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Bittere Bilanz: Die Asylrechtsverschärfungen des Horst Seehofer
Abschiebungshaft, Duldung light, Blockadehaltung bei der Aufnahme Schutzsuchender: Unter dem Unionsgeführten Innenministerium wurde in der vergangenen Legislaturperiode eine Asylrechtsverschärfung nach der nächsten entwickelt und durchgesetzt. PRO ASYL fasst zusammen, in welchen Bereichen untragbare Zustände zur neuen Normalität wurden.
Es ist eine Szene für die Geschichtsbücher: Horst Seehofer grinste zufrieden, als er im Juli 2018, an seinem 69. Geburtstag, seine Erheiterung darüber kundtat, dass jüngst an diesem Tag 69 Afghanen abgeschoben wurden. Vor kurzem berichtete das Deutschlandradio, wie es einigen dieser Menschen heute geht: im Chaos von Kabul, gestrandet in Moria, und zurück in der bayerischen Idylle. Die Begebenheit steht symptomatisch für die restriktive Flüchtlingspolitik, die das Unionsgeführte Innenministerium (BMI) in der vergangenen Legislaturperiode durchdrückte: von der Isolierung Geflüchteter bei der Aufnahme über die Ausweitung der Abschiebehaft bis hin zur Verlagerung von Asylverfahren an die EU-Außengrenzen. Die auf Abwehr ausgerichtete Politik prägte auch das Handeln des Auswärtigen Amts. Sichere Gebiete in Afghanistan wurden dort »erfunden« – und diese dann vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zur Ablehnung von Asylanträgen herangezogen. Eine Folge dieser Fehleinschätzung: Fast 30.000 Afghan*innen in Deutschland sind nur geduldet, also offiziell ausreisepflichtig.
Letztendlich ist aber das Innenministerium das Schlüsselressort, dessen politische Leitung die Linien der Politik bestimmt. Seit 16 Jahren ist das Bundesinnenministerium in fester Hand der Union, 16 Jahre lang wurden dort progressive Ideen abgewehrt und immer wieder neue Verschärfungen im Asylrecht erdacht. Nach der Bundestagswahl könnten nun die Weichen neu gestellt werden, wenn ein starker Flüchtlingsschutz im Koalitionsvertrag verankert wird. PRO ASYL und Amnesty International haben hierfür auf einer gemeinsamen Pressekonferenz am 30. September Position bezogen. PRO ASYL hat unter dem Titel »Menschenrechte zählen« ausführlich flüchtlingspolitische Forderungen aufgestellt, die bei den Verhandlungen berücksichtigt werden müssen.
Wie restriktiv die Asylpolitik der vergangenen Jahre war, zeigen diese Beispiele.
Wer in Deutschland schutzberechtigt ist, hat ein Recht darauf, hierzulande mit seinen engsten Familienangehörigen (Ehepartner, minderjährige Kinder bzw. Eltern, wenn die anerkannte Person selbst noch ein Kind ist) zusammenzuleben. Doch die deutsche Gesetzgebung hat dieses Recht für eine große Gruppe geflüchteter Menschen stark eingeschränkt. Uneingeschränkt gilt es nur noch für jene, die einen Flüchtlingsstatus erhalten, die also in ihrer Heimat individuell politisch verfolgt sind (und auch sie warten aufgrund bürokratischer Hürden oft viele Jahre auf den Familiennachzug!)
Die Kontigentregelung verletzt Grundgesetz, Europäische Menschenrechtskonvention, EU-Grundrechte-Charta und UN-Kinderrechtskonvention.
Wer vor Krieg, Terror und Menschenrechtsverletzungen wie Folter flieht – also viele Syrer*innen und Eritreer*innen zum Beispiel – und hier den Schutzstatus »subsidiär schutzberechtigt« erhält, hat Pech gehabt: Für sie war der Familiennachzug von 2016 bis 2018 komplett ausgesetzt. Mittlerweile gilt das sogenannte Familiennachzugsneuregelungsgesetz: Es sieht vor, dass pro Monat maximal 1000 Menschen im Rahmen des Familiennachzugs zu ihrer Kernfamilie mit subsidiärem Schutz nach Deutschland kommen dürfen. Diese Kontingentregelung hat aus dem Rechtsanspruch auf Familiennachzug einen Gnadenakt des Staates gemacht. Ein Gutachten bestätigt die Verfassungswidrigkeit dieser Regelung: Grundgesetz, Europäische Menschenrechtskonvention, EU-Grundrechte-Charta und UN-Kinderrechtskonvention werden verletzt.
Das Verfahren zum Familiennachzug wird so gesteuert, dass die Rechtswidrigkeit von Gesetzgebung und Ablauf des Verfahrens von Gerichten nicht festgestellt werden kann. Es werden nur 1.000 Anträge pro Monat entgegengenommen – eine Klagemöglichkeit hat aber nur derjenige, dessen Antrag überhaupt erst einmal bearbeitet und dann abgelehnt wurde. Dadurch können gerade die Fälle, die mit ihren Anträgen nie durchkommen oder in Warteschleifen hängen, nicht vor das zuständige Verwaltungsgericht Berlin gebracht werden. In großem Stil wird also der Familiennachzug verhindert, ohne dass die Entscheidungen transparent nachvollziehbar sind und somit das Behördenhandeln durch Gerichte geprüft wird. PRO ASYL hat deswegen die Aktion »Das Warten muss ein Ende haben! Familien gehören zusammen« ins Leben gerufen. (Ober-)Bürgermeister aus unterschiedlichen Parteien gehören zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs, außerdem rund 220 zivilgesellschaftliche Organisationen.
Seit August 2018 wurden in Bayern für die Aufnahme von Flüchtlingen sogenannte Ankunfts‑, Entscheidungs- und Rückkehr-Zentren (kurz: »AnkER-Zentren«) und vergleichbare Einrichtungen geschaffen. Mit dem Begriff Anker verbinden die meisten Menschen etwas Positives: Sicherheit und Stabilität. Doch die AnkER-Zentren ziehen Geflüchtete eher in die Tiefe, als dass sie ihnen ein Ankommen in der deutschen Gesellschaft ermöglichen. Die Aufnahme von Schutzsuchenden wird nämlich von Beginn an mit Blick auf eine mögliche Ausreise oder Abschiebung organisiert. Die Zeit, in der Asylsuchende in großen Erstaufnahmeeinrichtungen verbleiben müssen, wurde seit 2015 versechsfacht: Asylsuchende müssen nunmehr bis zu 18 Monate in häufig abgelegenen Erstaufnahmeeinrichtungen leben, teilweise sogar deutlich länger. Statt in unseren Kommunen gut anzukommen und sich einzufinden, leben viele der geflüchteten Menschen gesellschaftlich isoliert und ohne Privatsphäre in Massenunterkünften.
Was das insbesondere für Frauen und Mädchen bedeutet, fasst ein aktueller Bericht treffend zusammen. AnkER-Zentren führen vielfach zu Isolation, Entrechtung und Ausgrenzung. Denn die Unterbringung erschwert den Kontakt zu Ehrenamtlichen, Beratungsstellen und Rechtsanwält*innen, wodurch Geflüchtete ihre Rechte zum Teil nur eingeschränkt wahrnehmen können. In Erstaufnahmen untergebrachte Menschen unterliegen neun Monate lang einem Arbeitsverbot und haben nur eingeschränkten Zugang zu Bildungsangeboten. Die mit den AnkER-Zentren verbundenen Ziele der Bundesregierung wie etwa eine Beschleunigung der Asylverfahren oder der Aufenthaltsbeendigung wurden laut Evaluation des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nicht erreicht. Das Konzept ist gescheitert. PRO ASYL hat deshalb zusammen mit Wohlfahrtsverbänden einen Aufruf verfasst mit dem Titel »Isolation beenden – das Ankommen fördern – faire Asylverfahren sicherstellen«, den viele Organisationen wie etwa Amnesty International unterzeichnet haben. Unter dem Motto »AnkER-Zentren: Kein Ort für Kinder, kein Ort für Niemanden!« rufen PRO ASYL, terre des hommes, Flüchtlingsräte und Jugendliche ohne Grenzen zur Abschaffung der AnkER-Zentren auf.
Offiziell heißt es »Geordnete‐Rückkehr‐Gesetz« – ein zynischer Euphemismus für ein übles Gesetzespaket, das Geflüchtete von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgrenzt, sie unverhältnismäßigen Sanktionen und einer uferlosen Ausweitung der Haftgründe aussetzt. Im August 2019 in Kraft getreten, legt es zum Beispiel fest, dass Schutzbedürftige, die zuvor in einem anderen EU-Land anerkannt wurden und weiter nach Deutschland fliehen, Sozialleistungen entzogen werden, wenn sie vollziehbar ausreisepflichtig sind, ihr Eilantrag also abgelehnt wurde. Damit setzt das Gesetz auf die Verdrängung in andere EU-Staaten, obwohl Gerichte bis hin zum Bundesverfassungsgericht Abschiebungen in Länder wie Griechenland, Italien und Bulgarien gestoppt haben, weil dort für Asylsuchende und Flüchtlinge menschenunwürdige Zustände herrschen. In Griechenland beispielsweise werden Anerkannte aus ihren Wohnungen getrieben; fliehen sie nach Deutschland, werden sie durch die im Gesetz vorgesehenen Verschärfungen unter das Existenzminimum gedrückt. Das ist, wie auch andere Kürzungen und Sanktionen im Asylbewerberleistungsgesetz verfassungswidrig – und heute dennoch geltendes Recht.
Die »Duldung light« kann auch geflüchteten Kindern einen wichtigen Weg ins Bleiberecht verbauen – selbst wenn sie sehr gut integriert sind.
Ein weiterer Punkt des Gesetzes, in dessen Vorfeld PRO ASYL an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages appelliert hatte, ihm nicht zuzustimmen, ist die sogenannte »Duldung light«. Menschen, die ihrer »besonderen Passbeschaffungspflicht« nicht nachkommen, erhalten nur noch die »Duldung light«. Ihnen wird damit pauschal Ausbildung und Arbeit verboten. Das gilt nach Ansicht des Bundesinnenministeriums sogar, wenn sie nicht abgeschoben werden können. Für Afghan*innen, die zum Beispiel nie über eine Geburtsurkunde verfügt haben und sich zum Teil viele Jahre in Drittstaaten wie dem Iran aufgehalten haben, ist es kaum möglich, eine Tazkira (Identitätsdokument in Afghanistan) zu besorgen.
Die »Duldung light« kann auch geflüchteten Kindern einen wichtigen Weg ins Bleiberecht verbauen – selbst wenn sie sehr gut integriert sind. Denn um nach der Regelung für gut integrierte Heranwachsende dauerhaft in Deutschland bleiben zu können, müssen sie vor dem 21. Geburtstag vier Jahre geduldet sein – und die »Duldung light« zählt hier nicht.
Im Februar 2020 wurde ein Konzept der Bundesregierung bekannt, das maßgeblich auf Vorschläge des BMI zurückgeht und auch die europäischen Pläne zu einem »New Pact on Migration« beeinflusst. Es beruht auf folgender Grundidee: An den EU-Außengrenzen sollen alle Asylanträge »vorgeprüft« werden. Aussortiert wird, wer über einen angeblich sicheren Drittstaat einreist – das soll auch die Türkei sein. Personen, deren Asylanträge in der Vorprüfung wegen »offensichtlicher Nicht-Schutzbedürftigkeit« abgelehnt worden sind, sollen direkt von den Außengrenzen abgeschoben werden. Das ist jedoch hochproblematisch, denn um die Asylgründe einschätzen zu können, muss in jedem Fall eine umfassende und sorgfältige Anhörung jedes Einzelnen stattfinden. Das braucht Zeit.
Hinzu kommt: Sowohl gegen eine Ablehnung des Asylantrags als auch gegen eine Verteilentscheidung muss es effektiven Rechtsschutz geben. Dass dieser in groß angelegten Verfahren an den europäischen Grenzen gewährleistet werden kann, ist stark zu bezweifeln. Wie die Praxiserfahrung von den griechischen Inseln zeigt, können faire Verfahren und effektiver Rechtsschutz für Schutzsuchende aus sehr verschiedenen Ländern mit erheblich unterschiedlicher Vorgeschichte an der Grenze nicht gewährleistet werden.
Bis zu zwei Jahre Freiheitsentzug für Menschen, deren Ansinnen es war, in Europa Schutz und Frieden zu finden.
Es geht also um eine Auslagerung der Verfahren mit dem vermutlich intendierten Nebeneffekt, dass weder die Zivilgesellschaft etwas davon mitbekommt, noch unabhängige Berater*innen und Anwält*innen Zugang zu den Schutzsuchenden erhalten. Ganz nach dem Motto: »Was weit weg vor den Toren Europas passiert, wird hier nicht für Empörung sorgen, weil es ganz einfach kaum jemand mitbekommt.«
Darüber hinaus kann der Vorschlag – auch nach Einschätzung der Bundesregierung – voraussichtlich nur mit »freiheitsbeschränkende Maßnahmen« umgesetzt werden. Denn eingereist sollen die Asylsuchenden zu dem Zeitpunkt noch nicht sein. Genau diesen Vorschlag hat die Europäische Kommission im »New Pact« für ihre Grenzverfahren übernommen. Es handelt sich also vielmehr um freiheitsentziehende Maßnahmen, die aller Wahrscheinlichkeit nach zu großen Lagern mit absehbar katastrophalen humanitären Zuständen führen werden. In der Realität käme es zu de facto Inhaftierung: Menschen, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen, würden eingesperrt. Angesichts dieser empörenden Pläne wandte sich PRO ASYL im Vorfeld der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Frühjahr 2020 mit einem Appell an die Öffentlichkeit.
Noch am 10. August – fünf Tage vor Machtübernahme der Taliban – veröffentlichte PRO ASYL gemeinsam mit 25 weiteren Organisationen einen Aufruf an die Bundesregierung, Abschiebungen nach Afghanistan umgehend auszusetzen (wie wir es bereits unzählige Male zuvor getan hatten). Dass dies zu jenem Zeitpunkt, zu dem die Taliban bereits weite Teile des Landes unter ihre Kontrolle gebracht hatten, überhaupt noch nötig war, lässt eine gewisse Realitätsverweigerung des BMI vermuten. Die afghanische Regierung hatte die europäischen Staaten bereits im Juli aufgefordert, vorläufig keine Abschiebungen mehr durchzuführen. Norwegen, Finnland und Schweden sind dieser Aufforderung nachgekommen. Auch die Grenzschutzagentur Frontex hatte Anfang August bekanntgegeben, keine Abschiebungen nach Afghanistan mehr zu unterstützen.
Noch immer gibt es keinen Abschiebestopp. Bisher gibt es lediglich eine Aussetzung der Abschiebungen nach Afghanistan.
Trotzdem wollten Deutschland und Österreich auf Biegen und Brechen am 3. August noch einen gemeinsamen Abschiebungsflug nach Afghanistan durchsetzen. Die Abschiebung aus Österreich wurde durch eine Eilentscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mit Verweis auf die dortige Sicherheitslage gestoppt. Das BMI jedoch hielt bis zuletzt an der Durchführung der Abschiebung fest – und stoppte den Flug erst in letzter Minute aufgrund eines Anschlags in Kabul. Nichtsdestotrotz unterzeichnete Seehofer gemeinsam mit einigen europäischen Amtskollegen noch am 5. August einen Brief an die Europäische Kommission, in dem er die Fortsetzung der Abschiebungen in das Kriegsland forderte. Erst am 11. August wurde eine vorläufige Aussetzung der Abschiebungen nach Afghanistan bekannt gemacht – der notwendige Abschiebungsstopp steht noch aus.
Die künftige Bundesregierung muss zurückkehren zu einer humanen Politik, deren unantastbare Basis das Menschen- und Völkerrecht ist. Damit Deutschland wieder zu einem Land wird, das seine Werte nicht nur in Sonntagsreden betont, sondern sie lebt. Damit die Europäische Union tatsächlich ein Raum der Freiheit und des Rechts ist. Das Bundesinnenministerium spielt dabei eine Schlüsselrolle. Denn wie unsere Gesellschaft mit den Schutzbedürftigen und Ausgegrenzten umgeht, sagt viel darüber aus, wie es in unserem Land um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und eine liberale Ordnung bestellt ist.
(er)