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Chios: »Wenn man da reingeht und die Situation mit eigenen Augen sieht, dann ist das so krass.«
Im Herbst 2018 war der in Deutschland lebende, afghanische Journalist Ramin Mohabat im Rahmen einer Konferenz in Griechenland und hat auch das Lager auf der griechischen Insel Chios besucht. Im Gespräch mit PRO ASYL schildert er seine Eindrücke von der desolaten Lage dort.
Als Ramin zum Gespräch in die PRO ASYL-Geschäftsstelle kommt, wird er aus allen Büros freudig gegrüßt. Er ist ein bekanntes Gesicht – die Rechtshilfe von PRO ASYL hat seinen Fall bis zur Anerkennung seines Flüchtlingsstatus begleitet, er hat uns bereits Interviews zur Situation in Afghanistan gegeben und sich für unsere »Menschenrechte verteidigen!«-Kampagne engagiert. Nun möchte er endlich nicht mehr über sich und Afghanistan sprechen, aber weiterhin auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam machen. Denn die Situation auf Chios, die er mit eigenen Augen gesehen hat, lässt ihn nicht mehr los.
PRO ASYL: Hallo Ramin. Wie kam es zu deiner Reise nach Griechenland?
Das war eine Reise mit der Diakonie, eine Konferenz zur Asylpolitik in Griechenland und in der EU. Da war ich auch dabei und wir haben dort ein paar Flüchtlingsunterkünfte besucht – auch auf Chios. Dort hatte ich dann die Möglichkeit, mit ein paar Afghanen zu sprechen. Ich bin einfach mit in das Lager reingegangen und habe mir die Situation angeschaut, viele Geschichten gehört, Fotos gemacht. Das waren schreckliche Geschichten. Die Leute leben seit drei Jahren in einem Wurfzelt, sie bekommen kein Essen und wenn sie etwas bekommen, ist es schlecht. Jeder hat seine Geschichte erzählt und wie das »ganz normale Leben« in diesem Camp ist.
»Die Menschen können nicht weiterreisen nach Deutschland oder Frankreich, aber sie können auch nicht zurück.«
Das Hauptproblem in Chios war, dass die Leute nicht wussten, wie es weitergeht. Die warten seit drei Jahren auf dieser Insel und sie wissen nicht, wie es weitergeht. Einer kam zu mir, er ist seit drei Jahren in Griechenland, sein Asylantrag wurde abgelehnt. Er hat keine Perspektive, fragte mich nach Hilfe. Er hat keine Ahnung, wo er rechtliche Hilfe bekommen kann, zum Beispiel einen Anwalt. Es gibt keinen Zugang zu Rechtsberatung. Aber zurück nach Afghanistan kann er nicht. Die Menschen können nicht weiterreisen nach Deutschland oder Frankreich, aber sie können auch nicht zurück. In die Türkei nicht, nach Afghanistan überhaupt gar nicht. Das ist einfach ein schreckliches Leben – seit drei Jahren auf Chios. In Athen war die Situation ein bisschen besser. Das Hauptproblem dort waren Gesundheitsprobleme. Es gab keine Ärzte, keine Medikamente. Außerdem sind die Kinder nicht auf der Schule. Viele Eltern haben gesagt: »Es ist ok. Jetzt leben wir seit drei Jahren hier. Wie wollen nur arbeiten, unser eigenes Geld verdienen und wir wollen unbedingt, dass unsere Kinder zur Schule gehen. Dass unsere Kinder auf der Straße leben und nichts machen, das ist nicht gut. Sie haben keine Zukunft.«
PRO ASYL: Und die Kinder auf Chios? Gehen sie zur Schule?
In Chios haben die Leute nicht über Schule geredet. Die haben gesagt: »Wir haben gar nichts zu essen hier. Wir haben keinen Platz zum Schlafen. Wir schlafen mit zwanzig Leuten in einem Container. Wir haben kein Geld. Wir können nicht weiter, wir können nicht zurück. Wenn es regnet, dann haben wir tausend Probleme, dann müssen wir die Sachen in unsere winzigen Zelte reinholen und dann den ganzen nächsten Tag trocknen.« Im Lager auf Chios waren das ganz andere Probleme, viel schlimmere Probleme. Sie haben manchmal Essen bekommen und haben dafür drei oder vier Stunden gewartet und am Ende war das Essen schon so schlecht, dass man das nicht essen konnte. Ein paar haben erzählt, dass sie Würmer und Maden im Essen gefunden haben. Also in Chios war das eine Katastrophe.
PRO ASYL: Wie ist die Situation jetzt gerade im Winter?
Sowieso leben die Leute im Winter, im Sommer, egal, in Wurfzelten. Familien mit drei Kindern leben seit drei Jahren in einem Wurfzelt und niemanden interessiert das. Das ist irgendwie normal geworden. Den Leuten in Europa sind die Flüchtlinge in Chios, in Athen, in Griechenland egal. Es ist normal geworden. Aber wenn man da reingeht und sich die Situation mit eigenen Augen anschaut, dann ist das so krass. Das kann man mit Worten nicht beschreiben. Da muss man hingehen und hinschauen, wie diese Leute leben. Das sind auch Menschen und sie sind mit großen Hoffnungen nach Europa gekommen und jetzt leben sie schlechter als in Afghanistan.
Die Kinder im Camp spielen am Boden mit Wasser. Ganz in der Nähe sind die völlig verdreckten Toiletten, obwohl sie das krank macht. Aber wo sollen sie sonst spielen?
PRO ASYL: Hast du noch Kontakt zu den Leuten?
Ich hab nur mit einer Person Kontakt über Facebook. Er schreibt manchmal und fragt, was er machen kann. Aber ich kann ihm da nicht weiterhelfen, ich weiß es auch nicht. Und es gibt natürlich auch Familien, wo ein Teil in Griechenland ist und andere Familienmitglieder in Deutschland, Frankreich usw. leben. Ich habe eine Familie getroffen in Athen, einen Mann mit seiner 6‑jährigen Tochter. Die leben seit drei Jahren in Griechenland, während die Mutter mit dem Sohn seit drei Jahren in Deutschland lebt. Die Mutter ist anerkannt, aber der Familiennachzug funktioniert nicht – trotz so viel Papierkram. Er weiß nicht, wie es weitergeht. Die Tochter vermisst ihre Mutter und fragt jede Nacht nach ihr. Sie kann nicht schlafen und der Vater weiß nicht, was er machen soll. Er sagt: »Ich lüge seit drei Jahren meine Tochter an. Ich sage jede Nacht, nächsten Monat ist es so weit. Ich lüge meine Tochter jede Nacht an.« Solche Geschichten gibt es in Griechenland.
PRO ASYL: Welche Geschichte hat dich am meisten berührt?
Eine junge Frau ist zu mir gekommen und hat so viel geweint. Sie hat gesagt, sie kann nirgendwohin gehen. Für die Frauen ist die Situation am schlimmsten, sie sind total schutzlos. Wie immer in solchen Krisensituationen gibt es auch Vergewaltigung, wenn man deutsche Leute in so ein Lager sperren würde, wäre das bestimmt nicht anders.
»Wenn man drei Jahre in einem Wurfzelt lebt mit der ganzen Familie, wird man verrückt.«
Es gibt so viele Menschen in dem Lager aus so vielen Kulturen – aus Syrien, aus Afghanistan, aus afrikanischen Ländern. Es gibt natürlich Stress zwischen den Leuten, das ist normal in einer solchen Notsituation. Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien, Somalia sind auf engstem Raum zusammengepfercht. Die Menschen haben unterschiedliche Ansichten, Sitten und Traditionen. Wenn man drei Jahre in einem Wurfzelt lebt mit der ganzen Familie, wird man verrückt. Und die Frauen haben solche Angst. Sie können nicht zur Toilette gehen. Sie haben kein privates Leben, keine Wohnung. Ein paar Afghanen haben gesagt, sie arbeiten ehrenamtlich als Security. Die sind die ganze Nacht wach und passen auf, dass den Frauen nichts passiert. Jeder baut irgendwie eine Community auf.
Es hieß, in Europa gibt es Menschenrechte. Die Leute denken, sie gehen nach Europa, denn dort haben sie Rechte. Und dann kommen sie und hängen drei Jahre auf einer kleinen Insel fest…
PRO ASYL: … unter unwürdigsten Bedingungen.
Wir müssen irgendwas machen. Wir können die Leute nicht einfach dalassen. Ich habe das selbst alles erlebt und weiß, wie schrecklich das ist. Für einen Mann ist es schwierig, aber besonders für eine Frau. Es ist unvorstellbar. Es ist so schwierig, dass man das nicht so einfach beschreiben kann. Und da leben Frauen, junge Frauen, alte Frauen und wir hier in Westeuropa machen einfach nichts.
Die Flüchtlingspolitik an den europäischen Außengrenzen funktioniert einfach nicht. Da leben Menschen, das sind auch Menschen und wir schauen einfach nicht mehr hin, wir hören nicht mehr hin und wir lesen nicht mehr darüber. Ich weiß nicht, warum es so geworden ist.
PRO ASYL: Gibt es denn auch positive Eindrücke?
Nicht so richtig positiv… Nur die Solidarität untereinander. Das funktioniert richtig gut. Die Leute haben das akzeptiert, sie leben wie in einem Dorf. Sie helfen sich gegenseitig. Sie haben akzeptiert: Niemand hilft uns, wir müssen uns gegenseitig helfen.
Es gibt zum Beispiel einen syrischen Lehrer. Er gibt jetzt Unterricht für Kinder und einer war Sportlehrer in Syrien und jetzt macht er jeden Tag mit den Kindern Sport. Die Afghanen arbeiten ehrenamtlich als Security. Es gibt natürlich auch Probleme zwischen den Leuten. Aber sie helfen sich gegenseitig, zum Beispiel auch wenn jemand krank ist. Das fand ich richtig gut.
Die Tochter der einen Familie konnte perfekt Englisch sprechen. Sie arbeitet jeden Tag von acht bis zehn Uhr abends ehrenamtlich als Dolmetscherin. Andere Frauen ebenfalls. Wenn die anderen Probleme haben, kommen sie zu ihnen. Der Vater ist sehr stolz auf seine Tochter, weil sie helfen kann. Die Solidarität im Camp wird geschätzt. In Chios hatten die Leute sehr wenig Geld und das Essen, das sie vom Camp bekommen ist ungenießbar. Also haben mehrere Familien beschlossen, gemeinsam zu kochen. Jeder bezahlt ein bisschen. Sie kochen gemeinsam, sie essen gemeinsam.
Für diese Leute gibt es schon positive Sachen. Aber seitens der EU gibt es keine positiven Entwicklungen. Ein Professor auf der Konferenz sagte: »Was unsere Eltern vor 70 Jahren gemacht haben, dafür schämen wir uns. Und unsere Kinder werden sich schämen, dass wir jetzt nichts gemacht haben.« Wir schauen einfach zu. Nach 20 oder 50 Jahren ist diese Situation vorbei und dann kommen unsere Kinder und fragen, »Papa warum hast du nichts gemacht? Das waren auch Menschen.« Irgendwann kommen unsere Kinder und fragen, und wir sollten eine gute Antwort haben.
PRO ASYL: Was könnte man denn machen?
In Frankfurt gab es einer großen Demo der Seebrücke, bei der die Einwohner gefordert haben, dass die Stadt Frankfurt Leute aus Griechenland aufnehmen soll. Wenn jede große Stadt 500 Leute aufnimmt, dann gibt es kein Lager auf Chios mehr, keine solche Situation mehr. Dann haben wir nicht mehr so eine Katastrophe.
Und man muss natürlich darüber berichten und die Leute in Europa motivieren, dass sie etwas machen. Wir machen nichts, unsere Politiker wollen das nicht. Europa bezahlt viel Geld an Griechenland, aber das Geld kommt nicht bei den Menschen an. Die Leute brauchen nur Kleinigkeiten, aber sie bekommen das nicht. Sie bekommen nicht einmal genießbares Essen. Mitten in Europa. Das verstehe ich nicht. Warum müssen die Leute in so einer Situation leben?
In den sozialen Bereichen, bei den NGOs, fehlt auch einfach das Geld. Wir wollen etwas machen, man will immer viel machen, aber es fehlt das Geld. Ohne Geld gibt es kein Essen, keine besseren Unterkünfte, keinen Rechtsanwalt.
Die Zustände von denen Ramin berichtet sind schockierend. Auch unsere griechische Partnerorganisation RSA informiert uns immer wieder über die katastrophale Lage auf Griechenlands Inseln. Seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals am 20. März 2016 herrscht permanenter Ausnahmezustand in der Ägäis. Die Inseln Lesbos, Samos, Chios, Kos und Leros wurden zu Freiluftgefängnissen für Tausende Schutzsuchende – ohne vor und zurück, ohne faire Asylverfahren. Und nicht nur die Asylsuchenden stecken unter fürchterlichen Bedingungen fest. Auch anerkannte Flüchtlinge stehen in Griechenland vor dem Nichts. Oft sind sie obdachlos, bekommen keine staatliche Unterstützung. Es gibt keine Integrationsmaßnahmen, kaum Sprachkurse, kaum eine Möglichkeit auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Trotzdem schiebt auch Deutschland immer wieder Menschen nach Griechenland ab.
PRO ASYL kämpft gegen diese Überstellungen, dokumentiert gemeinsam mit RSA die Zustände in Griechenland und hilft dabei, Abschiebungen zu verhindern.
(tz)