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»Holt uns hier raus!«
Afghan*innen, die in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit tätig waren, schweben in Lebensgefahr. Doch viele von ihnen fallen durch’s Raster deutscher Behörden. PRO ASYL fordert: Die künftige Bundesregierung muss afghanische Mitarbeiter*innen der deutschen Entwicklungspolitik umgehend auf die Liste besonders gefährdeter Personen aufnehmen.
Es ist noch keine vier Wochen her, da gingen die Bilder verzweifelter Menschen am Flughafen in Kabul um die Welt. Doch mittlerweile ist der öffentliche Aufschrei angesichts dieser dramatischen Szenen verhallt. Im Schatten der Bundestagswahl geht unter, dass Afghan*innen, die in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit tätig waren, nun sich selbst überlassen werden – trotz der immensen Gefahren durch die Taliban. Die öffentliche Aufmerksamkeit lag auf der Bundeswehr und dem Verteidigungsministerium – dass aber auch das Entwicklungsministerium (BMZ) für eine Vielzahl verzweifelter Menschen verantwortlich ist, wird wenig beachtet. Dabei haben Experten wie Marcus Grotian, Hauptmann der Bundeswehr, sowie Journalistinnen bereits im Juli darauf hingewiesen.
Viele Afghan*innen, die sich für einen friedlichen Aufbau ihres Landes sowie für wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung einsetz(t)en, fühlen sich vom Entwicklungsministerium beziehungsweise der ihm zugeordneten Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Stich gelassen. Die (früheren) deutschen Arbeitgeber, so ihr Eindruck, kümmern sich nun nicht mehr. Zwar passiert hinter den Kulissen durchaus etwas, doch nur einige wenige haben das Glück, evakuiert zu werden.
Von vielen Betroffenen, die sich bei PRO ASYL melden, wissen wir, dass sie bereits seit Wochen auf eine Rückmeldung warten.
Betroffene werden abgewimmelt, weil sie den »falschen Vertrag« haben
PRO ASYL hatte sich schon im April dieses Jahres ans BMZ gewandt und auf die notwendige Ausweitung des Ortskräfteprogramms gedrungen. Doch das geschah erst am 23.8., also nach der Machtübernahme der Taliban. Dadurch war es vielen ehemaligen GIZ-Mitarbeiter*innen nicht möglich, sich noch vor dem Fall Kabuls zu retten.
Auch jetzt scheint das Verfahren für GIZ-Mitarbeitende nur schleppend voranzugehen. Von vielen Betroffenen, die sich bei PRO ASYL melden, wissen wir, dass sie bereits seit Wochen auf eine Rückmeldung warten. Unter den Menschen, die PRO ASYL berät, sind auch viele, die Absagen erhalten: Aufgrund bestimmter Vertragskonstellationen bestehe laut den Vorgaben der Bundesregierung keine Berechtigung für eine Aufnahme, heißt es da oft verklausuliert. Da viele Mitarbeitende als Gutachter*innen, Vermittler*innen etc. beschäftigt waren oder sind, gelten sie als selbständig. Doch diese Menschen haben wichtige inhaltliche Dienstleistungen für die GIZ erbracht, teilweise sogar einen direkten Vertrag mit der GIZ unterzeichnet und ihr Einkommen durch die GIZ bezogen. Ihre Tätigkeit für die GIZ beziehungsweise für das BMZ macht diese Menschen nun zur Zielscheibe, zumal die Taliban nicht zwischen verschiedenen deutschen Vertragsformen unterscheiden.
»Ich habe ständig Todesdrohungen übers Telefon von den Taliban erhalten. Sie haben gesagt, wenn ich mein Engagement nicht beende, töten sie mich und meine Familie.«
Hilferufe aus Afghanistan – vier konkrete Fälle
Fall 1: Hafis* hat in Deutschland studiert und ist im Anschluss im Rahmen eines GIZ-Programmes nach Afghanistan zurückgekehrt, um mit seinem erworbenen Wissen sein Heimatland voranzubringen. Als Dozent lehrte er an einer afghanischen Universität und war so daran beteiligt, die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan zu unterstützen. Mit der Machtübernahme der Taliban kann er dieser Tätigkeit nicht mehr nachgehen und ist zudem durch seinen Bezug zu Deutschland und seine Tätigkeit für die GIZ sehr bedroht. Hafis war nicht direkt bei der GIZ angestellt, aber im Rahmen eines GIZ-Projektes in Afghanistan im Einsatz. Doch Menschen wie er bleiben auf den Evakuierungslisten außen vor.
Fall 2: Awista* hat an einem Projekt für Überlebende von häuslicher Gewalt mitgearbeitet, das von der GIZ finanziert wurde. »Wir haben Frauen, die häusliche Gewalt überlebt haben, rechtlich beraten und ihnen gesagt, wo sie Hilfe suchen können. Die Beratungsstelle wurde wegen ihres Engagements für die Menschenrechte und die Rechte der Frauen ständig von Extremisten bedroht«, schreibt Awista, die zudem in leitender Position im Bereich Frauenrechte in einem afghanischen Ministerium tätig war. Die meisten Frauen, die sie unterstützt hat, kamen aus Gebieten, die unter der Kontrolle der Taliban standen. »Ich habe ständig Todesdrohungen übers Telefon von den Taliban erhalten«, erklärt die Frauenrechtlerin. »Sie wollen, dass ich mit dieser Arbeit aufhöre, sie behaupten, was ich tue, verstoße gegen die Scharia. Sie haben gesagt, wenn ich mein Engagement nicht beende, töten sie mich und meine Familie.« Seit die Islamisten Kabul erobert haben, ist Awista auf der Flucht. Aber wohin soll sie noch fliehen?
Fall 3: Hamid* war elf Jahre lang in wichtiger Funktion bei der GIZ angestellt. Der 61-Jährige hat eine körperbehinderte Frau, die im Rollstuhl sitzt – das Paar ist möglichen Racheakten der Taliban völlig hilflos ausgeliefert. Eine Tochter der Beiden lebt mit ihren Kindern in Deutschland, sie zittert und bangt um ihre Eltern. Die in Afghanistan verbliebene Familie wurde in letzter Zeit angegriffen: Ein Sohn wurde krankenhausreif geschlagen, das Auto von Hamid beschädigt, und kürzlich drang ein Unbekannter über den Balkon in die Wohnung ein und randalierte. Außerdem erhält er regelmäßig Drohanrufe und ‑nachrichten. Hamid verfügt über Nachweise von der GIZ, in denen er als wichtiger Mitarbeiter dargestellt wird, darunter ein Schreiben, in dem ihm die Behörde für sein »herausragendes Engagement« dankt. Da seine deutschen Vorgesetzten bereits früh aus Afghanistan abgereist sind, konnte er jedoch keine persönliche Gefährdungsanzeige stellen. Konkrete Rückmeldungen bezüglich einer Evakuierung oder Aufnahmezusage von seinen Vorgesetzten fehlen bislang.
Fall 4: »Sie sind die einzige Hoffnung, die ich noch habe« – mit diesen verzweifelten Worten hat sich Mohamed* an PRO ASYL gewandt. Der Familienvater hat als Fahrer sowohl für die GIZ gearbeitet als auch bei einer Consulting Group im Rahmen eines vom BMZ geförderten Projektes im Norden Afghanistans. Als Fahrer in einem Gebiet, das schon vor der Machtübernahme der Taliban sehr umkämpft und instabil war, war er in der Gegend bekannt und hat bereits vor Jahren Drohschreiben der Taliban erhalten, selbst seine Kinder wurden angesprochen. Die Familie floh in eine andere Region innerhalb des Landes, wurde aber auch dort von den Extremisten aufgespürt. Mohamed fürchtet um sein Leben und das seiner Familie. Er wechselt ständig seinen Wohnort und seine Handynummer, aber auch das hilft ihm nun kaum noch weiter. Die Taliban erkundigen sich bei Familienmitgliedern und Freunden nach ihm, setzen diese unter Druck. »Ich habe große Angst, dass sie mich bald finden. Ich habe das Gefühl, dies könnte meine letzte Nachricht sein. Mein Leben und das meiner Familie liegt in Ihren Händen. Bitte helfen Sie uns!«, schreibt er.
Dies sind nur einige Beispiele von schutzbedürftigen Afghan*innen, die PRO ASYL vorliegen. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, hilfesuchende Menschen zu unterstützen – sei es durch direkte Beratung oder durch politische Lobbyarbeit. Auch wenn das Thema Afghanistan medial nicht mehr im Vordergrund steht: Die Angst der Menschen ist weiterhin groß.
Verwaltungsgericht Berlin fällt wichtiges Urteil
Doch trotz der Beteuerungen der Bundesregierung, sie arbeite »weiter intensiv an Lösungen, um Menschen, für die Deutschland besondere Verantwortung trägt, bei der sicheren Ausreise aus Afghanistan zu unterstützen«, drängt sich der Eindruck auf, dass ein Großteil der Afghan*innen mit Deutschlandbezug gar nicht oder nicht ausreichend unterstützt wird.
Manchmal gelingt es über das Justizsystem, Änderungen zu erreichen. So hat das Verwaltungsgericht Berlin in einem Eilverfahren Ende August entschieden, dass alle Ortskräfte der GIZ ab 2013 mit Familie (zu der auch erwachsene Kinder zu zählen sind!) berücksichtigt werden müssen. Die politischen Entscheidungsträger müssen dieses Urteil nun umgehend berücksichtigen und dürfen keine Zeit mehr verlieren!
Gefährdet? Dann droht die Kündigung
Es muss Schluss sein mit den hanebüchenen Ausreden und Verrenkungen, die angestellt werden, um Fehler zu vertuschen oder durch willkürliche Kriterienkataloge dafür zu sorgen, dass möglichst wenige Afghan*innen einen Anspruch haben, nach Deutschland einreisen zu dürfen (was sich in der jetzigen Lage ohnehin als äußerst schwierig erweist). Das Vorgehen gegenüber einheimischen Mitarbeiter*innen lässt darauf schließen, dass deren Gefährdung von deutschen Entwicklungsexperten entweder völlig unterschätzt oder aber bewusst in Kauf genommen und ignoriert wurde: Die Frankfurter Rundschau berichtete schon vor zwei Monaten, dass afghanischen Mitarbeiter*innen der GIZ, die eine Gefährdungsanzeige stellten, gekündigt wurde.
Wenn das Deutschlands Umgang mit einheimischen Kräften ist, so wird die Bundesregierung es in Zukunft schwer haben, in der Welt Verbündete zu finden und Menschen vor Ort, die sich für »westliche Werte« einsetzen.
Die Grüne Bundestagsfraktion erkundigte sich jüngst in einer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung (19–32274, vom 3.9.21) nach diesen Kündigungen. Die Antwort der Bundesregierung ist an Dreistigkeit kaum zu überbieten: »Es erfolgte keine Kündigung. Nach Einräumung einer Bedenkzeit wird das Arbeitsverhältnis im beiderseitigen Einvernehmen beendet, als unmittelbare Schutzmaßnahme für die Mitarbeitenden. Mit dem Antrag im Ortskräfteverfahren zeigen Ortskräfte an, dass sie aufgrund ihrer Tätigkeit einer Gefährdung unterliegen. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses stellt damit eine wesentliche Maßnahme der Risikominderung dar.« Fakt ist jedoch: Die bedrohten Personen standen in vielen Fällen mit leeren Händen da: Ohne geregeltes Einkommen – und trotz der Gefährdung ohne Aufnahmezusage. Wenn das Deutschlands Umgang mit einheimischen Kräften ist, so wird die Bundesregierung es in Zukunft schwer haben, in der Welt Verbündete zu finden und Menschen vor Ort, die sich für »westliche Werte« einsetzen.
*Namen sind zum Schutz der Betroffenen anonymisiert.
(er, tl, jlr)