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Afghanistan: Eine Chronik des Versagens
Taliban, die sich im Präsidentenpalast breitmachen. Ein öffentliches Leben, aus dem Frauen von jetzt auf gleich fast komplett verschwunden sind. Die Ereignisse der letzten Tage am Kabuler Flughafen: Wenn man diese Bilder sieht - wie surreal mutet es da an, dass Deutschland noch vor kurzem nach Afghanistan abschieben wollte?
Das Ausmaß der Realitätsverweigerung und des Versagens der Bundesregierung zeigt sich allein daran, dass Anfang August erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Abschiebung aus Österreich verhindern und anschließend die Zivilgesellschaft einen Abschiebestopp erkämpfen musste, damit nicht noch mehr Menschen in das lebensgefährliche Chaos in Afghanistan zurückgeschickt werden. Aber das ist nur der letzte Baustein in einer Reihe von Verfehlungen, die für viele Menschen nun letztlich tödlich enden könnten.
Die Warnungen waren da
Bereits Ende April wandte PRO ASYL sich angesichts des angekündigten Abzugs der NATO-Truppen an verschiedene deutsche Ministerien, um Vorschläge zur zügigen Aufnahme von Ortskräften zu machen – unter anderem mit der Forderung nach einer sofortigen Ausreise mit Visaerteilung bei der Ankunft. Denn wir wissen aus den Erfahrungen beim langwierigen Familiennachzug, wie lange sich Visaverfahren in Auslandsvertretungen ziehen können. Zeit, die diese Menschen nicht haben, wie viele Afghanistan-Expert*innen schon vor dem Abzug vorhersagten.
Als Ende Juni die letzten Bundeswehrsoldaten das Land verließen, wurden vorher über 20.000 Liter Bier, Wein und Sekt sowie ein 27 Tonnen schwerer Gedenkstein »in Sicherheit« gebracht. Nicht aber die Menschen, die jahrelang ihr Leben riskierten.
Als Ende Juni die letzten Bundeswehrsoldaten das Land verließen, wurden vorher über 20.000 Liter Bier, Wein und Sekt sowie ein 27 Tonnen schwerer Gedenkstein »in Sicherheit« gebracht. Nicht aber die Menschen, die jahrelang ihr Leben riskierten und für das deutsche Militär oder andere Institutionen tätig waren. Auch zu diesem Zeitpunkt gab es von zivilgesellschaftlichen Organisationen und einzelnen Parteien schon Forderungen nach einer raschen Evakuierung und deutliche Warnungen vor dem Taliban-Vormarsch. »Jetzt sind Schnelligkeit und unbürokratische Verfahren gefragt – es kommt auf jeden einzelnen Tag an«, warnte PRO ASYL am 24. Juni. Diese Warnung verhallte ungehört – wie auch alle folgenden.
Die Chronik der Schande
Denn die politisch Verantwortlichen in der Bundesregierung waren damit beschäftigt, aus wahlkampftaktischen Gründen auf Teufel komm‘ raus weiterhin Abschiebungen nach Afghanistan durchzuführen. Am 6. Juli wurden noch über 20 afghanische Geflüchtete vom Flughafen Hannover aus abgeschoben. Mitte Juli erschien ein »neuer« Lagebericht des Auswärtigen Amtes, der die Gebietsgewinne der Taliban nach dem Abzug der NATO-Truppen überhaupt nicht berücksichtigte, die katastrophale Sicherheitslage ignorierte, Gefahren für Rückkehrer*innen herunterspielte und damit den Boden für die weitere Möglichkeit von Abschiebungen bereiten sollte.
Am 3. August schließlich sollte ein geplanter Abschiebeflug sogar noch vorverlegt werden, um buchstäblich in letzter Sekunde noch Menschen abzuschieben. Erst ein EGMR-Urteil zu einem Betroffenen aus Österreich stoppte den gemeinsamen Flug der beiden Länder.
Am 9. August verfasste Bundesinnenminister Horst Seehofer gemeinsam mit seinen Kolleg*innen aus Belgien, Österreich, Griechenland, Dänemark und den Niederlanden einen Brief an die EU-Kommission. Tenor: Ein Abschiebestopp sei ein »falsches Signal«, es müsse unbedingt dafür gesorgt werden, dass Abschiebungen weiter stattfinden können. Der ehemalige Bundeswehrstandort Kundus war da schon in der Hand der Taliban.
Politiker*innen, die sich eben noch für Abschiebungen nach Afghanistan ausgesprochen haben, vergießen nun Krokodilstränen.
Erst zwei Tage später, nach einem breiten zivilgesellschaftlichen Appell, kam – ansatzweise – die Einsicht: Der Bundesinnenminister erklärte die »Aussetzung« von Abschiebemaßnahmen nach Afghanistan. Aber anstatt den Ernst der Lage zu begreifen, die geplanten Chartermaschinen zum Ausfliegen gefährdeter Personen zu nutzen und eine Luftbrücke einzurichten, die PRO ASYL schon am 9. August gefordert hatte, ließ die Bundesregierung auch diese wertvollen Tage verstreichen. Mit dem bekannten Resultat.
Dass die politisch Verantwortlichen nun von der Entwicklung in Afghanistan überrascht sind, ist erstaunlich bis absurd. Wenn Menschenrechtsorganisationen wie PRO ASYL in der Lage sind, die Situation realistisch einzuschätzen, sollte dies den höchsten politischen Ebenen dieses Landes ebenfalls möglich sein. Ebenso befremdlich wirkt es, wenn Politiker*innen, die sich eben noch für Abschiebungen nach Afghanistan ausgesprochen haben, nun Krokodilstränen vergießen.
Keine Hilfe für die Ortskräfte und andere
Viele der ehemaligen Ortskräfte hatten sich indes auf die leeren Worte (»Wir werden denen helfen – und helfen ihnen schon – die uns geholfen haben« – Regierungssprecher Seibert im Juli) verlassen. Sie wendeten sich an die spärlichen Anlaufstellen, gaben ihre Pässe ab, beantragten Visa. Und blieben in Afghanistan, denn die Anträge von Ortskräften konnten nur von dort gestellt werden und nicht aus dem Ausland. Die Menschen mussten also, anstatt sich schon einmal in Nachbarländern in Sicherheit zu bringen, dort ausharren und auf die Antwort der Deutschen warten.
Viele haben schlichtweg nicht einmal eine Rückmeldung erhalten, angekündigte Büros für Ortskräfte wurden nie eröffnet.
Bei den meisten geschah jedoch nichts – das zeigen die etlichen Zuschriften von verzweifelten Afghan*innen an die PRO ASYL-Einzelfallberatung in den letzten Wochen und Monaten. Viele haben schlichtweg nicht einmal eine Rückmeldung erhalten, angekündigte Büros für Ortskräfte wurden nie eröffnet. Noch nicht einmal eine Kontakt-E-Mail Adresse wurde veröffentlicht. Das Versprechen der offiziellen Stellen, Informationen zu liefern, die den hilfesuchenden Menschen zugänglich gemacht werden können, wurde ebensowenig eingehalten, wie die Hilfszusagen an die Ortskräfte generell.
Letztlich flohen viele der Betroffenen nach Kabul, mit der letzten Hoffnung, von dort doch noch in Sicherheit gebracht zu werden. Dort sitzen sie nun fest. Ebenso wie Menschen, die über Subunternehmen für deutsche Institutionen tätig waren und im Ortskräfte-Programm generell nicht berücksichtigt werden sollen. Ebenso wie die Familien von politisch Verfolgten, die in Deutschland Schutz erhalten haben und oft seit Jahren auf den ihnen zustehenden Familiennachzug warten. Ebenso wie z.B. junge, aber bereits volljährige Frauen, die bei Evakuierungsmaßnahmen alleine außen vor gelassen werden, weil sie angeblich nicht »zur Kernfamilie« gehören – als würden sich die Taliban für das deutsche Konzept der Kernfamilie und für die exakte Ausgestaltung von Arbeitsverträgen interessieren.
Luftbrücke jetzt! Schafft sichere Fluchtwege aus Afghanistan!
Noch immer erreichen uns Hilferufe aus Kabul – und meist wissen wir nicht, wie wir sie aktuell beantworten sollen. Denn es gibt keine transparenten Informationen darüber, wo sich gefährdete Menschen melden können, was dann passiert und ob und wie sie das Land noch verlassen können.
Es braucht JETZT eine über die erste Evakuierung hinausgehende Aufnahme von gefährdeten Menschen aus Afghanistan.
Wir fordern: Es muss eine Luftbrücke möglich gemacht werden. Und es braucht JETZT eine über die erste Evakuierung hinausgehende Aufnahme von gefährdeten Menschen aus Afghanistan.
Hierzu gehören die Ortskräfte deutscher Ministerien und Subunternehmen, Organisationen sowie deutscher bzw. deutsch finanzierter NGOs und Stiftungen inklusive ihrer Familien; Journalist*innen, die für deutsche Medien gearbeitet oder sich in ihnen kritisch geäußert haben; Wissenschaftler*innen, die in Deutschland studiert oder geforscht haben; Frauen- und Menschenrechtsverteidiger*innen, gefährdete Autor*innen, Künstler*innen, Sportler*innen sowie Angehörige religiöser, ethnischer und sexueller Minderheiten. Hinzu kommen Familienangehörige von in Deutschland lebenden Afghan*innen, die zum Teil bereits seit Jahren auf Visa zum Familiennachzug warten.