gefahr sind. Deshalb gehe ich davon aus, dass es in zwei bis drei Monaten zu Entscheidungen kommen wird. Die können unterschiedlich ausfallen, denn für jeden meiner Mandanten ergeht eine eigene Klage, die gesondert am Verwaltungsgericht Berlin eingereicht und dort jeweils von unterschiedlichen Kammern bearbeitet wird. Es sind demnach verschiedene Richterinnen und Richter zuständig. Gut möglich, dass ein Richter Kläger A Recht gibt, während die Klage von B, dessen Fall ganz ähnlich gelagert ist, von einem anderen Richter ablehnend beschieden wird.
Das bedeutet: Der eine kann Glück haben, der andere Pech. Ich appelliere an die Bundesregierung, es nicht auf eine Gerichtsentscheidung ankommen zu lassen, sondern vorher zu handeln. Ich wünsche mir, dass das Auswärtige Amt von sich aus einsieht, dass es den Ortskräften Schutz zuspricht – unabhängig von deren Vertragsform. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung heißt es: »Wir wollen diejenigen besonders schützen, die der Bundesrepublik Deutschland im Ausland als Partner zur Seite standen und sich für Demokratie und gesellschaftliche Weiterentwicklung eingesetzt haben.« Die Bundesregierung sollte allgemein und speziell in diesen Verfahren zeigen, dass sie es mit dieser Ankündigung ernst meint.
(er)