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Neues vom »New Pact«? Kaum, aber Fakten werden trotzdem geschaffen
Im September 2020 stellte die Europäische Kommission den »New Pact on Migration and Asylum« vor. Seitdem wird im Rat und im Parlament diskutiert, gestern erneut beim Ratstreffen – aber Einigungen sind noch nicht in Sicht. Doch in Griechenland werden Fakten geschaffen, die den Zugang zu Schutz für die meisten Asylsuchenden versperren werden.
Am 23. September 2020 stellte Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen nach dem Brand von Moria den »New Pact on Migration and Asylum«, eine Weiterführung des 2016 gestarteten Reformprozesses des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), der Öffentlichkeit vor. Wie PRO ASYL schnell analysierte, zielen die Vorschläge darauf ab, Grenzverfahren unter Haftbedingungen durchzuführen. Die EU will also weiterhin auf die »Grenzlösung« setzen, dabei ist diese seit 2015 auf den griechischen Inseln gescheitert. Zwar wurde ein »Ende von Dublin« versprochen, aber letztlich wird am Dublin-System und dem Prinzip der Ersteinreise festgehalten; dieses wird nur mit einem schwachen Solidaritätsmechanismus flankiert (für einen kritischen Überblick der Vorschläge siehe hier). Ein wirklicher »fresh start« hätte anders ausgesehen.
Während die Verhandlungen sich ziehen, werden aber derzeit auf anderen Wegen Fakten geschaffen – etwa mit dem Bau von geschlossenen Zentren auf den griechischen Inseln und neuen Deals mit Drittstaaten. Kurz vor dem Ratstreffen zu Beginn dieser Woche wurde eine weitere Neuerung bekannt:
Griechenland will nun neben den Anträgen von syrischen Asylsuchenden auch die Asylanträge von Schutzsuchenden aus Afghanistan, Somalia, Pakistan und Bangladesch als »unzulässig« ablehnen, wenn sie sich zuvor in der Türkei aufgehalten haben.
Griechenland will nun neben den Anträgen von syrischen Asylsuchenden auch die Asylanträge von Schutzsuchenden aus Afghanistan, Somalia, Pakistan und Bangladesch als »unzulässig« ablehnen, wenn sie sich zuvor in der Türkei aufgehalten haben, da die Türkei für sie ein »sicherer Drittstaat« sei. Außerdem soll dies nicht wie bislang nur für Personen gelten, die auf den griechischen Ägäis-Inseln ankommen, sondern auch für Asylsuchende an Landgrenzen. Damit würden fast alle in Griechenland ankommenden Menschen vom Flüchtlingsschutz ausgeschlossen werden – egal, was ihnen in ihren Herkunftsländern widerfahren ist. Danach wird noch nicht einmal gefragt werden. Dabei ist die Türkei für Geflüchtete alles andere als »sicher«, wie ein von PRO ASYL im März veröffentlichtes Gutachten zur Lage von Afghan*innen in der Türkei zeigt.
Mitgliedstaaten zanken sich mal wieder
Die Vorschläge der Kommission zum »New Pact« sind nach der Veröffentlichung im September an die Co-Gesetzgeber Rat und Parlament gegangen, die nun weiter darüber verhandeln. Im Rat der EU hatte Deutschland zu dem Zeitpunkt noch die Ratspräsidentschaft inne und hatte sich das ambitionierte Ziel gesetzt, noch bis zu deren Ende – also Ende 2020 – eine Einigung über die wichtigsten politischen Streitpunkte zu erzielen.
Dass dies nicht unbedingt realistisch ist, war eigentlich klar, denn das Thema Zuständigkeit für Asylverfahren und Solidarität der Mitgliedstaaten untereinander gilt seit 2016 als größter Zankapfel. Malta, Italien, Griechenland und Spanien taten in einem gemeinsamen Brief im November 2020 ihren Unmut darüber kund, dass sie durch die Beibehaltung des Ersteinreisekriteriums weiterhin primär für die Asylverfahren und Aufnahme von Schutzsuchenden zuständig wären. Sie beklagten: Während die Zuständigkeitsregeln detailliert und streng seien, seien die Regeln zur Solidarität vage und komplex. Anderen Mitgliedstaaten wie der sogenannten Viségrad-Gruppe gehen selbst die schwachen Solidaritätsregeln zu weit, etwa die Umverteilung von Asylsuchenden oder Anerkannten, »Rückführungspatenschaften«, Kapazitätsaufbau bei »Migrationsdruck« oder Ausschiffung nach Seenotrettung.
Selbst das Konzept der »Rückführungspatenschaften« – ein zynischer Begriff und Beispiel dafür, dass der Fokus mal wieder auf Abschiebungen liegt – wird von rechts angegriffen. Da die Pläne der Kommission vorsehen, dass der Mitgliedstaat, der die »Patenschaft« übernommen hat, die Person bei nicht erfolgter Abschiebung nach acht Monate ins eigene Land übernehmen muss, wird dies als »versteckte Umverteilung« kritisiert. Dies zeigt ein geleaktes Dokument zu den Verhandlungen.
Gefährliche Ausweitung der Grenzverfahren
Die Kommissionsvorschläge sehen bereits eine gefährliche Ausweitung der Grenzverfahren vor. Insgesamt sollen Schutzsuchende bis zu sechs Monate an den Außengrenzen festgehalten werden können: Fünf oder zehn Tage in einem Screening, bis zu zwölf Wochen im Asylgrenzverfahren und bis zu zwölf weitere Wochen im Abschiebungsgrenzverfahren –. Ein Kompromissvorschlag der aktuell noch amtierenden portugiesischen Ratspräsidentschaft für den Vorschlag für eine Asylverfahrensverordnung – auf den sich die Mitgliedstaaten im Rat einigen sollen – sieht sogar noch eine weitere Verschärfung dieser Regelungen vor, indem die Asylgrenzverfahren auf bis zu 16 Wochen verlängert werden können, wenn die Mitgliedstaaten oder die Gerichte nicht schnell genug entscheiden.
Eine solche Verlängerung der Zeit im Grenzverfahren macht für die Betroffenen einen großen Unterschied, denn sie gelten während der Verfahren an den Grenzen als »nicht-eingereist« und müssen an den Grenzen oder in Grenznähe untergebracht werden.
Die betroffenen Menschen – darunter pauschal alle Asylsuchenden aus Herkunftsländern mit einer Schutzquote von unter zwanzig Prozent – würden also während ihres gesamten Asylverfahrens an den Grenzen isoliert werden. Eine entscheidende Frage ist, wie die Menschen unter diesen Umständen überhaupt rechtlich beraten und anderweitig unterstützt werden könnten. Die Vermutung ist: wenig bis gar nicht. Denn je mehr Menschen an einem abgelegenen Ort festgehalten werden, desto schwieriger wird es, überhaupt genügend Rechtsanwält*innen in der Nähe zu haben, die Mandate übernehmen könnten.
Gegen Grenzverfahren richtet sich auch ein Bündnis von PRO ASYL, Amnesty International, Ärzte ohne Grenzen, Save the Children, Paritätischem Gesamtverband, Deutscher Caritasverband, Diakonie Deutschland und weiteren in einem gemeinsamen Appell zum Ratstreffen am 8. Juni 2021.
Fiktion der Nicht-Einreise: Politische Nebelkerze mit realen Konsequenzen
Eine Vertreterin von Malta machte während einer öffentlichen Anhörung zum »New Pact« im Europäischen Parlament am 27. Mai 2021 zurecht deutlich: Trotz dieser Fiktion der Nicht-Einreise sind die Menschen dann auf dem Territorium der Mitgliedstaaten und diese müssen ihren internationalen Verpflichtungen nachkommen und sich um sie kümmern! Die Fiktion der Nicht-Einreise kann als eine Art politische Nebelkerze gesehen werden, mit der die Kommission und viele Mitgliedstaaten der Bevölkerung zeigen wollen: Wir entscheiden, wer einreisen darf oder nicht. Keines der bestehenden Probleme an den Außengrenzen wird aber durch diese Fiktion gelöst – im Gegenteil, die Lage an den Außengrenzen droht sich noch zu verschärfen.
Letztlich wird die »Fiktion der Nichteinreise« dazu führen, dass Tausende Menschen in Zentren an den Grenzen oder in Grenznähe festgehalten werden.
Letztlich wird die Fiktion dazu führen, dass Tausende Menschen in Zentren an den Grenzen oder in Grenznähe festgehalten werden. Selbst wenn die Kommission in ihren Vorschlägen nur in Einzelfällen explizit von Haft spricht, schreibt sie den Mitgliedstaaten gleichzeitig vor, dass die Einreise der Menschen und insbesondere deren Weiterreise – die von vielen regierenden Politiker*innen verteufelte »Sekundärmigration« – verhindert werden soll. Es ist realitätsfern, davon auszugehen, dass dies ohne massive Freiheitsbeschränkungen möglich wäre.
Verhandlungen kommen kaum voran – aber Fakten werden geschaffen
Auch wenn der Verhandlungsstand des »New Pact« beim Ratstreffen der Innenminister*innen am Dienstag den 8. Juni 2021 erneut auf der Tagesordnung stand und der Vizepräsident der Kommission, Margaritis Schinas, Bewegung beim Pakt vermutet und die richtige politische Atmosphäre sieht – Durchbrüche sind aktuell nicht zu erwarten. Das heißt aber nicht, dass sich in der Asylpolitik aktuell nichts tut. Im Windschatten des »New Pact« wird eifrig an verschiedenen Deals geschraubt, die – wie in der Vergangenheit der EU-Türkei Deal – weitreichende Auswirkungen haben könnten. Wieder einmal könnten am Europäischen Parlament vorbei Tatsachen geschaffen werden, die sich maßgeblich auf die Möglichkeit auswirken, in Europa Asyl zu erhalten.
So wird auf den griechischen Inseln der Bau von geschlossenen Zentren vorangetrieben, eine entsprechende Ausschreibung erfolgte kürzlich. Dies passiert mit Geldern und Unterstützung der EU, die nach dem Brand von Moria – der einmal mehr das Scheitern des Hot Spot-Ansatzes an den Grenzen bewies – mit Griechenland den Bau von »Multi-Purpose Reception and Identification Centres« auf Lesbos, Chios, Samos, Kos und Leros vereinbarte. Durch solche Pläne erübrigen sich auch die juristischen Detaildiskussionen, ob in den Vorschlägen zum »New Pact« Haft vorgesehen wird oder nicht – denn in der Praxis wird diese schon vorbereitet und im Zweifelsfall auch ohne das neue Gesetzespaket umgesetzt.
Neue und alte Deals (wieder) beleben
In Italien sind zuletzt die Ankünfte wieder gestiegen, das Land verzeichnete mit über 14.600 Schutzsuchenden dieses Jahr bislang die meisten Ankünfte über die Meeresrouten (Stand 31.05.2021). Damit stellt sich die Frage der Entlastung des Landes und ob andere Mitgliedstaaten sich zur Aufnahme bereit erklären. Hinter den Kulissen werden solche Zusagen scheinbar von Zugeständnissen Italiens bei den Verhandlungen um den »New Pact« abhängig gemacht – so wird laut Politico darauf gedrängt, dass Italien bei den Verhandlungen nicht mehr auf dem Paketansatz besteht und dadurch einzelne Verordnungen losgelöst verabschiedet werden können.
Zudem wird einmal mehr auf die andere Seite des Mittelmeers geschaut, um die Zahl der Neuankünfte zu senken. Kommissarin Ylva Johannson, zuständig für Inneres und damit auch für den »New Pact«, besuchte im Mai gemeinsam mit dem italienischen Innenminister Tunesien, um mit der tunesischen Regierung über die Zusammenarbeit im Migrationsbereich zu sprechen. Sie sei hoffnungsvoll, dass ein Deal erreicht werden könnte, so die Kommissarin. Dieser könnte im Gegenzug für wirtschaftliche Hilfen den verstärkten Kampf Tunesiens gegen Schmuggler und die stärkere Sicherung der Grenzen sowie die Rücknahme eigener Staatsangehöriger sowie auch Drittstaatsangehöriger, die nach Europa gekommen waren, umfassen. Gerade der letzte Punkt – die Übernahme von Drittstaatsangehörigen – lässt aufhorchen, ist sie doch elementarer Bestandteil des EU-Türkei Deals.
Den EU-Türkei Deal und die darin vorgesehenen Abschiebungen von Schutzsuchenden, deren Asylanträge in Griechenland als »unzulässig« abgelehnt wurden, zu forcieren und »wieder zu beleben«, haben in der Politik höchste Priorität. Dies zeigte das High-Level Treffen von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel mit dem türkischen Präsident Erdoğan Anfang April dieses Jahres. Bei diesem Treffen hielt von der Leyen fest: »Aus diesem Grund erwarten wir, dass die Türkei die gemachten Zusagen einhält. Dazu zählt auch, dass sie irreguläre Ausreisen verhindert. Und dass sie die Rückführung von Flüchtlingen von den griechischen Inseln unverzüglich wiederaufnimmt.«
Unzulässigkeitsverfahren – eine der Hauptgefahren für den Zugang zu Schutz
Durch die Ankündigung Griechenlands, die Türkei nun für fast alle in Griechenland ankommenden Schutzsuchenden als »sicher« zu betrachten und ihre Asylanträge damit als »unzulässig« abzulehnen, erhält der EU-Türkei Deal eine noch größere Brisanz. Dabei ist die Türkei nach den Kriterien der Asylverfahrensrichtlinie bei weitem kein »sicherer Drittstaat«, wie PRO ASYL anhand von Gutachten schon für syrische Flüchtlinge und Afghan*innen aufgezeigt hat. Doch genau an diese Kriterien soll mit dem »New Pact« auch Hand angelegt werden.
Es ist schon seit 2016 Teil der Reform, dass die Anforderungen an »sichere Drittstaaten« erheblich abgesenkt werden. So soll nach dem Vorschlag der Kommission für eine Asylverfahrensverordnung von 2016 nicht mehr zwingend erforderlich sein, dass in dem betreffenden Staat die Möglichkeit zur Erlangung von Schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) besteht, sondern es soll bereits »ausreichender Schutz« genügen. Offenkundig hat die Kommission hierbei die Türkei im Blick, welche die GFK nur mit einem geographischen Vorbehalt ratifiziert hat. Flüchtlinge, die nicht aus Europa stammen, können sich deswegen nicht auf sie berufen.
Während heute eine Verbindung der schutzsuchenden Person zu dem Drittstaat (etwa ein längerer Aufenthalt in diesem) verlangt wird, um sie dorthin zurückschicken zu können, soll nach dem Willen der Kommission künftig die alleinige Durchreise durch einen Drittstaat, der sich geografisch in der Nähe des Herkunftslandes befindet, ausreichen. Auch der Rat will eine weitere Aufweichung des Konzepts, indem die Bewertung der Sicherheit des Landes nicht mehr insgesamt erfolgen würden, sondern sich nur auf Nicht-Staatsangehörige beziehen und die Ausnahme bestimmter Landesteile und Personengruppen von der Einstufung möglich sein soll – Menschenrechtsverletzungen an der eigenen Bevölkerung und Konflikte in manchen Regionen sollen einer Einstufung also nicht entgegenstehen. So könnten Kooperationen mit autoritären und menschenrechtsverletzenden Regimen rechtlich gerechtfertigt werden.
PRO ASYL befürchtet schon seit längerem, dass die Unzulässigkeitsverfahren an den Grenzen der Sargnagel für den Flüchtlingsschutz in Europa sein könnten. Die Schutzsuchenden, die es trotz Pushbacks und Deals mit Drittstaaten an die Grenze der EU geschafft haben, haben zwar auf dem Papier das Recht, Asyl zu suchen, werden aber in Unzulässigkeitsverfahren abgelehnt. Nach ihren Fluchtgründen wird nicht gefragt. Der jüngste Schritt Griechenlands und die Pläne für den »New Pact« befeuern diese Sorge.
(wj)