News
Zweifel am EU-Türkei-Deal: Deutsches Gericht stoppt Abschiebung nach Griechenland
Das VG München hat die Überstellung eines Flüchtlings aus Syrien nach Griechenland verhindert, weil ihm dort aufgrund des EU-Türkei-Deals die Abschiebung in die Türkei droht. Der Deal steht bereits seit seiner Vereinbarung öffentlich in der Kritik. Der aktuelle Umgang der Türkei mit Geflüchteten aus Syrien bestätigt die Befürchtungen.
Das Verwaltungsgericht München hatte am 17. Juli 2019 im Eilverfahren die bereits geplante Dublin-Rückführung nach Griechenland gestoppt, weil dem Schutzsuchenden dort eine Kettenabschiebung in die Türkei drohen würde.
PRO ASYL und Equal Rights Beyond Borders begleiten das Verfahren in Deutschland, in Griechenland unterstützt unsere griechische Partnerorganisation Refugee Support Aegean (RSA) den Fall. Dies ist der erste bekannte Fall dieser Art in Deutschland.
Keine inhaltliche Prüfung des Asylgesuchs
2018 war der junge Syrer über die Türkei nach Kos geflohen, eine der griechischen Inseln in der Ägäis. Wie es der EU-Türkei Deal vorsieht, wurde sein Asylantrag dort als »unzulässig« abgelehnt, da die Türkei für ihn ein »sicherer Drittstaat« sei. Sein Asylantrag wurde also gar nicht erst inhaltlich geprüft. Dass er als syrischer Flüchtling normalerweise in Europa einen Schutzstatus erhalten würde, hat keine Rolle gespielt. Damit drohte die Abschiebung in die Türkei.
Am 18. März 2016 wurde zwischen der EU und der Türkei vereinbart, dass auf griechischen Inseln ankommende Asylsuchende in die Türkei zurückgeschoben werden. Statt den Asylantrag inhaltlich zu prüfen, werden die Betroffenen dafür auf den Inseln festgehalten. Die Konsequenz: Tausende Menschen leben unter unmenschlichen Zuständen, die katastrophale Lage vor Ort scheint zur Normalität geworden zu sein.
Seit 2016 hat sich die Situation in der Türkei verschlechtert, besonders durch die repressive Antwort der türkischen Regierung auf den gescheiterten Putschversuch – nirgendwo sonst sind so viele Journalist*innen inhaftiert, Menschenrechtler*innen werden vor Gericht gestellt. Besonders fatal: Die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) nur mit geographischem Vorbehalt ratifiziert: Sie gilt nicht im Hinblick auf Schutzsuchende außerhalb Europas. Vor allem in den letzten Monaten schiebt sie sogar Hunderte Flüchtlinge nach Syrien ab.
Flucht vor der drohenden Abschiebung
Aus Angst davor floh der junge Syrer weiter nach Deutschland, wo seine Familie wohnt. Kurz nach der deutsch-österreichischen Grenze wurde er von der Bundespolizei aufgegriffen und sofort in Haft genommen. Aus der Haft heraus stellte er einen Asylantrag. Dieser wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) abgelehnt, da Griechenland nach der Dublin-Verordnung für die Prüfung des Asylverfahrens zuständig sei. Erneut wurde der Schutzsuchende also unabhängig von seiner Fluchtgeschichte aus formalen Gründen abgelehnt, eine inhaltliche Prüfung erfolgte nicht. Die Überstellung nach Griechenland war bereits angesetzt. Nur dank seiner Familie in Deutschland, dem enormen Engagement der Rechtsvertretung sowie der unterstützenden Organisationen konnte der Betroffene gegen diese Entscheidung vor Gericht ziehen.
Nur dank seiner Familie in Deutschland, dem enormen Engagement der Rechtsvertretung sowie der unterstützenden Organisationen konnte der Betroffene gegen diese Entscheidung vor Gericht ziehen.
Deutschland: VG stoppt Abschiebung wegen Zweifel an der Rechtmäßigkeit
Das VG stoppt die Abschiebung mit der Begründung: Aufgrund der bereits ergangenen Unzulässigkeitsentscheidung in Griechenland droht dem Kläger bei Rückkehr die unmittelbare Gefahr der Abschiebung in die Türkei. Dies ist insbesondere deshalb rechtlich fragwürdig, da Syrer*innen in der Türkei keinen Flüchtlingsstatus gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention, sondern nur einen sogenannten »temporären Schutz« erhalten. Der allerdings gewährt weder den gleichen Schutz noch die gleichen Rechte, die Flüchtlingen gemäß der Konvention zustehen. Das Gericht stellt daher die Frage, ob es in Griechenland systemische Mängel bezüglich der Anwendung des europarechtlichen Konzeptes des »sicheren Drittstaats« gäbe, als der die Türkei eingestuft wird.
In Griechenland droht Haft
Dass dies der erste bekannte Fall vor einem deutschen Gericht ist, hat vor allem damit zu tun, dass die Betroffenen in Griechenland auf den Ägäis-Inseln – ohne effektiven Rechtsschutz – festgehalten werden. Sie werden verpflichtet, für die Länge des Verfahrens auf den Inseln auszuharren. Zweck des Deals war, dass die Schutzsuchenden das griechische Festland nie erreichen, sondern möglichst schnell in die Türkei zurückgeschoben werden oder, aufgrund der Situation und der Perspektivlosigkeit in den Hotspots, freiwillig ausreisen.
Dass dies der erste bekannte Fall vor einem deutschen Gericht ist, hat vor allem damit zu tun, dass die Betroffenen in Griechenland auf den Ägäis-Inseln – ohne effektiven Rechtsschutz – festgehalten werden.
Auch in diesem Fall konnte der junge Syrer nur zu seiner Familie in Deutschland gelangen, weil er Kos eigenständig verlassen hat. Wegen dieser Überschreitung droht ihm im Falle der Abschiebung nach Griechenland automatisch Haft – ohne weitere Prüfung, für unbestimmte Zeit.
Systemische Mängel im Asylsystem
Auch jenseits der Haft ist die Lage auf den Inseln und dem Festland alarmierend, Unterbringung oder andere Formen der Unterstützung sind nicht gesichert. Die systematischen Mängel des griechischen Aufnahmesystems halten an. Das gilt in sämtlichen Bereichen, insbesondere für Schutzsuchende die inhaftiert worden sind.
Die systemischen Mängel beziehen sich auch auf das Asylverfahren selbst: Zwar hat er Klage gegen die Ablehnung seines Asylantrags als unbegründet eingelegt, diese gilt jedoch bereits jetzt als aussichtslos. Im September 2017 hat das oberste griechische Verwaltungsgericht Griechenlands in einer knappen, aber klar politischen Entscheidung die Anwendung des EU-Türkei-Deals für syrische Schutzsuchende bestätigt und die Türkei als sicher eingestuft. Der Fall gilt als Präzedenzfall. Seither werden fast alle Klagen abgelehnt. Auch seine Klage gilt daher als aussichtslos – die sich verschärfende Situation in der Türkei bleibt außer acht.
Seit Mitte Juli: Massenhafte Abschiebungen aus der Türkei nach Syrien
Derweil verschärft sich die Situation für syrische Flüchtlinge in der Türkei drastisch. Seit Mitte Juli wurden hunderte syrische Flüchtlinge abgeschoben, u.a. in die weiterhin umkämpfte Region Idlib. Am 23. Juli setzte der Gouverneur von Istanbul den in der Stadt lebenden syrischen Flüchtlingen ohne Registrierung oder mit Registrierungen aus anderen Regionen eine Frist von einem Monat, um in diese Regionen zurück zu kehren. Schon in der Woche davor wurde aber laut Berichten angefangen Syrer*innen verstärkt zu kontrollieren.
Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtet, dass innerhalb weniger Tage mehr als 140 syrische Staatsangehörige nach Syrien abgeschoben wurden, darunter auch Personen, die sich während einer Polizeikontrolle als in einer anderen Provinz registrierte »temporär Schutzberechtigte« ausweisen konnten. Laut dem Forum syrischer Vereine wurden bereits in der Woche vor der Ankündigung 600 Syrer*innen aus Istanbul nach Syrien abgeschoben.
Ein 21-Jähriger Syrer, der erst vor kurzem in die Türkei geflüchtet war und sich in Istanbul aufgrund des Registrierungsstopps nicht mehr registrieren konnte, wurde laut Medienberichten von der Polizei aufgegriffen und in ein Haftzentrum am Rande Istanbuls gebracht. Dort wurde er gezwungen, ein türkisches Dokument zu unterschreiben, welches er nicht verstand. Anschließend wurde er über den Grenzübergang Bab al-Hawa in die syrische Provinz Idlib gebracht. Die Medienberichte wurden von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch durch eigene Recherchen bestätigt.
Verschärfte Lage für Geflüchtete in der Türkei
Die Abschiebungen reihen sich ein in eine generell für syrische Flüchtlinge verschärfte Lage in der Türkei. So haben schon 2018 mehrere Provinzen, darunter auch Istanbul, aufgehört Syrer*innen zu registrieren – wodurch sie ohne Status und ohne Schutz in der Türkei leben. Auch wachsen die Ressentiments in der Türkei gegen Flüchtlinge und es kommt zu Übergriffen.
Ein »sicherer Drittstaat« muss das Refoulement-Verbot einhalten, so schreibt es das europäische Recht vor!
Diese Abschiebungen sind ein klarer Verstoß gegen das völkerrechtliche Abschiebungsverbot, das sogenannte Refoulement-Verbot, denn in Syrien droht weiterhin politische Verfolgung und Gefahr durch Kämpfe – besonders in Idlib, welches täglich vom Assad-Regime bombardiert wird. Damit sind diese Entwicklungen auch für den Fall vor dem Verwaltungsgericht München relevant, denn ein »sicherer Drittstaat« muss das Refoulement-Verbot einhalten, so schreibt es das europäische Recht vor!
Der Sinn und Zweck hinter dem Begriff »sicherer Drittstaat« ist, dass eine Person auf einen vermeintlich möglichen Schutz in einem anderen Land verwiesen werden kann, in dem sie sich vorher aufgehalten hatte. Der schutzsuchenden Person wird dann aus diesem Grund kein Asyl gewährt – unabhängig von den Fluchtgründen. Eine inhaltliche Prüfung des Asylantrags zur Schutzwürdigkeit findet gar nicht erst statt. Die rechtliche Definition findet sich in Art. 38 der Asylverfahrensrichtlinie der Europäischen Union und umfasst u.a. folgende Voraussetzungen:
- Die Möglichkeit für die Person in dem Land einen Schutzstatus gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention mit den entsprechenden Rechten zu bekommen;
- Die Einhaltung des Gebots der Nicht-Zurückweisung (Non-Refoulement) durch das Land.
Türkische Regierung droht mit Aussetzung des Deals
Immer wieder nutzte die Türkei den Deal als Druckmittel gegenüber der EU und drohte damit bei unliebsamen Entscheidungen, den Deal einseitig aufzukündigen. Allein seit Anfang 2018 griff die Türkei mindestens fünfmal auf die Drohgebärde zurück und konnte damit häufig eine milde Haltung der EU gegenüber immer weiter ausgreifenden Menschenrechtsverletzungen erzielen.
Jüngst verschärfte sich die Gangart noch. Als Reaktion auf EU Sanktionen gegenüber der Türkei wegen Erdgasbohrungen vor Zypern und den ausbleibenden Visaerleichterungen hat der türkische Außenminister Çavuşoğlu angekündigt, das Rückübernahmeabkommen mit der EU »auszusetzen«. Die EU geht davon aus, dass der Deal wie bislang weiter läuft.
Erste Meldungen bestätigen, dass die Rückführungen von Lesbos in die Türkei auch im August 2019 fortgesetzt wurden. Erst kurz vor der Äußerung des türkischen Außenministers waren weitere €1,41 Milliarden durch die Europäische Kommission zur Unterstützung von Flüchtlingen in der Türkei an die türkische Regierung ausgezahlt worden – auch das ist Teil des Deals mit der Regierung Erdoğan. Im August wurden von der EU Kommission noch eine weitere Aufstockung der Hilfe um 127 Millionen € angekündigt.
Stoppt Abschiebungen!
Der Überstellungsstopp durch das VG München verdeutlicht, dass auch Deutschland den menschenrechtlichen Scheins des Deals nicht mehr aufrechterhalten kann. Der offene und klare Verstoß der Türkei gegen das Refoulement-Verbot ist nur die Spitze des Eisberges der Menschenrechtsverletzungen, die im Rahmen des EU Türkei Deals zur Normalität geworden sind.
Während immer mehr türkische Staatsangehörige vor dem Regime Erdoğan fliehen, ist die Fassade des Deals zwischen EU und der Türkei im dritten Jahr vollkommen gebröckelt. Wir schließen uns dem Appell u.a. von unserer Partnerorganisation Refugee Support Aegean für die Wahrung von Flüchtlingsrechten an. Wir fordern: Stoppt den Deal!
(beb / kk)