Hintergrund
Aufnahme von nur einigen Hundert – Zivilgesellschaftlicher Druck darf nicht nachlassen
Seit zwei Jahren gibt es in Deutschland eine breite Debatte um die Aufnahme von Schutzsuchenden. Kommunen und Bundesländer erklären ihre Aufnahmebereitschaft. Dieser wird das zuständige Bundesinnenministerium jedoch nur scheinbar gerecht. Ein Überblick über die Bewegung für die Aufnahme Schutzsuchender sowie die aktuellen Aufnahmeprogramme.
In Deutschland gibt es zahlreiche Initiativen in Bundesländern und Kommunen zur Aufnahme schutzsuchender Menschen. Die signalisierte Aufnahmebereitschaft ist bitter nötig, sieht man sich die ambitionslosen Aufnahmeprogramme des Bundes und deren schleppende Umsetzung an.
Spätestens seit den Schließungen der italienischen Häfen im Sommer 2018 durch den damaligen Innenminister, Matteo Salvini, und die Bilder blockierter Seenotrettungsschiffe vor den Küsten Italiens und Maltas wollten einige kommunale und landespolitische Akteur*innen in Deutschland nicht länger tatenlos zusehen.
Mehr als 150 Kommunen haben sich seitdem zum »Sicheren Hafen« erklärt und damit ihre Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, signalisiert. In den Bundesländern sind Bemühungen, eigene Landesaufnahmeprogramme zu schaffen um Menschen über die bestehenden Verpflichtungen hinaus aufzunehmen, unterschiedlich weit fortgeschritten.
Auch die Absichtserklärungen der »Sicheren Häfen« sowie der einzelnen Länder sind zum Teil sehr unterschiedlich. Nachdem 2018 und 2019 der Fokus auf dem zentralen Mittelmeer und von zivilen Seenotrettungsschiffen aus Seenot Geretteten lag, hat sich dies angesichts der katastrophalen Situation in den Lagern auf den griechischen Inseln in den letzten Monaten auf die Aufnahme von Asylsuchenden aus Griechenland verschoben. Zudem wird auch die Aufnahme von Flüchtlingen gefordert, die sich außerhalb Europas befinden.
Bootsflüchtlinge: Mangelhafte Umsetzung zugesagter Aufnahmen
Kurz nach Amtsantritt, im Juni 2018, schließt der rechtsradikale Innenminister Italiens, Matteo Salvini, die Häfen des Landes für Schiffe, die Menschen aus Seenot gerettet haben. Die maltesische Regierung tut es ihm wenig später gleich.
In der Folge kommt es wiederholt zu wochenlangen Hängepartien, in denen gerettete Bootsflüchtlinge zur Verhandlungsmasse degradiert werden. Während EU-Staaten über ihre Aufnahme streiten, müssen die Menschen auf den Schiffen ausharren; immer wieder kommt es lediglich zu Evakuierungen medizinischer Notfälle.
In Europa und allen voran in Deutschland kommt es daraufhin zu Protesten gegen diese menschenverachtende Politik. Die Bewegung »Seebrücke« wird ins Leben gerufen und organisiert mehrere Großdemonstrationen. Die ersten Städte und Kommunen erklären sich zu »Sicheren Häfen« für Schutzsuchende.
Bundesinnenminister Horst Seehofer blockt allerdings jegliche kommunale Initiative ab. Sein Ziel sei eine »europäische Lösung«. Eine kleine Variante einer solchen kommt erst am 23. September 2019 auf Malta zustande. Dort einigen sich vier EU-Staaten auf eine kleinteilige Regelung zur Aufnahme von im zentralen Mittelmeer durch zivile Seenotrettungsorganisationen geretteter Menschen.
Doch nicht nur die politischen Lösungsansätze sind eng geführt, auch die Umsetzung der Aufnahmezusagen geschieht äußerst langsam. Schutzsuchende müssen mehrere Monate nach ihrer Ausschiffung in Malta oder Italien auf ihre Verteilung in andere europäische Staaten warten.
Durch den mittlerweile abgelaufenen Malta-Mechanismus sollten aus Seenot Gerettete innerhalb von vier Wochen nach ihrer Ausschiffung überstellt werden. Bis heute wurde jedoch kein einziger der Schutzsuchenden, die nach September 2019 im Mittelmeer gerettet wurden, nach Deutschland überstellt.
Insgesamt hat Deutschland seit Juni 2018 die Übernahme von über 1.000 Schutzsuchenden aus Italien und Malta zugesagt. Bisher wurden davon lediglich 502 Schutzsuchende überstellt.
Ambitionsloses Aufnahmeprogramm aus griechischen Elendslagern
Im Herbst 2019 spitzt sich die Lage in den chronisch überfüllten EU-Hotspots auf den griechischen Inseln erneut zu. Über Monate hinweg gibt es breite Forderungen aus der Zivilgesellschaft und von kommunalen und landespolitischen Akteuren, Schutzsuchende aus Griechenland aufzunehmen.
Anfang März 2020 kommt es an der Landgrenze zwischen Griechenland und der Türkei es zu massiver Gewalt gegen Schutzsuchende, mindestens eine Person stirbt. Kurzerhand setzt die griechische Regierung das Asylrecht für einen Monat aus. Griechenland sei der »europäische Schild«, lobt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen das rechtswidrige Vorgehen.
Die Lager auf den Ägäis-Inseln sind zu dieser Zeit mit 41.000 Schutzsuchenden hoffnungslos überfüllt. Mitte März folgt Horst Seehofers lange beschworene europäische Lösung: lediglich 1.600 Minderjährige mit besonderem Schutzbedarf sollen von einer Koalition aufnahmebereiter Staaten aufgenommen werden. Deutschland hat zugesagt, 350 von ihnen aufzunehmen.
Bis Mitte Juni wurden lediglich 47 unbegleitete Minderjährige nach Deutschland überstellt. Seehofers Aussagen folgend sollen weitere 243 Minderjährige zusammen mit ihren Familienangehörigen aufgenommen werden. Insgesamt würde sich die Zahl der nach Deutschland Umverteilten dann auf bis zu 900 Personen belaufen. Die Behauptung, es gebe mehr Aufnahmeangebote als zu verteilende Personen, ist angesichts der Verhältnisse in den griechischen Lagern mehr als zynisch.
18 von den 47 bisher Aufgenommenen hatten Verwandtschaft in Deutschland, woraus sich ein Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung ergibt. Doch da deutsche Behörden systematisch das Recht auf Einheit der Familie verhindern, müssen tausende Schutzsuchende mit Angehörigen in Deutschland in Griechenland bleiben.
Genauer: In den Jahren 2018 und 2019 lehnte das BAMF knapp 3.000 von 3.800 Übernahmeersuchen aus Griechenland – zum Großteil aufgrund familiärer Bindungen – ab. Viele der Antragsteller*innen befinden sich in den EU-Hotspots auf den Inseln. Ihre Übernahme wäre bereits vor der Notsituation eine Pflicht gewesen und hätte menschliches Leid gemindert.
Für Schutzsuchende, die in Griechenland keine Perspektive haben, gibt es kaum Möglichkeiten der legalen Weiterreise in andere EU-Länder. Sie müssen sich in die Hände von Schleppern begeben, um auf der gefährlichen Balkan-Route ihren Weg fortzusetzen. Brutale Gewaltexzesse und völkerrechtswidrige Pushbacks an der ungarisch-serbischen und kroatisch-bosnischen EU-Außengrenze sind gut dokumentiert.
SEEHOFER speist Aufnahmebereitschaft von KOMMUNEN UND LÄNDERN ab
Seehofer stellt sich derweil gegen eine Aufnahme durch die Bundesländer. Mit dem Verweis auf den Vorrang europarechtlicher Regelungen, etwa der Dublin-III-Verordnung, räumt er Forderungen nach Landesaufnahmeprogrammen für Schutzsuchende, die sich bereits in Europa befinden, ab.
Das Bundesinnenministerium, das sich tausendfach, weigert die Dublin-III-Verordnung menschenrechtskonform anzuwenden, führt diese Regelung an, um humanitäre Aufnahmeprogramme der Bundesländer auszubremsen. Darüber hinaus ignoriert Seehofer die große Hilfs- und Aufnahmebereitschaft von Kommunen und einigen Ländern.
In Thüringen hat das Kabinett am 29. Mai 2020 ein Landesaufnahmeprogramm für 500 Schutzsuchende aus Griechenland beschlossen. Im nächsten Schritt muss die Minderheitsregierung die Zustimmung des Landtags erhalten. In Berlin hat sich der Senat am 16.Juni 2020 auf ein Landesaufnahmeprogramm von 300 Schutzsuchenden aus Griechenland geeinigt. Zur Umsetzung muss nun der Bundesinnenminister sein Einvernehmen geben. Meint es der Berliner Senat mit seiner Initiative ernst, darf er sich nicht von der Aufnahme des Bundes abspeisen lassen.
In Hessen und Rheinland-Pfalz gibt es darüber hinaus Initiativen, unter anderem der jeweiligen Landesflüchtlingsräte, zur Aufnahme von Schutzsuchenden, die sich innerhalb Europas, sowie von Schutzsuchenden, die sich noch außerhalb Europas befinden.
So können aus Seenot Gerettete oder Schutzsuchende aus Griechenland zusätzlich zu existierenden Aufnahmeverpflichtungen nach dem Königsteiner Schlüssel aufgenommen werden. Zudem lassen sich weitere dringend notwendige Plätze für die Aufnahme von Schutzsuchenden außerhalb Europas schaffen.
Großer Bedarf für Resettlement von Schutzsuchenden außerhalb der EU
Durch die restriktive EU-Flüchtlingspolitik sind für Schutzsuchende überall an den europäischen Außengrenzen und weit davon entfernt Menschenrechtsverletzungen Teil ihrer alltäglichen Realität. Ohne legale Einreisemöglichkeiten werden Menschen auf der Suche nach Schutz großen Gefahren ausgesetzt.
Nach aktuellen Zahlen des UNHCR ist die Anzahl von Menschen auf der Flucht auf fast 80 Millionen Menschen weltweit gestiegen. Davon benötigen über 1,4 Millionen Menschen einen Resettlement-Platz, also eine Aufnahme durch einen Staat, der ihnen langfristig Schutz bieten kann.
Während der Bedarf an Resettlement-Plätzen steigt, gehen die angebotenen Aufnahmeplätze stark zurück. Weltweit haben sich die Aufnahmen 2019 im Vergleich zu 2016 halbiert.
Dies ist vor allem auf die Politik der Trump-Administration in den USA zurückzuführen. Wurden 2016 unter Barack Obama noch über 78.761 Schutzsuchende per Resettlement durch die USA aufgenommen, ist diese Zahl in 2019 auf 21.159 Menschen gesunken.
Deutschland und die EU sind gefordert, dieser dramatischen Entwicklung etwas entgegen zu setzen. Für 2020 haben die EU-Staaten jedoch lediglich 30.000 Resettlement-Plätze zugesagt. Auch deren Umsetzung ist aufgrund der Corona-Pandemie fraglich.
Resettlement darf nicht zum Feigenblatt europäischer Abschottungspolitik werden
Deutschland hat zugesagt in diesem Rahmen 5.500 Schutzsuchende aus Ägypten, Jordanien, Kenia, Libanon, Niger und der Türkei aufzunehmen. Gerade die Aufnahmen aus der Türkei im Rahmen des EU-Türkei-Deals zeigen deutlich, was humanitäre Aufnahmeprogramme nicht sein dürfen: Legitimation für Grenzschließungen und für die Verweigerung des Zugangs zum individuellen Recht auf Asyl in Europa.
Im Bürgerkriegsland Libyen sind 48.627 Schutzsuchende durch den UNHCR registriert, die Dunkelziffer liegt weit höher. Viele von ihnen sitzen in Lagern fest, in denen Folter und willkürliche Erschießungen an der Tagesordnung sind.
»Die unsägliche Kooperation der EU und ihrer Mitgliedsstaaten mit libyschen Milizen und die freiwillige Aufnahme einiger Weniger sind zwei Seiten derselben Medaille.«
Seit Einrichtung des Notfallevakuierungsmechanismus des UNHCR Ende 2017 wurden 3.208 Menschen aus Libyen nach Niger evakuiert, 2.454 von ihnen wurden von dort aus in einen Resettlement-Aufnahmestaat umgesiedelt. Deutschland nahm bisher 288 Schutzsuchende über diesen Weg auf.
Die Aufnahmen im Rahmen dieses Evakuierungsmechanismus sind nicht mehr als ein humanitäres Feigenblatt. Die unsägliche Kooperation der EU und ihrer Mitgliedsstaaten mit libyschen Milizen und die freiwillige Aufnahme einiger Weniger sind zwei Seiten derselben Medaille. Alleine zwischen Anfang Januar und Ende Mai 2020 wurden 3.852 Schutzsuchende von der sogenannten »libyschen Küstenwache« abgefangen und zurück geschleppt in die Haft- und Folterlager. Die »libysche Küstenwache« wird durch die EU ausgerüstet und trainiert.
Nur legale Einreisewege beenden das Sterben von Menschen auf der Flucht
Nach offiziellen Zahlen sind 2019 im Mittelmeer 1.885 Menschen gestorben, noch mehr Menschen verlieren ihr Leben auf dem Fluchtweg durch die Sahara. Um das Sterben zu beenden, müssen legale Einreisemöglichkeiten geschaffen werden. Das Bundesinnenministerium sollte die Aufnahmebereitschaft der Kommunen und Länder ernst nehmen und mehr Resettlement-Plätze bereitstellen.
Resettlement stellt nur eine Möglichkeit der legalen Einreise nach Europa dar. Die Aufnahmen müssen sich am durch den UNHCR ermittelten Bedarf orientieren, sie dürfen nicht mit zum Gnadenakt einer auf Abschottung ausgelegten Flüchtlingspolitik verkommen.
(Dominik Meyer)