14.03.2020
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Flüchtlingsjunge in einer Martkhalle Nähe der türkisch-griechischen Grenze. Foto: picture alliance / Mohssen Assanimoghaddam / dpa

Weil es für sie in der Türkei weder Schutz noch Perspektive gibt, versuchen Schutzsuchende das Land Richtung EU zu verlassen. Der EU-Türkei-Deal mit Erdoğan tritt an den europäischen Außengrenzen brutal zutage. Der Zugang zum Asylrecht in der EU bleibt für Geflüchtete versperrt, ihre Menschenrechte werden in der Türkei missachtet.

Die Aus­wir­kun­gen der Zer­stö­rung des Rechts­staa­tes in der Tür­kei sind auch für Schutz­su­chen­de dra­ma­tisch. Erdoğan, der sich mit den lau­fen­den Mili­tär­ope­ra­tio­nen in Syri­en selbst als kriegs­trei­bend zeigt und vor des­sen repres­si­ven Staats­ap­pa­rat immer mehr Staatsbürger*innen flie­hen, ist kein Part­ner für den Schutz von Men­schen­rech­ten. Der Deal ist und bleibt der Sarg­na­gel für das Recht geflüch­te­ter Men­schen auf Schutz.

Pres­se­zen­sur, will­kür­li­che Fest­nah­men und natio­na­lis­ti­sche Stim­mungs­ma­che wir­ken sich mas­siv auf Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on im Land aus. Mitarbeiter*innen und Aktivist*innen sind in ihrer Arbeit mas­siv ein­ge­schränkt, ein unab­hän­gi­ges Moni­to­ring ist kaum mög­lich. So las­sen sich etwa rechts­wid­ri­ge Abschie­bun­gen nur schwer doku­men­tie­ren (wie bei­spiels­wei­se durch Human Rights Watch im März 2018), aktu­el­le Zah­len sind schwer zu fin­den.

Massenhaft Abschiebungen und erzwungene »freiwillige Ausreisen«

Fort­lau­fen­de Berich­te von Amnes­ty Inter­na­tio­nal zwi­schen 2015 und 2019 bele­gen, dass die Tür­kei kon­ti­nu­ier­lich gegen das völ­ker­recht­li­che Non-Refou­le­ment-Gebot ver­stößt. Die Pra­xis der erzwun­ge­nen »frei­wil­li­gen« Aus­rei­se ist weit­läu­fig dokumentiert.

Flücht­lin­ge in der Tür­kei sind ver­pflich­tet, sich in einer ihnen zuge­wie­se­nen Pro­vinz auf­zu­hal­ten. Syrer*innen, die auf­grund feh­len­der oder fal­scher Regis­trie­rung fest­ge­nom­men wur­den – wer­den in Haft gezwun­gen, Erklä­rung der »frei­wil­li­gen Aus­rei­se« zu unter­schrei­ben. Zugang zu Infor­ma­tio­nen und Rechts­ver­tre­tung sind dabei nicht sicher­ge­stellt. Die Anwalts­kam­mer Istan­bul spricht von 180 Fäl­len allei­ne zwi­schen Juli und August 2019. Vie­le wur­den in die Bür­ger­kriegs­re­gi­on Idlib gebracht. Eini­ge Betrof­fe­ne wur­den Berich­ten zufol­ge unmit­tel­bar von Ter­ror­or­ga­ni­sa­tio­nen ver­haf­tet. Wei­te­re Quel­len spre­chen von Toten infol­ge der Abschiebungen.

Die Will­kür, vor der immer mehr tür­ki­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge flie­hen, macht auch bei Schutz­su­chen­den nicht halt.

31.000

Abschie­bun­gen aus der Tür­kei ins Bür­ger­kriegs­land Afgha­ni­stan gab es 2018.

Von Abschie­bun­gen betrof­fen sind auch afgha­ni­sche Schutz­su­chen­de. 2018 wur­den Tau­sen­de in das Kriegs­land Afgha­ni­stan abge­scho­ben. Char­ter-Maschi­nen wer­den ein­ge­setzt. Der AIDA-Bericht spricht von 31.000 Fäl­len. 2019 dürf­te die­se Zahl noch ein­mal höher ausfallen.

Nach dem ver­ei­tel­ten Putsch-Ver­such vom Juli 2016 wur­de der Abschie­bungs­schutz auch recht­lich geschwächt. Nun ist per Gesetz vor­ge­se­hen, dass sowohl Schutz­su­chen­de als auch Inha­ber eines Schutz­sta­tus aus Grün­den der öffent­li­chen Ord­nung, öffent­li­chen Sicher­heit oder auf­grund von »Ter­ro­ris­mus« jeder­zeit abge­scho­ben wer­den kön­nen. Vor staat­li­cher Will­kür­lich­keit in Bezug auf Ter­ro­ris­mus warnt sogar das Aus­wär­ti­ge Amt. Die Will­kür, vor der immer mehr tür­ki­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge flie­hen, macht auch bei Schutz­su­chen­den nicht halt.

Der Krieg in Nordsyrien & was er mit dem Deal zu tun hat

Erdoğan hat im Okto­ber 2019 die lang geplan­te Mili­tär­of­fen­si­ve in Nord­sy­ri­en begon­nen. Nach den Inva­sio­nen in Dsch­ara­b­lus 2016 und Afrin 2018 ist es das drit­te Mal, dass die Tür­kei eine völ­ker­rechts­wid­ri­ge Mili­tär­ope­ra­ti­on in Syri­en durchführt.

Erdoğan plant Mil­lio­nen syri­scher Geflüch­te­te in einer »Sicher­heits­zo­ne« in Nord­sy­ri­en anzu­sie­deln. Die­ser Plan fin­det sich bereits im EU-Tür­kei-Deal von 2016.

Erdoğan plant Mil­lio­nen syri­scher Geflüch­te­te in einer »Sicher­heits­zo­ne« in Nord­sy­ri­en anzu­sie­deln. Dafür möch­te er Gebie­te nut­zen, in die die Tür­kei zuvor völ­ker­rechts­wid­rig ein­mar­schiert ist. Plä­ne wie die staat­li­che Bau­fir­ma TOKI hier Sied­lun­gen bau­en sol­len, lie­gen Medi­en­be­rich­ten zufol­ge bereits vor. Ange­sichts der doku­men­tie­ren Pra­xis der »erzwun­ge­nen frei­wil­li­gen Aus­rei­sen« ist es nahe­lie­gend, dass eine sol­che Ansied­lung nicht immer frei­wil­lig erfol­gen wür­de. Zu erwar­ten sind Abschie­bun­gen, die gegen das Ver­bot von Kol­lek­tiv­aus­wei­sun­gen und gegen das Non-Refou­le­ment-Gebot verstoßen.

Die­ser Plan fin­det sich bereits im EU-Tür­kei-Deal von 2016. Der völ­ker­rechts­wid­ri­ge Ein­marsch in Syri­en und die dar­auf auf­bau­en­den Plä­ne hat­ten sozu­sa­gen einen euro­päi­schen Frei­fahrt­schein.

In der EU-Erklä­rung vom 18. März 2016 heißt es wört­lich unter Punkt 9: »Die EU und ihre Mit­glied­staa­ten wer­den mit der Tür­kei bei allen gemein­sa­men Anstren­gun­gen zur Ver­bes­se­rung der huma­ni­tä­ren Bedin­gun­gen in Syri­en, hier ins­be­son­de­re in bestimm­ten Zonen nahe der tür­ki­schen Gren­ze, zusam­men­ar­bei­ten, damit die ansäs­si­ge Bevöl­ke­rung und die Flücht­lin­ge in siche­re­ren Zonen leben kön­nen(Her­vor­he­bung der Red.).

Hängepartie Registrierung

Auch die Tür­kei schot­tet sich ab. Bereits vor dem Deal mit der EU, hat sie die Visare­gu­la­ri­en für Syrer*innen ver­schärft, Grenz­über­gän­ge geschlos­sen und mit dem Bau von Grenz­mau­ern an der Gren­ze zum Iran und zu Syri­en begon­nen. Wie doku­men­tiert wur­de, hält die Tür­kei Schutz­su­chen­de auch mit Schüs­sen davon ab, die syrisch-tür­ki­sche Gren­ze zu pas­sie­ren. Immer wie­der kommt es zu Todesopfern.

Die nächs­te gro­ße Hür­de ist die Regis­trie­rung bei den tür­ki­schen Behör­den. Ohne die Regis­trie­rung sind Schutz­su­chen­de ille­gal im Land. Wer­den sie kon­trol­liert, etwa auf dem Weg zu einer zuge­wie­se­nen Pro­vinz, kön­nen sie fest­ge­nom­men wer­den und in Abschie­be­haft gera­ten. 2018 berich­tet Human Rights Watch, dass 10 Pro­vin­zen dar­un­ter Istan­bul, die Regis­trie­rung syri­scher Flücht­lin­ge ein­ge­stellt haben. Ob eine Pro­vinz wei­ter­hin für Neu-Regis­trie­run­gen offen ist, kann sich täg­lich ändern. Laut Refu­gee Inter­na­tio­nal berich­ten afgha­ni­sche Flücht­lin­ge von mehr­jäh­ri­gen Ver­zö­ge­run­gen und zwi­schen­zeit­li­chen Schlie­ßun­gen der Regis­trie­rungs­stel­le oder der Zuwei­sung ande­rer Pro­vin­zen zur Registrierung.

»Temporärer Schutz« in der Türkei ?

Die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on (GFK) wur­de von der Tür­kei nur mit »geo­gra­phi­schem Vor­be­halt« unter­zeich­net, d.h. nur Flücht­lin­ge aus Euro­pa kön­nen sich auf sie beru­fen. Nicht-euro­päi­schen Flücht­lin­gen sicher­te die Tür­kei auf dem Papier Schutz vor Abschie­bun­gen zu – eine Mini­mal­an­for­de­rung, der sie nicht gerecht wird.

Die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on (GFK) wur­de von der Tür­kei nur mit »geo­gra­phi­schem Vor­be­halt« unter­zeich­net, nur Flücht­lin­ge aus Euro­pa kön­nen sich auf sie berufen.

Syri­sche Flücht­lin­ge kön­nen auf­grund der ein­ge­schränk­ten Gel­tung der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on nur »tem­po­rä­ren Schutz« erhal­ten – ein Grup­pen­sta­tus, der jeder­zeit durch eine poli­ti­sche Ent­schei­dung des Prä­si­di­al­am­tes been­det wer­den kann.

Neben Syrer*innen kom­men die meis­ten Flücht­lin­ge in der Tür­kei aus Afgha­ni­stan, dem Irak und dem Iran – im Juni 2019 sind es etwa 400.000. Sie kön­nen soge­nann­ten »inter­na­tio­na­len Schutz« bean­tra­gen. In einem indi­vi­du­el­len Ver­fah­ren wird geprüft, ob sie einen »beding­ten Schutz­sta­tus« oder »sub­si­diä­ren Schutz« erhal­ten. Auch wenn die Begrif­fe euro­päi­schen ähneln, sind sie weit von einem siche­ren Sta­tus ent­fernt. Bei­des sol­len Über­gangs­lö­sun­gen bis zum ver­meint­li­chen Resett­le­ment in einen ande­ren Staat sein und bie­ten kei­ne lang­fris­ti­ge Per­spek­ti­ve, da es für Inhaber*innen des »Inter­na­tio­na­len Schut­zes« kei­ne Mög­lich­keit auf einen lang­fris­ti­gen Auf­ent­halts­ti­tel gibt und der Sta­tus auch nicht als Zeit für die Ein­bür­ge­rungs­vor­aus­set­zun­gen gezählt wird.

Auch beim Resett­le­ment sieht es für sie düs­ter aus: es gibt kaum Auf­nah­men von nicht-syri­schen Flücht­lin­gen aus der Tür­kei. 2019 (Stand Novem­ber) wur­den 10.268 Flücht­lin­ge umge­sie­delt. Bei etwa vier Mil­lio­nen Flücht­lin­gen in der Tür­kei sind dass 0,26 Pro­zent. Von den im Land leben­den 400.000 nicht-syri­schen Flücht­lin­gen und Asyl­su­chen­den wur­den 2019 ledig­lich etwa 2.160 umge­sie­delt – also etwa 0,5 Pro­zent. Damit haben die Men­schen weder eine rea­lis­ti­sche Chan­ce auf ein gutes und siche­res Leben in der Tür­kei, noch auf einen Neu­an­fang in einem Drittstaat.

Prekäre soziale Situation

In der Tür­kei haben Schutz­su­chen­de kein Anspruch auf staat­li­che Unter­brin­gung oder Zugang zu Sozi­al­woh­nun­gen. Unter­stüt­zung gibt es kaum. Laut dem AIDA Bericht Update 2018 leben ledig­lich 4 Pro­zent aller syri­schen Flücht­lin­ge in einem offi­zi­el­len Flücht­lings­la­ger – die  zuneh­mend alter­na­tiv­los geschlos­sen wer­den. Ohne die not­wen­di­gen finan­zi­el­len Mit­tel sind vie­le gezwun­gen unter pre­kä­ren Bedin­gun­gen in bau­fäl­li­gen Woh­nun­gen, in Zel­ten oder auf der Stra­ße zu leben.

Der Zugang für Geflüch­te­te zum regu­lä­ren Arbeits­markt ist de fac­to nicht gegeben.

Der Zugang für Geflüch­te­te zum regu­lä­ren Arbeits­markt ist de fac­to nicht gege­ben. Im Zeit­raum von Janu­ar 2016 bis Sep­tem­ber 2018 erhiel­ten knapp 30.000 syri­sche Flücht­lin­ge mit »tem­po­rä­rem Schutz« eine Arbeits­er­laub­nis – also weni­ger als 1 Pro­zent. 2017 – aktu­el­le­re Zah­len konn­ten wir nicht aus­fin­dig machen – waren es bei Afghan*innen ledig­lich 609 Per­so­nen, die eine Arbeits­er­laub­nis erhiel­ten. Zusätz­lich gibt es Anstel­lungs­quo­ten und Restrik­tio­nen für bestimm­te Beru­fe. Der Groß­teil arbei­tet unter häu­fig pre­kä­ren Umstän­den im gene­rell gro­ßen infor­mel­len Sek­tor. Auch Kin­der sind davon betroffen.

Die Tür­kei ist kein »siche­rer Dritt­staat«, das hat schon 2016 ein Gut­ach­ten des Asyl­rechts­an­walts Dr. Rein­hard Marx im Auf­trag von PRO ASYL klar­ge­stellt. Schutz­su­chen­de erhal­ten in der Tür­kei kei­nen dau­er­haf­ten Schutz­sta­tus und nicht die Rech­te aus der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on. Dr. Marx stellt fest, »dass die Tür­kei das Refou­le­ment-Ver­bot weder in sei­ner Form als Zurück­wei­sungs- noch in sei­ner Form als Abschie­bungs­ver­bot ein­hält« (S. 15).

Keine Zusammenarbeit mit Despoten! 

Trotz der unsi­che­ren Lage von Schutz­su­chen­den in der Tür­kei will die EU wei­ter am Flücht­lings­deal fest­hal­ten. Wie es Men­schen geht, die aktu­ell auf­grund des EU-Tür­kei-Deals aus Grie­chen­land in die Tür­kei abge­scho­ben wur­den, ist auch der Bun­des­re­gie­rung unbe­kannt. Sie beruft sich wei­ter­hin auf Berich­te der Kom­mis­si­on von 2017. Obwohl im EU-Tür­kei Deal eine monat­li­che Bericht­erstat­tung zu allen Punk­ten vor­ge­se­hen war, gibt es kein sys­te­ma­ti­sches Moni­to­ring oder Berich­te über die Situa­ti­on von Rück­ge­führ­ten sei­tens der EU.

Es braucht jetzt eine Ach­tung von Men­schen­rech­te an der Gren­ze und das Ein­tre­ten für den Flücht­lings­schutz durch die EU und ihren Mitgliedstaaten!

Der Deal von 2016 ist weg­be­rei­tend für die huma­ni­tä­re und recht­li­che Kri­se in der sich die EU der­zeit befin­det. Push-Backs von Grie­chen­land in die Tür­kei und die Aus­set­zung von Asyl­ver­fah­ren ver­let­zen die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on und unver­äu­ßer­li­che Rech­te indi­vi­du­el­ler Per­so­nen, die Schutz brau­chen. Wie die Ver­tre­ter der drei gro­ßen EU Insti­tu­tio­nen – Kom­mis­si­on, Par­la­ment und Rat – ein­drück­lich bewie­sen haben, sind men­schen­recht­li­che Beden­ken für sie längst sekundär.

Wir wer­den uns dem nicht anschlie­ßen! Es braucht jetzt eine Ach­tung von Men­schen­rech­te an der Gren­ze und das Ein­tre­ten für den Flücht­lings­schutz durch die EU und ihren Mit­glied­staa­ten – eine Fort­set­zung der euro­päi­schen »Deal« – Poli­tik wäre der Sarg­na­gel der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on und der Euro­päi­schen Menschenrechtskonvention.