07.11.2013
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Aufgriff von Flüchtlingen auf See mit vorgehaltener Waffe - in der Ägäis leider keine Seltenheit. An der griechisch-türkischen Land- und Seegrenze werden Flüchtlinge systematisch völkerrechtswidrig zurückgewiesen. Die meisten der von uns Befragten wurden während der Push-Back-Operationen misshandelt. Foto: Giorgos Moutafis

Der neue PRO ASYL-Bericht “PUSHED BACK” beleuchtet völkerrechtswidrige Zurückweisungen von Flüchtlingen an der türkisch-griechischen Land- und Seegrenze und stellt die Frage nach der Mitverantwortung der Europäischen Union.

„Zwei kamen mit uns. Zwei mas­kier­te Män­ner und der Kapi­tän waren an Bord. Zwei stan­den am Strand. Sie befes­tig­ten eines unse­rer Boo­te mit einem Seil und zogen uns zurück ins Meer. Dann lösch­ten sie die Lich­ter und lie­ßen nur ein Rück­licht an. Sie rie­fen: „Geht!“ Sie dräng­ten uns zurück auf unser Boot und behan­del­ten uns wie Tie­re. Sie ver­schwan­den. Als sie etwa 100 Meter ent­fernt waren, mach­ten sie ihre Lich­ter wie­der an.“ (A.K.)

„Sie brach­ten uns bis in die tür­ki­schen Gewäs­ser und war­fen uns, einen nach dem ande­ren, auf unser Boot. Einer von uns fiel ins Meer und wir zogen ihn wie­der aus dem Was­ser. Sie war­fen uns weg, als wären wir Abfall. Dann schnit­ten sie das Seil durch.“ (A.K.N.)

Push Back von Flüchtlingen

Am 8. August 2013: Män­ner, Frau­en und Kin­der wer­den schutz­los in tür­ki­schen Gewäs­sern aus­ge­setzt. Zuvor war die Grup­pe von 46 Flücht­lin­gen von einem klei­nen Poli­zei­boot auf­ge­bracht wor­den, an Bord vier Män­ner mit Gesichts­mas­ken. Sie schlu­gen die Flücht­lin­ge mit Stö­cken, tra­ten sie, inhaf­tier­ten sie auf der unbe­wohn­ten grie­chi­schen Insel Farm­a­ko­ni­si, auf der sich eine Mili­tär­sta­ti­on befin­det. Die Flücht­lin­ge wur­den nicht regis­triert, geschwei­ge denn beka­men sie die Mög­lich­keit, einen Asyl­an­trag zu stel­len – lei­der kein Einzelfall. 

Sol­che völ­ker­rechts­wid­ri­gen Zurück­wei­sun­gen an der tür­kisch-grie­chi­schen Land- und See­gren­ze erfol­gen sys­te­ma­tisch. Das ist das zen­tra­le Ergeb­nis einer Recher­che, die PRO ASYL vom Okto­ber 2012 bis Sep­tem­ber 2013 in Grie­chen­land, der Tür­kei und Deutsch­land durch­ge­führt hat. Die Ergeb­nis­se sind in dem Bericht „Pushed Back“ ver­öf­fent­licht. 

Sys­te­ma­ti­sche, völ­ker­rechts­wid­ri­ge Zurück­wei­sun­gen von Flüchtlingen

Push Backs fin­den von grie­chi­schen Gewäs­sern, von grie­chi­schen Inseln und von der Land­gren­ze statt. Die Mehr­heit der Opfer sind syri­sche Flücht­lin­ge – dar­un­ter auch beson­ders schutz­be­dürf­ti­ge Per­so­nen wie Kin­der, Babies und Schwerst­kran­ke – die Euro­pa errei­chen wol­len, um inter­na­tio­na­len Schutz zu suchen und zu ihren Fami­li­en in Län­dern wie Deutsch­land, Schwe­den oder Groß­bri­tan­ni­en zu gelan­gen. Das Aus­maß und die Bru­ta­li­tät der Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen gegen Flücht­lin­ge sind scho­ckie­rend. PRO ASYL hat 90 Per­so­nen inter­viewt. Die meis­ten berich­te­ten, miss­han­delt wor­den zu sein.

In den Fäl­len, in denen Flücht­lin­ge von der Insel Farm­a­ko­ni­si zurück­ge­wie­sen wur­den, grenz­ten die Miss­hand­lun­gen neun männ­li­cher syri­scher Flücht­lin­ge an Folter.

Min­des­tens 2.000 Men­schen zurückgewiesen

Wäh­rend die EU öffent­lich ihr Enga­ge­ment für die syri­schen Flücht­lin­ge beteu­ert, wer­den deren grund­le­gen­de Men­schen­rech­te an euro­päi­schen Gren­zen ver­letzt. Allein nach den Augen­zeu­gen­be­rich­ten der inter­view­ten Per­so­nen wur­den min­des­tens 2.000 Schutz­su­chen­de an grie­chisch-tür­ki­schen Land- und See­gren­zen  zurück­ge­wie­sen. Die Ver­schie­bung der Flucht­rou­ten von der Evros Regi­on zurück in die Ägä­is als Reak­ti­on auf die Schlie­ßung der Land­gren­ze im Som­mer 2012 führ­te viel­fach zum Tod von Flücht­lin­gen. Seit August 2012 haben 149 Per­so­nen, haupt­säch­lich syri­sche und afgha­ni­sche Flücht­lin­ge ihr Leben in die­sen Gewäs­sern verloren.

Euro­päi­sche Komplizenschaft 

Der Bericht von PRO ASYL klagt die grie­chi­sche Regie­rung, die Grenz­po­li­zei und die Küs­ten­wa­che auf­grund die­ser Prak­ti­ken an und wirft die Fra­ge nach einer wei­ter­ge­hen­den euro­päi­schen Kom­pli­zen­schaft auf. Das gesam­te grie­chi­sche Asyl- und Migra­ti­ons­sys­tem basiert auf einer erheb­li­chen Unter­stüt­zung und Finan­zie­rung durch die EU. Auch Fron­tex ist seit Jah­ren in Grie­chen­land im Ein­satz – den­noch schwei­gen die Ent­schei­dungs­trä­ger in Ber­lin, Wien und im rest­li­chen Euro­pa über die Menschenrechtsverletzungen.

Fron­tex muss die Ope­ra­tio­nen in Grie­chen­land beenden

Die Ergeb­nis­se des vor­lie­gen­den Berich­tes stel­len außer­dem das Enga­ge­ment der Euro­päi­schen Uni­on und ins­be­son­de­re der Fron­tex-Ope­ra­ti­on „Posei­don Land and Sea“ in Fra­ge. Abge­se­hen von weni­gen Aus­nah­men fan­den alle doku­men­tier­ten Push Backs im Ope­ra­ti­ons­ge­biet von Fron­tex statt. PRO ASYL stellt daher die Fra­ge nach der Betei­li­gung von Fron­tex an den Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen. Auf­grund der Häu­fig­keit und Schwe­re der Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen in Grie­chen­land muss Fron­tex sei­ne Ope­ra­tio­nen in dem Land been­den. Dies ist in der Fron­tex-Ver­ord­nung von 2011 vor­ge­se­hen. Zusätz­lich muss jeg­li­che euro­päi­sche Finan­zie­rung von Flücht­lings­ab­schre­ckung in Grie­chen­land umfäng­lich eva­lu­iert werden.

Die kom­men­de Ratspräsidentschaft

Am 1. Janu­ar 2014 wird Grie­chen­land die Prä­si­dent­schaft des Euro­päi­schen Rates über­neh­men. PRO ASYL ruft die grie­chi­sche Regie­rung dazu auf, ihr berech­tig­tes Ein­tre­ten für mehr Soli­da­ri­tät bei der Flücht­lings­auf­nah­me durch die Beach­tung von Flücht­lings- und Men­schen­rech­ten zu untermauern.

PRO ASYL for­dert, dass die völ­ker­rechts­wid­ri­gen Prak­ti­ken der Zurück­wei­sung und Miss­hand­lun­gen von Schutz­su­chen­den unver­züg­lich been­det wer­den. Alle EU-Mit­glied­staa­ten sind dazu auf­ge­ru­fen, Visa­be­stim­mun­gen zu lockern, die Defi­ni­ti­on von Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung zu erwei­tern, und Visa aus huma­ni­tä­ren Grün­den für Flücht­lin­ge – vor allem für die­je­ni­gen aus Syri­en – im tür­ki­schen Tran­sit zu ertei­len. Dies wür­de einen siche­ren und lega­len Zugang zum Ter­ri­to­ri­um der EU ermöglichen.

Flücht­lin­ge und Asyl­su­chen­de, die in Grie­chen­land fest­sit­zen, brau­chen ein Recht auf eine lega­le Wei­ter­rei­se in ande­re euro­päi­sche Staa­ten, wo ihre Fami­li­en leben und wo sie eine Chan­ce haben, Schutz zu erhalten.

Der Bericht „Pushed Back“ doku­men­tiert die Ergeb­nis­se ver­schie­de­ner Nach­for­schun­gen, die von der Stif­tung und dem För­der­ver­ein PRO ASYL in Grie­chen­land, in der Tür­kei und in Deutsch­land durch­ge­führt wor­den sind.

Bericht (engl.) Pushed Back – sys­te­ma­tic human rights vio­la­ti­ons against refu­gees in the aege­an sea and the greek-tur­ki­sh land border

Kurz­be­richt: Pushed Back – Sys­te­ma­ti­sche Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen an den grie­chi­schen See- und Landgrenzen

Wei­te­re PRO-ASYL-Berichte 

HUMAN CARGO – Arbi­tra­ry read­mis­si­ons from the Ita­li­an sea ports to Greece,  Juli 2012

Über­le­ben im Tran­sit: Zur Situa­ti­on von Flücht­lin­gen in der Tür­kei, März 2012

  

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