News
Vergessenes Elend: Ein Jahr nach dem Brand in Moria
Am 8. September 2020 brannte das Elendslager Moria auf Lesbos ab. Aber anstatt die Menschen endlich vernünftig unterzubringen, wurde in Windeseile Moria 2.0 aufgebaut und die Abschottung intensiviert. Leider erfolgreich: Heute spricht kaum mehr jemand vom Schicksal der Geflüchteten, die in Griechenland festsitzen. Eine Chronik des Vergessens.
Als Moria in der Nacht vom 8. auf den 9. September in Flammen stand und vielen Geflüchteten auch noch die letzten Habseligkeiten nahm, war die verzweifelte Lage der Menschen für ein paar Tage im Bewusstsein der deutschen und europäischen Öffentlichkeit. Die Bilder von Kindern, die auf der Straße unter Planen schlafen mussten, sorgten für den notwendigen Druck auf die politisch Verantwortlichen. Viel wurde versprochen. Wie so oft blieb es aber meist bei warmen Worten.
Schleppende Aufnahme…
Bis Ende April 2021 dauerte es, bis auch die letzten der handverlesenen 2.765 Menschen, vornehmlich Familien und Kinder, aus Griechenland nach Deutschland ausgeflogen wurden. Dabei zog sich die Debatte um Aufnahmen aus Griechenland angesichts der chronisch überfüllten EU Hotspots auf den Ägäis Inseln bereits seit Herbst 2019. Die politische Reaktion benötigte diesmal jedoch gleich zwei Katastrophen: Erste Aufnahmezusagen erfolgten, nachdem im März 2020 Schüsse an der griechisch-türkischen Grenze gegen Schutzsuchende fielen.
Aber erst der Brand im September 2020 brachte mehr Bewegung in den Prozess von Zusagen und Aufnahmen. Mehr als ein Jahr nach der ersten Ankündigung wurde die Aufnahme dann für beendet erklärt und trotz der verschwindend geringen Zahl als Erfolg verkauft. Zur Einordnung: Zum Zeitpunkt des Brandes waren etwa 27.000 Geflüchtete auf den griechischen Inseln.
…rasche Abriegelung
Schneller ging es da mit den Plänen zur weiteren Abschottung und Entrechtung. In wenigen Tagen wurde das Lager Moria 2, offiziell Mavrovouni oder auch Kara Tepe II, hochgezogen und Geflüchtete dorthin gebracht. Eine Zeltstadt unmittelbar an der Küste auf einem ehemaligen Militärstützpunkt. Ob Hitze, Kälte oder Sturm: Unmittelbar an der Küste sind die hier untergebrachten den Witterungen schonungslos ausgesetzt.
Seither ist der Zugang für NGOs und Helfer*innen restriktiv geregelt, genau wie es immer noch Ausgangsbeschränkungen und –verbote für die Bewohner*innen gibt. Und die Situation im Inneren des Lagers ist unverändert: Bereits im Herbst berichteten wir darüber, dass es im Vergleich zu Moria keine Verbesserung der Bedingungen gibt. »Moria war die Hölle für uns, aber das hier, das ist schlimmer als die Hölle« erzählte damals auch ein Geflüchteter aus dem Kongo der tagesschau.
Und gleichzeitig wurden Orte der Menschlichkeit, wie das selbstorganisierte Camp PIKPA, geräumt. Dort hatte auch Refugee Support Aegean, unser Team in Griechenland, sich um besonders Schutzbedürftige, wie Menschen mit Behinderungen, Familien mit kleinen Kindern oder alleinstehende und schwangere Frauen gekümmert. Aber die griechische Regierung möchte nicht, dass es menschenwürdige Alternativen zu den Elendscamps gibt.
Nach Moria bleibt vor Moria
»No More Morias« versprach EU Kommissarin Johansson nach dem Brand und auch Kanzlerin Merkel verkündete in einem Statement »die Dinge müssen sich ändern«. Der »New Pact« sollte die Wendung bringen und dass er wenige Tage nach dem Brand vorgestellt wurde, stellte sicherlich keinen Zufall dar.
Angekündigt wurden neue, »europäischere« Zentren mit kontrollierten und geschlossenen Bereichen – Registrierung, Verfahren und Abschiebung sollen unter einen Dach abgewickelt werden können. Für die Errichtung des neuen Lagers auf der Insel Lesbos wurde eine Taskforce berufen, die sich zum Ziel machte, Moria 3 »Anfang September 2021« (Memorandum of Understanding, S.5) zu eröffnen. Noch fehlt von dem Neubau jede Spur. Zuletzt war die abgelegene Gegend Vastria für diesen im Gespräch. Außer der Mülldeponie der Insel ist hier wenig.
»Das Camp liegt mitten im Nirgendwo und wird von drei Zaunreihen und Stacheldraht umgeben.«
Kurz vor der Eröffnung ist hingegen das neue Lager auf der Insel Samos. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen berichtet von dort: »Das Camp liegt mitten im Nirgendwo und wird von drei Zaunreihen und Stacheldraht umgeben. Es soll bis zu 3.000 Menschen aufnehmen, von denen nach Angaben des griechischen Migrationsministers rund 900 in eine Art Gewahrsam genommen werden sollen, um auf ihre Rückführung in die Türkei zu warten.«
Geschlossene Camps, Schnellverfahren, in denen Flüchtlinge oft kaum Zugang zu Beratung oder juristischer Unterstützung haben und direkte Abschiebungen: Dort wird bereits umgesetzt, was sich die EU-Kommission in ihrem »New Pact on Migration & Asylum« als Blaupause für die europäische Asylpolitik vorstellt.
Zurück in die Türkei – und von dort nach Afghanistan?
Die erwähnten Abschiebungen in die Türkei sind dabei einer der elementaren Pfeiler der flüchtlingsfeindlichen Politik der griechischen Regierung und der EU. Bereits im EU-Türkei-Deal wurden sie eingeführt, mittlerweile sollen die Rückführungen nach einer Ablehnung im Schnellverfahren aber nicht mehr nur von den griechischen Inseln, sondern auch nach dem Erreichen des Festlandes erfolgen. Obwohl vielen Menschen die Kettenabschiebung droht – so wurden noch am 12. August über 400 Menschen aus der Türkei nach Afghanistan abgeschoben – und die Lebenssituation für Flüchtlinge in der Türkei unverändert schlecht ist.
Unmenschlichkeiten an der Grenze
Der zweite Hauptpfeiler sind die völkerrechtswidrigen Push-Backs an den Außengrenzen – ob am Grenzfluss Evros oder in der Ägäis. In der Evros-Region werden Schallkanonen gegen Geflüchtete eingesetzt und eine gigantische Stahlmauer riegelt die Grenze auf 27 Kilometern ab. Finanziert von der EU, aber weitgehend unbeachtet von der europäischen Öffentlichkeit. Und aus der Ägäis gibt es unzählige Berichte von Menschen, die nach ihrer Ankunft auf den griechischen Inseln schlichtweg wieder aufs Meer zurückgeschleppt oder sogar einfach schutzlos auf sog. Rettungsinseln ausgesetzt wurden. Auch all das im Wissen und mit der Beteiligung der EU-Grenzschutzagentur Frontex, wie seit dem Frontex-Skandal hinlänglich bekannt ist.
Kaum noch eine*r schafft es nach Griechenland
All diese Abschottungsmaßnahmen haben Erfolg – nur etwas über 5.000 Schutzsuchende haben es 2021 nach Griechenland geschafft, davon nur etwa 1.900 über das Meer (Quelle: UNHCR). Die Camps auf den Inseln sind deswegen auch vergleichsweise leer. Rund 6.600 Geflüchtete sind dort untergebracht, drei Viertel von ihnen in den sogenannten Hotspot-Lagern. Die Mehrheit von ihnen kommt aus Afghanistan (48%), gefolgt von Syrien (13%) und der DR Kongo (10%). Die Hälfte davon sind Frauen (21%) und Kinder (29%) [Stand: Mitte August, Quelle UNHCR].
Moria wurde zum Synonym der Abgründe europäischer Flüchtlingspolitik, für elende langwierige Verfahren, desolate Unterbringung und rechtswidrige Abschiebungen. Von der angekündigten Kehrtwende fehlt jedoch jede Spur.
Gleichzeitig laufen noch knapp 50.000 Asylverfahren, teilweise warten die Menschen mehr als ein Jahr überhaupt auf ihre Anhörung. Auch hier sind besonders viele Afghan*innen betroffen. Nach dem jahrelangen Leben in der Ungewissheit verspüren sie aufgrund der aktuellen Situation derzeit noch mehr Furcht und Verzweiflung.
Nach der Anerkennung in die Obdachlosigkeit
Aber selbst wenn Menschen all diese Hürden genommen und im Asylverfahren Schutz zugesprochen bekommen (wie 2021 63% der Antragsteller*innen im ersten Halbjahr), haben sie es noch nicht geschafft und sitzen allzuoft weiterhin im Elend fest. Denn – der dritte Pfeiler der Abschreckungspolitik – sie erhalten so gut wie keine Unterstützung mehr. Der Schutz existiert nur auf dem Papier, Geflüchtete müssen nach einer Anerkennung binnen kurzer Zeit ihre Unterkünfte räumen und landen häufig ohne jede Unterstützung auf der Straße. Das zeigt nicht nur ein Bericht von PRO ASYL / RSA, in dem viele Betroffene zu Wort kommen, das haben 2021 auch gleich zwei Oberverwaltungsgerichte bestätigt und Dublin-Abschiebungen aus Deutschland nach Griechenland untersagt.
»Asylanträge von in Griechenland anerkannten Schutzberechtigten dürfen grundsätzlich nicht als unzulässig abgelehnt werden, weil zumindest derzeit […] generell die ernsthafte Gefahr besteht, dass sie im Falle ihrer Rückkehr dorthin ihre elementarsten Bedürfnisse (“Bett, Brot, Seife“) für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen können« heißt es dazu in der Urteilsbegründung des OVG NRW.
Wir fordern ein: Kein weiteres Moria!
Moria wurde zum Synonym der Abgründe europäischer Flüchtlingspolitik, für elende langwierige Verfahren, desolate Unterbringung und rechtswidrige Abschiebungen. Das Feuer symbolisierte nicht zuletzt das Scheitern des Ansatzes der Hotspot-Lager auf den Inseln. Von der angekündigten Kehrtwende fehlt jedoch jede Spur: Statt das Scheitern anzuerkennen, wird genau dieser Ansatz verschärft, vertieft und mit dem angesprochenen »New Pact« in Gesetze gegossen.
Und während ganz aktuell etliche Politiker*innen Mitgefühl für die verzweifelten Afghan*innen aussprechen, sorgen der Pakt und die EU-Abschottungspolitik dafür, dass Menschen, die schon bei der Evakuierung im Stich gelassen wurden, auch bei der Flucht auf eigene Faust vor Europas Toren abgewehrt werden. Und dass jene, die bereits in Europa sind, weiter in Elendslagern ohne Hoffnung festsitzen.
(mk/mz)