16.09.2021
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Kein Ort für Kinder. Foto: Infomobil-Team

In AnkER-Zentren werden Schutzsuchende isoliert, entrechtet, entmündigt und zermürbt. Diese Kritik reißt seit Eröffnung der ersten Zentren 2018 nicht ab. Nun bekräftigen terre des hommes, PRO ASYL und 100 weitere Organisationen sie – mit Blick auf Kinder und Familien unter dem Motto: AnkER-Zentren: Kein Ort für Kinder, kein Ort für Niemanden!

»Alle Bewohner*innen hier sind sich einig, dass die Poli­tik uns nicht in die Gesell­schaft inte­grie­ren will, des­we­gen haben sie uns in der Unter­kunft vom Rest der Gesell­schaft iso­liert, das ist zumin­dest unser Gefühl.« Die­ses Zitat eines Jugend­li­chen aus einer Unter­kunft, ver­öf­fent­licht auf der Home­page zum Auf­ruf, fasst einen der Kri­tik­punk­te zusam­men: »Fami­li­en müs­sen bis zu sechs Mona­te dort leben. In die­sen gro­ßen und oft abge­le­ge­nen Ein­rich­tun­gen sind sie vom Rest der Gesell­schaft iso­liert und unter­lie­gen Restrik­tio­nen wie Arbeits­ver­bo­ten und Resi­denz­pflicht«, heißt es in dem Auf­ruf, den PRO ASYL, terre des hom­mes, Jugend­li­che ohne Gren­zen, die Lan­des­flücht­lings­rä­te sowie rund 100 wei­te­re Orga­ni­sa­tio­nen unter­zeich­net und zwei Wochen vor der Bun­des­tags­wahl ver­öf­fent­licht haben.

Die For­de­run­gen unter dem Mot­to: AnkER-Zen­tren: Kein Ort für Kin­der, kein Ort für Nie­man­den! lau­ten: AnkER-Zen­tren müs­sen abge­schafft, der Auf­ent­halt in Auf­nah­me­ein­rich­tun­gen auf maxi­mal vier Wochen ver­kürzt und die Geflüch­te­ten schnellst­mög­lich in Woh­nun­gen unter­ge­bracht werden.

Kinder sind mitten drin in Frust, Gewalt und Abschiebungen

Denn in den gro­ßen und oft abge­le­ge­nen Ein­rich­tun­gen sind die Asyl­su­chen­den von der Gesell­schaft ana­log und digi­tal iso­liert: kaum Bus­se oder Bah­nen, sel­ten Inter­net oder WLAN, Besuchs­be­schrän­kun­gen und kein regu­lä­rer Schul­be­such. Den­noch müs­sen Fami­li­en bis zu sechs Mona­ten in den Zen­tren blei­ben, ande­re Asyl­su­chen­de regel­mä­ßig sogar bis zu 18 Mona­ten. So wer­den Frau­en, Män­ner und Kin­der dar­an gehin­dert, sich früh in Deutsch­land zu integrieren.

»Es ist unmög­lich für die Kin­der, Streit und Gewalt nicht mit­zu­be­kom­men. Das hallt ja über den gan­zen Hof, das bekom­men alle mit«, beschreibt eine Ehren­amt­li­che aus einer Auf­nah­me­ein­rich­tung ein wei­te­res Pro­blem der gro­ßen Zen­tren: Kin­der erle­ben struk­tu­rel­le Gewalt, strei­ten­de Erwach­se­ne, die am Ende ihrer psy­chi­schen Kräf­te sind, und frus­trier­te Jugend­li­che von allen Sei­ten direkt mit, ob sie wol­len oder nicht. Und sie bekom­men auch früh­mor­gend­li­che Abschie­bun­gen und ande­re Poli­zei­ein­sät­ze in den Nach­bar­zim­mern mit. Auch des­halb gilt: AnkER-Zen­tren sind kein Ort für Kinder!

»Beson­ders wenn die Fami­li­en lan­ge da sind, ist die Schu­le ein Pro­blem. Es gibt ein­fach kei­ne Schule.«

»Unsere Kinder verlieren hier ihre Zukunft«

Auch Ablen­kung gibt es sel­ten, an Schu­le, Kitas oder Plät­ze zum Spie­len oder Ler­nen ist kaum zu den­ken, wie ein Mit­ar­bei­ter sagt: »Das ist eigent­lich das Ers­te, dass die Eltern mich fra­gen: Wann kommt mein Kind in eine rich­ti­ge Schu­le?« Und ein Haupt­amt­li­cher berich­tet: »Beson­ders wenn die Fami­li­en lan­ge da sind, ist die Schu­le ein Pro­blem. Es gibt ein­fach kei­ne Schu­le. Die Eltern sagen dann zu mir: Unse­re Kin­der ver­lie­ren hier ihre Zukunft.«

Kein Ort für Kin­der. Und auch kei­ner für Erwach­se­ne. Die Ein­rich­tun­gen sind nicht nur oft abge­le­gen, auch der Zugang wird restrik­tiv gehand­habt, so dass es »für unab­hän­gi­ge Orga­ni­sa­tio­nen nahe­zu unmög­lich ist, die Asyl­su­chen­den zu unter­stüt­zen«, heißt es im Auf­ruf wei­ter. Damit wird die Art der Unter­brin­gung auch ent­schei­dend für die Fair­ness des Asyl­ver­fah­rens ins­ge­samt. Denn unab­hän­gi­ge recht­li­che Unter­stüt­zung sowie Asyl­ver­fah­rens­be­ra­tung sind essen­ti­ell für ein fai­res Asylverfahren.

70

Orga­ni­sa­tio­nen for­der­ten schon im Juli: »Iso­la­ti­on been­den – das Ankom­men för­dern – fai­re Asyl­ver­fah­ren sicherstellen«

Zeitdruck und Stress: Kinder verschweigen ihre Erlebnisse

Doch unter die­sen Bedin­gun­gen kön­nen in vie­len AnkER-Zen­tren die Men­schen ihre Rech­te häu­fig nur ein­ge­schränkt wahr­neh­men. So for­der­ten auch schon Ende Juli rund 70 Orga­ni­sa­tio­nen im Auf­ruf »Iso­la­ti­on been­den – das Ankom­men för­dern – fai­re Asyl­ver­fah­ren sicher­stel­len«: »Gewähr­leis­tung eines fai­ren Asyl­ver­fah­rens; Sicher­stel­lung einer erreich­ba­ren, behör­den­un­ab­hän­gi­gen Asyl­ver­fah­rens­be­ra­tung für die gesam­te Ver­fah­rens­dau­er; Zugang von ehren­amt­li­chen Initia­ti­ven und haupt­amt­li­chen Bera­ten­den.« Zu einem fai­ren Asyl­ver­fah­ren gehört, für die gesam­te Ver­fah­rens­dau­er eine behör­den­un­ab­hän­gi­ge Bera­tung zu ermög­li­chen, die die Schutz­su­chen­den auch bis zu den Gerich­ten beglei­tet. Nur so kön­nen behörd­li­che Fehl­ent­schei­dun­gen effek­tiv kor­ri­giert werden.

Zeit­druck, Stress und zu wenig Bera­tung füh­ren zudem dazu, dass beson­ders vul­nerable Grup­pen wie Kin­der und Frau­en ihre indi­vi­du­el­len Geschich­ten und Lei­dens­we­ge oft ver­schwei­gen: Denn, so heißt es im aktu­el­len Auf­ruf wei­ter: »Damit Men­schen über erlit­te­ne Ver­fol­gung, Gewalt und Demü­ti­gun­gen spre­chen kön­nen, braucht es jedoch Zeit, Ver­trau­ens­auf­bau und unab­hän­gi­ge Bera­tung vor der Anhö­rung. Sind die­se Vor­aus­set­zun­gen nicht gege­ben, wer­den ent­schei­den­de Erleb­nis­se, zum Bei­spiel sexua­li­sier­te Gewalt oder spe­zi­el­le Flucht­grün­de von Kin­dern, aus Scham oder Unkennt­nis ver­schwie­gen und Asyl­an­trä­ge wer­den trotz Gefah­ren im Her­kunfts­land abgelehnt.«

Frau­en und Mäd­chen haben Angst vor Über­grif­fen durch männ­li­che Bewoh­ner, Secu­ri­ty-Per­so­nal oder sons­ti­ge Ange­stell­te – zumal sie in vie­len Unter­künf­ten weder die Duschen noch ihr Zim­mer abschlie­ßen können

Schnelle Verfahren haben fatale Folgen

In einer Stu­die von terre des hom­mes wird eine Per­son zitiert, die haupt­amt­lich in einer Ein­rich­tung in Baden-Würt­tem­berg arbei­tet: »Die Schnel­lig­keit hat zum Teil fata­le Fol­gen für die Asyl­ver­fah­ren. In den meis­ten Fäl­len erzäh­len die fast nichts Rele­van­tes. Mir erzäh­len sie dann viel spä­ter, dass sie ver­ge­wal­tigt wor­den sind oder ande­re schlim­me Sachen – im Pro­to­koll steht aber nichts davon. Die Fol­ge ist ja auch, dass dann bei der Anhö­rung kein Son­der­be­auf­trag­ter ist.« Und das, obwohl EU- und Völ­ker­recht gera­de vul­ner­ablen Per­so­nen beson­de­re Ver­fah­rens­rech­te und sozi­al­recht­li­che Ansprü­che garan­tie­ren – die aber in den AnkER-Zen­tren oft nicht beach­tet wer­den. In der Stu­die hat terre des hom­mes die Ent­wick­lung der Auf­nah­me­be­din­gun­gen und ihre Aus­wir­kun­gen auf Kin­der seit dem Jahr 2015 nach­skiz­ziert und analysiert.

Auch Pri­vat­sphä­re gibt es kaum in den Sam­mel­un­ter­künf­ten, wor­un­ter beson­ders Frau­en und Mäd­chen lei­den: So kön­nen sie Gewalt, die sie in ihrer Hei­mat oder auf der Flucht erlit­ten haben, schlech­ter ver­ar­bei­ten. Und sie haben Angst vor Über­grif­fen durch männ­li­che Bewoh­ner, Secu­ri­ty-Per­so­nal oder sons­ti­ge Ange­stell­te – zumal sie in vie­len Unter­künf­ten weder die Duschen noch ihr Zim­mer abschlie­ßen kön­nen. »Das ist sehr gro­ßes Pro­blem: Dort hast du kei­nen Schlüs­sel. Nachts habe ich den Schrank vor die Tür gestellt, weil ich Angst hat­te«, berich­tet eine Asyl­su­chen­de aus einer Unter­kunft in einer von PRO ASYL her­aus­ge­ge­ben Stu­die der Uni­ver­si­tät Kiel.

Von die­sen Pro­ble­men, bezo­gen beson­ders auf Frau­en und Mäd­chen, wird auch im Schat­ten­be­richt von PRO ASYL, der Uni­ver­si­tät Göt­tin­gen und wei­te­ren Orga­ni­sa­tio­nen zur Umset­zung der Istan­bul-Kon­ven­ti­on vom Juli 2021 berich­tet. Der 56-sei­ti­ge Schat­ten­be­richt zeigt (hier zur eng­li­schen Ver­si­on), dass Deutsch­land geflüch­te­te Frau­en und Mäd­chen nicht aus­rei­chend schützt und den Vor­ga­ben der Istan­bul-Kon­ven­ti­on somit nicht gerecht wird.

Forderungen für Kinder und Erwachsene 

Mit Blick auf Auf­nah­me­ein­rich­tun­gen und AnkER-zen­tren for­dern terre des hom­mes, PRO ASYL, Jugend­li­che ohne Gren­zen, die Lan­des­flücht­lings­rä­te und vie­le wei­te­re Organisationen:

  • Der Auf­ent­halt in Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen muss auf weni­ge Wochen begrenzt wer­den, damit geflüch­te­te Kin­der, Jugend­li­che und Erwach­se­ne schnellst­mög­lich in Städ­ten und Kom­mu­nen ankom­men kön­nen. Hier­zu ist eine Ände­rung von § 47 AsylG notwendig.
  • Die neue Bun­des­re­gie­rung muss für qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­ge Asyl­ver­fah­ren ein­schließ­lich unab­hän­gi­ger Unter­stüt­zung und Rechts- und Ver­fah­rens­be­ra­tung sorgen.
  • AnkER-Zen­tren und funk­ti­ons­glei­che Ein­rich­tun­gen müs­sen abge­schafft werden.
  • Enge, Lärm, kein Platz zum Spie­len und Ler­nen, Mit­er­le­ben von Gewalt und Abschie­bun­gen – dar­un­ter lei­den vie­le Kin­der auch in Gemein­schafts­un­ter­künf­ten. Die Unter­brin­gung in Woh­nun­gen muss daher Vor­rang vor der Unter­brin­gung in Sam­mel­un­ter­künf­ten haben. § 53 AsylG muss ent­spre­chend geän­dert werden.

Zur Info:

Laut BAMF wur­den die ers­ten sie­ben AnkER-Ein­rich­tun­gen in Bay­ern (Augsburg/Donauwörth, Bam­berg, Deg­gen­dorf, Man­ching, Regens­burg, Schwein­furt und Zirn­dorf) am 1. August 2018 in Betrieb genom­men, eben­so die säch­si­sche AnkER-Ein­rich­tung in Dres­den. Am 1. Okto­ber 2018 öff­ne­te die AnkER-Ein­rich­tung in Lebach im Saarland.
Inzwi­schen gibt es AnkER-Zen­tren in Bay­ern, Sach­sen und im Saar­land. Funk­ti­ons­glei­che Ein­rich­tun­gen exis­tie­ren in Baden-Würt­tem­berg, Bran­den­burg, Meck­len­burg-Vor­pom­mern, Sach­sen, Ham­burg und Schleswig-Holstein.

 

(wr)