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Obdachlose anerkannte Geflüchtete in Griechenland versuchen ihren Kindern das Leben auf der Straße möglichst erträglich zu machen. Hier auf einem zentralen Platz in Athen. Foto: picture alliance / AA / Ayhan Mehmet

Immer mehr Flüchtlinge mit Schutzstatus in Griechenland sehen sich gezwungen, Griechenland zu verlassen. Sie fliehen vor dem nackten Elend. Warum sie in Griechenland nicht mal ihre Grundbedürfnisse decken können, dokumentiert eine neue Stellungnahme von PRO ASYL / RSA.

7.100

Men­schen mit Schutz­sta­tus in Grie­chen­land sind 2020 wei­ter nach Deutsch­land geflohen.

In den letz­ten Mona­ten ist die Zahl der Asyl­su­chen­den in Deutsch­land, denen vor­her in Grie­chen­land ein Schutz­sta­tus zuge­spro­chen wur­de, deut­lich ange­stie­gen. Das BAMF mel­det für das Jahr 2020 ins­ge­samt rund 7.100 Antragsteller*innen, die in Grie­chen­land inter­na­tio­na­len Schutz haben – also ent­we­der die Flücht­lings­an­er­ken­nung oder sub­si­diä­ren Schutz. Im Jahr 2020 kam fast jede zehn­te Per­son, die neu nach Deutsch­land ein­ge­reist ist und hier einen Asyl­an­trag gestellt hat, mit Schutz­sta­tus aus Grie­chen­land. Auch im Jahr 2021 setzt sich die­ser Trend fort.

Ein neu­er Bericht von PRO ASYL und unse­rer grie­chi­schen Part­ner­or­ga­ni­sa­ti­on Refu­gee Sup­port Aege­an (RSA) belegt, war­um es kei­nes­wegs ver­wun­der­lich ist, dass Schutz­be­rech­tig­te in Grie­chen­land alles dar­an set­zen, so schnell wie mög­lich aus Grie­chen­land raus zu kom­men: Die Betrof­fe­nen flie­hen vor dem nack­ten Elend.

Die Poli­tik der grie­chi­schen Regie­rung zielt seit letz­tem Jahr expli­zit dar­auf ab, aner­kann­te Flücht­lin­ge ver­elen­den zu las­sen. Der grie­chi­sche Migra­ti­ons­mi­nis­ter Notis Mit­a­ra­kis gibt ganz unver­blümt zu Pro­to­koll, dass Flücht­lin­ge nach der Gewäh­rung eines Schutz­sta­tus für sich selbst sor­gen müss­ten. In der Rea­li­tät bedeu­tet das, mit Kind und Kegel auf der Stra­ße zu sit­zen und auf Almo­sen ange­wie­sen zu sein. Nicht ein­mal ele­men­ta­re Bedürf­nis­se kön­nen befrie­digt werden.

Der grie­chi­schen Regie­rung fehlt schlicht­weg der poli­ti­sche Wil­le, die Men­schen­wür­de von Flücht­lin­gen zu garantieren.

Der grie­chi­schen Regie­rung fehlt schlicht­weg der poli­ti­sche Wil­le, die Men­schen­wür­de von Flücht­lin­gen zu garan­tie­ren. Damit schei­nen die schlimms­ten Befürch­tun­gen wahr zu wer­den: Wäh­rend neu ankom­men­de Schutz­su­chen­de an der Gren­ze sys­te­ma­tisch zurück in die Tür­kei geprü­gelt oder auf dem offe­nen Meer aus­ge­setzt wer­den, lässt man Aner­kann­te verelenden.

Wel­che dra­ma­ti­schen Fol­gen die­se Poli­tik für Schutz­be­rech­tig­te in Grie­chen­land hat, doku­men­tiert der neue Bericht von PRO ASYL und RSA: Unmit­tel­bar nach der Aner­ken­nung wer­den Flücht­lin­ge aus den Unter­künf­ten und Flücht­lings­la­gern gewor­fen, in denen sie wäh­rend des Asyl­ver­fah­rens unter­ge­bracht waren. Sämt­li­che Leis­tun­gen wer­den ein­ge­stellt. Gleich­zei­tig ist die Anzahl der betrof­fe­nen Schutz­be­rech­tig­ten stark gestie­gen: 35.372 Aner­ken­nun­gen im Jahr 2020, dop­pelt so viel wie im Jahr zuvor.

Staat­li­che Unter­künf­te für Aner­kann­te gibt es nicht, selbst eine kurz­fris­ti­ge Unter­brin­gung in einer Obdach­lo­sen­un­ter­kunft ist nicht mög­lich. Die Fol­ge: mas­sen­haf­te Obdachlosigkeit.

Schutzberechtige in Griechenland landen auf der Straße

Für eine Unter­kunft auf dem frei­en Woh­nungs­markt bräuch­ten die Betrof­fe­nen Geld, was sie nicht haben. Arbeit zu fin­den, um den Lebens­un­ter­halt aus eige­ner Kraft finan­zie­ren zu kön­nen, ist – selbst wenn es for­mell mög­lich sein soll­te – ange­sichts der hohen Arbeits­lo­sig­keit in Grie­chen­land (Stand Novem­ber 2020: 16,2%) aus­sichts­los. Schutz­be­rech­tig­te haben nicht die glei­chen Chan­cen bei der Arbeits­su­che wie Griech*innen, die wirt­schaft­li­chen Fol­gen der Coro­na-Pan­de­mie sind in Grie­chen­land ver­hee­rend. Der Ein­bruch der Wirt­schaft war im Jahr 2020 grö­ßer als im schlimms­ten Jahr der Finanz- und Wirt­schafts­kri­se 2011

Zugang zu Pro­gram­men inter­na­tio­na­ler Orga­ni­sa­tio­nen wie IOM oder UNHCR, die teils von der EU finan­ziert sind, erhal­ten die wenigs­ten. Selbst wenn  Flücht­lin­ge einen der begehr­ten Plät­ze erhal­ten, ist die Unter­stüt­zung ein Trop­fen auf den hei­ßen Stein und kann die Not nicht nach­hal­tig lin­dern. Sozi­al­leis­tun­gen sind in Grie­chen­land an so lan­ge Vor­auf­ent­halts­zei­ten gebun­den, dass Schutz­be­rech­tig­te die gesetz­li­chen Vor­aus­set­zun­gen nicht erfül­len kön­nen. Zusätz­lich sor­gen oft­mals auch absurd anmu­ten­de büro­kra­ti­sche Hür­den, die von den wenigs­ten erfüllt wer­den kön­nen, dafür, dass Aner­kann­te von Leis­tun­gen aus­ge­schlos­sen sind und auch kei­nen Zugang zur Gesund­heits­ver­sor­gung haben.

Abschiebung aus Deutschland in die Obdachlosigkeit

In den Fäl­len von aner­kann­ten Flücht­lin­gen, die aus Deutsch­land abge­scho­ben wur­den und von RSA in Grie­chen­land unter­stützt wer­den, sind die Men­schen auch meh­re­re Mona­te nach der Abschie­bung immer noch obdach­los und befin­den sich in einer aku­ten Notlage.

Eine der von RSA unter­stütz­ten Per­so­nen ist Ade­el Khan*. Sie ist eine Trans­gen­der­frau aus Paki­stan, die 2017 mit grie­chi­scher Flücht­lings­an­er­ken­nung nach Deutsch­land gekom­men war und hier Asyl bean­tragt hat­te. Unter Ver­weis auf die grie­chi­sche Aner­ken­nung lehn­te das Bun­des­amt (BAMF) ihren Asyl­an­trag als unzu­läs­sig ab, im August 2020 wur­de sie nach Athen abge­scho­ben. Trotz Unter­stüt­zung durch RSA ist Ade­el Khan in Athen immer noch obdach­los. Den Mitarbeiter*innen von RSA sag­te sie kürz­lich, sie füh­le sich hung­rig, kalt, macht­los und alleine.

»Ich bin jetzt seit acht Mona­ten auf der Stra­ße. Ich habe wirk­lich über­all nach einer Unter­kunft gefragt, aber ohne Erfolg. Sogar die Obdach­lo­sen­hei­me sind voll, es gibt lan­ge War­te­lis­ten. Außer­dem ver­lan­gen sie von mir eine gül­ti­ge Auf­ent­halts­er­laub­nis. Seit ich nach Grie­chen­land abge­scho­ben wur­de, war­te ich dar­auf, dass sie mir eine Auf­ent­halts­er­laub­nis geben. Seit­dem lebe ich ohne Papie­re. Ich schla­fe eine Nacht hier und eine Nacht dort. Ich füh­le mich unsi­cher zwi­schen Obdach­lo­sen, die Alko­hol trin­ken oder Dro­gen neh­men. Ich füh­le mich auch unsi­cher zwi­schen Men­schen aus mei­nem Land. 

»Wenn ich Frau­en­klei­der tra­ge, lachen die Leu­te über mich, Leu­te aus mei­nem Land schla­gen mich. In Deutsch­land war ich frei. Nie­mand hat über mich gelacht. Ich ver­ste­he nicht, war­um Deutsch­land mich hier­her zurück­ge­schickt hat.«

Ade­el Khan*

Ich ver­su­che Orte zu fin­den, an denen ich allei­ne schla­fen kann, weit weg von ande­ren. Zwei­mal wur­den mir mei­ne weni­gen Hab­se­lig­kei­ten geklaut: Kla­mot­ten, ein Schlaf­sack, eine Zahn­bürs­te. Sol­che Din­ge eben. Ich habe Grie­chen­land ver­las­sen, weil ich hier nicht sicher war. Ich bin gegan­gen, weil ich hier nicht ich selbst sein kann. Wenn ich Frau­en­klei­der tra­ge, lachen die Leu­te über mich, Leu­te aus mei­nem Land schla­gen mich. In Deutsch­land war ich frei. Nie­mand hat über mich gelacht. Ich ver­ste­he nicht, war­um Deutsch­land mich hier­her zurück­ge­schickt hat. Ich habe hier nichts und bin nicht sicher. Ich ver­ste­he nicht, war­um Grie­chen­land mich wie­der auf­ge­nom­men hat, wenn sie mir nicht hel­fen kön­nen.«

Wegweisendes Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen

Auch bei deut­schen Gerich­ten setzt sich lang­sam die Erkennt­nis durch, dass Abschie­bun­gen nach Grie­chen­land men­schen­rechts­wid­rig sind – nicht zuletzt auch durch Berich­te von PRO ASYL und RSA, die eine zen­tra­le Erkennt­nis­quel­le für deut­sche Gerich­te sind. Der Maß­stab, den die Gerich­te in Anwen­dung von euro­päi­scher Recht­spre­chung anle­gen, wird ger­ne auf die grif­fi­ge For­mel »Bett, Brot und Sei­fe« gebracht.

Geprüft wird, ob jemand durch die Abschie­bung in eine Situa­ti­on »extre­mer mate­ri­el­ler Not« gebracht wird, die es der Per­son unab­hän­gig vom eige­nen Wil­len und per­sön­li­chen Ent­schei­dun­gen nicht ermög­licht, ele­men­ta­re Bedürf­nis­se zu befrie­di­gen – näm­lich eine Unter­kunft zu fin­den, sich zu ernäh­ren und zu waschen. Die meis­ten Ver­wal­tungs­ge­rich­te gehen schon seit län­ge­rem davon aus, dass die­ser Maß­stab zumin­dest bei Men­schen mit einer beson­de­ren Schutz­be­dürf­tig­keit erreicht ist und sie des­halb nicht abge­scho­ben wer­den dür­fen. Ende Janu­ar 2021 ist das OVG Nord­rhein-West­fa­len als ers­tes Ober­ver­wal­tungs­ge­richt in zwei weg­wei­sen­den Urtei­len zu dem Schluss gekom­men, dass auch jun­ge, gesun­de und allein­ste­hen­de Män­ner, denen bis­her von vie­len Gerich­ten eine Rück­kehr noch zuge­mu­tet wur­de, nicht zurück­ge­schickt wer­den dürfen.

Schutzberechtige aus Griechenland im Limbo

Und das Bun­des­amt? Erst im Febru­ar 2021 wur­de bekannt, dass das BAMF bereits im Dezem­ber 2019 intern einen Ent­schei­dungs­stopp in Ver­fah­ren von Asyl­su­chen­den mit Aner­ken­nung in Grie­chen­land ver­hängt hat. Das bedeu­tet, dass Antragsteller*innen vom BAMF zwar ange­hört wer­den, aber seit nun­mehr 16 Mona­ten kei­ne Beschei­de ver­schickt wer­den. Anstatt zu ent­schei­den, dass die Betrof­fe­nen nicht nach Grie­chen­land zurück­ge­schickt wer­den dür­fen, und ange­sichts der grie­chi­schen Schutz­zu­er­ken­nung fest­zu­stel­len, dass ihnen auch in Deutsch­land inter­na­tio­na­ler Schutz mit allen dazu gehö­ri­gen Rech­ten zusteht, pas­siert schlicht­weg nichts. Ent­schei­dun­gen wer­den auf die lan­ge Bank gescho­ben, die Betrof­fe­nen wer­den in der  Unge­wiss­heit zurückgelassen.

Hier zei­gen sich auch die fata­len Fol­gen der 2019 ein­ge­führ­ten gesetz­li­chen Ver­pflich­tung für Asyl­su­chen­de, bis zu 18 Mona­te in Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen zu leben. Men­schen, die Mona­te oder sogar Jah­re in Moria und ande­ren grie­chi­schen Elend­sla­gern durch­ge­macht haben und denen Schutz zuer­kannt wur­de, ver­sau­ern in Deutsch­land in Erstaufnahmeeinrichtungen.

Das BAMF schiebt Entscheidungen bewusst auf

Es wäre nicht das ers­te Mal, dass das BAMF Ent­schei­dun­gen bewusst auf­schiebt – in der Hoff­nung, dass es mög­li­cher­wei­se irgend­wann zu einer Ände­rung der Sach­la­ge kommt und es dann Ableh­nun­gen hagelt. In anhän­gi­gen Kla­ge­ver­fah­ren, in denen sich Aner­kann­te aus Grie­chen­land gegen eine Ableh­nung vom BAMF gericht­lich weh­ren, ver­tritt das BAMF wei­ter­hin die Auf­fas­sung, dass grund­sätz­lich alle nach Grie­chen­land zurück­ge­schickt wer­den kön­nen – auch beson­ders schutz­be­dürf­ti­ge Men­schen wie Fami­li­en mit klei­nen Kindern.

In einem Schrift­satz des BAMF an ein deut­sches Ver­wal­tungs­ge­richt von Ende Febru­ar 2021, der PRO ASYL vor­liegt, behaup­tet das BAMF: »Die Situa­ti­on von aner­kann­ten Schutz­be­rech­tig­ten in Grie­chen­land hat sich ins­ge­samt im Ver­gleich zu vor­he­ri­gen Jah­ren deut­lich ver­bes­sert.« Der Ent­schei­dungs­stopp vom BAMF bedeu­tet zudem nicht, dass kei­ne Abschie­bun­gen nach Grie­chen­land statt­fin­den. PRO ASYL sind ein­zel­ne Fäl­le aus den letz­ten Wochen bekannt, in denen inter­na­tio­nal Schutz­be­rech­tig­te nach Grie­chen­land abge­scho­ben wurden.

Wer es ernst meint mit einem »Gemein­sa­men Euro­päi­schen Asyl­sys­tem« muss Flücht­lin­gen sofort nach Aner­ken­nung die vol­le Frei­zü­gig­keit inner­halb der EU gewähren.

Beson­ders absurd erscheint der Umgang mit Schutz­be­rech­tig­ten aus Grie­chen­land, wenn man die  Mel­dun­gen aus dem Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um liest, wie vie­le Men­schen in den ver­gan­ge­nen Mona­ten aus Grie­chen­land auf­ge­nom­men wur­den. Eins ist klar: Wir freu­en uns über jede ein­zel­ne Per­son, die aus Grie­chen­land aus­ge­flo­gen wird. Ange­sichts der kata­stro­pha­len Situa­ti­on in Grie­chen­land muss die­se Auf­nah­me ver­län­gert und signi­fi­kant erhöht wer­den. Wenn die Men­schen, auf deren Auf­nah­me das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um so stolz ist, jedoch eigen­stän­dig nach Deutsch­land kom­men und hier einen erneu­ten Asyl­an­trag stel­len, wird ihnen die kal­te Schul­ter gezeigt und sie müs­sen sich ihr Recht in jah­re­lan­gen Gerichts­ver­fah­ren erkämpfen.

Was es braucht?

Das BAMF darf Men­schen, die in Grie­chen­land inter­na­tio­na­len Schutz erhal­ten haben, nicht als unzu­läs­sig ableh­nen, son­dern muss ange­sichts der Schutz­zu­er­ken­nung aus Grie­chen­land ent­schei­den, dass sie auch in Deutsch­land inter­na­tio­na­len Schutz erhal­ten und sämt­li­che damit ver­bun­de­nen Rech­te wahr­neh­men kön­nen. Wer es ernst meint mit einem »Gemein­sa­men Euro­päi­schen Asyl­sys­tem« muss Flücht­lin­gen, denen inter­na­tio­na­ler Schutz in einem Mit­glied­staat gewährt wird, sofort nach Aner­ken­nung die vol­le Frei­zü­gig­keit inner­halb der EU gewähren.

(rsa / ame)

*Name zum Schutz der betroffenen Person geändert