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Aus Brüssel und Athen: Angriffe auf die Flüchtlingskonvention

Europa hält am Flüchtlingsdeal mit Erdoğan fest: mehr Geld für Flüchtlinge, aber auch für die Grenzaufrüstung. Griechenland hat kürzlich die Türkei für den Großteil aller Schutzsuchenden zum »sicheren Drittstaat« erklärt- aus Flüchtlingen werden Rechtlose. Die Flüchtlingskonvention wird mit Brüsseler Unterstützung weitgehend außer Kraft gesetzt.
Es klingt nach einer Randnotiz, hat aber weitreichende Folgen für den Flüchtlingsschutz in Griechenland und der gesamten EU: Mit gemeinsamem Beschluss vom 7. Juni 2021 haben der stellvertretende griechische Außenminister und der griechische Minister für Migration und Asyl die Türkei für alle Asylsuchenden aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Bangladesch und Somalia zum sogenannten »sicheren Drittstaat« erklärt. Menschen aus diesen fünf Herkunftsländern, die in Griechenland ankommen, wird in der Konsequenz der Zugang zu einem Asylverfahren in der EU versperrt. Ihnen droht in Griechenland ab sofort die Ablehnung ihrer Asylanträge als unzulässig und die Abschiebung in die Türkei.
Anträge von Asylsuchenden aus diesen fünf Herkunftsländern machten im Jahr 2020 rund zwei Drittel (66 Prozent) aller in Griechenland gestellten Asylanträge aus. Der Anteil bei den Anerkennungen lag mit 77 Prozent sogar noch darüber. Griechenland versucht somit, sich der Zuständigkeit für einen Großteil der auf dem eigenen Territorium ankommenden Schutzsuchenden zu entledigen und weitet die Auslagerung von Verantwortung auf die Türkei aus.
Die Maßnahme geht zurück auf den EU-Türkei-Deal
Es wäre jedoch falsch, mit dem Finger nur auf Griechenland zu zeigen. Letztlich geht Griechenland nur einen weiteren Schritt, um Vereinbarungen umzusetzen, die auf EU-Ebene beschlossen wurden. In dem am 18. März 2016 unterzeichneten EU-Türkei-Deal heißt es wörtlich: »Alle neuen irregulären Migranten, die ab dem 20. März 2016 von der Türkei auf die griechischen Inseln gelangen, werden in die Türkei rückgeführt«.
Auf den Inseln ankommende syrische Flüchtlinge werden seit dem Deal nicht mehr zu ihren Fluchtgründen befragt, sie werden auf die Türkei als »sicheren Drittstaat« verwiesen, ihre Asylanträge werden als unzulässig abgelehnt.
Nur ein paar Tage nach dem EU-Türkei-Deal hatte Griechenland in Reaktion auf massiven Druck von der EU und anderen Mitgliedsstaaten für alle Schutzsuchenden, die auf den griechischen Inseln ankommen, ein beschleunigtes Asylgrenzverfahren eingeführt und eine Residenzpflicht für die Inseln erlassen. Schutzsuchende wurden fortan unter menschenverachtenden Bedingungen in den EU-Hotspots festgesetzt.
Auf den Inseln ankommende syrische Flüchtlinge werden seitdem nicht mehr zu ihren Fluchtgründen befragt, sie werden auf die Türkei als »sicheren Drittstaat« verwiesen, ihre Asylanträge werden als unzulässig abgelehnt. Ausnahmen gab es bisher nur für Flüchtlinge, die ihre besondere Schutzbedürftigkeit nachweisen konnten. Unser Team von Refugee Support Aegean (RSA) hat von Anfang an darauf hingewiesen, dass bei diesen Zulässigkeitsverfahren von individueller Prüfung und rechtsstaatlichen Verfahren keine Rede sein kann. Unzulässigkeitsentscheidungen werden von der griechischen Asylbehörde mit quasi identischem Inhalt für syrische Staatsangehörige ohne Prüfung der besonderen Umstände des Einzelfalls erlassen.
Vollzogen wurden Abschiebungen in die Türkei jedoch nur in geringem Maß. Zwischen 2016 und 2020 wurden etwa 2.100 Schutzsuchende in die Türkei abgeschoben, darunter etwa 400 syrische Flüchtlinge. Im März 2020 hat die Türkei die Rückübernahme von Schutzsuchenden schließlich komplett eingestellt – temporär, heißt es. Für die Betroffenen bedeutet das, dass sie auf den Inseln entweder in Abschiebehaft sitzen, obwohl sie nicht abgeschoben werden können, oder ohne jegliche staatliche Unterstützung auf den Inseln vor sich hin vegetieren.
Kontinuierlich haben PRO ASYL und RSA in den vergangenen Jahren angeprangert, dass anerkannte Flüchtlinge in Griechenland in Missachtung grundlegender Rechte leben müssen. Sie landen buchstäblich mit Kind und Kegel auf der Straße und sehen sich gezwungen, Griechenland zu verlassen. Seit Juli 2020 sind rund 17.000 Menschen mit Schutzstatus in Griechenland weiter nach Deutschland geflohen. Die von ihnen gestellten Asylanträge hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf Eis gelegt, obwohl sich die Gerichte weitgehend einig sind, dass eine Rückkehr nach Griechenland nicht zumutbar ist.
Zusätzlich wird der Druck auf Griechenland erhöht, die aus Sicht der Bundesregierung unerwünschte, aber legale Weiterflucht zu stoppen. Am 1. Juni 2021wendete sich ein von Deutschland angeführtes Bündnis von sechs Schengen-Staaten an die Kommission. In dem Brief prangerten sie die »Sekundärbewegungen« von anerkannten Flüchtlingen mit Reisedokument aus Griechenland scharf an und drängten auf Maßnahmen, um die Weiterflucht zu unterbinden und die Abschiebung dieser Gruppe zu ermöglichen. Zur Kenntnisnahme wurde der Brief auch an den griechischen Migrationsminister Mitarachi geschickt.
Dieser wies in seinem Antwortschreiben den »eklatanten Missbrauchs von Reisedokumenten für Flüchtlinge« zurück und erinnerte richtig daran, dass die Ausstellung von Reisedokumenten eine Pflicht nach internationalem und EU-Recht sei.
Während Mitarachis einerseits auf internationale und EU-rechtliche Verpflichtungen verwies, folgte noch in der gleichen Woche die Ausweitung der Anwendung des sicheren Drittstaatskonzepts. Wie ausgeführt entfällt ein Großteil der positiv beschiedenen Asylverfahren in Griechenland auf die fünf Herkunftsländer. Die Änderung wird zur Folge haben, dass signifikant weniger Schutzsuchende in Griechenland Schutz erhalten und damit die Gruppe, die der Bundesregierung derzeit ein Dorn im Auge ist, verkleinert wird.
Das Verfahren, was bisher nur bei schutzsuchenden Syrer*innen auf den griechischen Inseln zur Anwendung kam, wird durch den Ministerialbeschluss vom 7. Juni 2021 nun ausgeweitet auf alle Schutzsuchenden aus den fünf genannten Herkunftsländern – egal wo sie in Griechenland ankommen und einen Asylantrag stellen. Sie werden von den griechischen Behörden nicht mehr zu ihren Fluchtgründen, sondern nur noch im Hinblick auf die Türkei befragt. Ausnahmen für besonders schutzbedürftige Menschen (wie z.B. Menschen mit schweren Erkrankungen) gibt es nicht.
Für alle gilt die gesetzliche Vermutung, dass sie in der Türkei ein ausreichendes Maß an Sicherheit und Menschenwürde finden würden. Den Nachweis, dass die Türkei für sie kein sicherer Drittstaat ist, müssen die Betroffenen selbst erbringen, die Beweislast liegt bei ihnen. Bereits jetzt ist absehbar, dass die Verfahren in enormer Geschwindigkeit abgehalten werden. Zwischen Antragstellung und Ablehnung könnte künftig keine Woche mehr verstreichen. Zeit sich anwaltliche Unterstützung einzuholen bleibt dabei nicht.
Unser Team von RSA in Griechenland geht davon aus, dass nicht nur bei neu ankommenden Schutzsuchenden so verfahren wird, sondern auch bei Menschen, die sich bereits im regulären Asylverfahren befinden, aber noch keine Anhörung zu ihren Fluchtgründen hatten.
Die Türkei ist vieles, nur nicht »sicher«
Dass das Regime Erdoğan kein Partner für die Gewährleistung menschenrechtlicher Garantien darstellt, müsste Griechenland besonders gut wissen: Weiterhin fliehen viele türkische Staatsangehörige insbesondere über die Evros-Landgrenze in den Nachbarstaat um den Repressionen Erdoğans zu entkommen.
Generell gilt die Genfer Flüchtlingsrechtskonvention in der Türkei nur für Flüchtlinge aus europäischen Ländern. Flüchtlingen aus den vom Beschluss betroffenen Ländern steht in der Türkei weder theoretisch noch praktisch ein gleichwertiger Status offen. Sowohl der »temporäre Schutz«, der in Reaktion auf die Fluchtbewegung aus Syrien eingeführt wurde und nur syrischen Flüchtlingen offen steht, als auch der »bedingte Schutzstatus« der für Flüchtlinge aus Afghanistan, Bangladesch, Pakistan und Somalia greifen sollte, ist zeitlich limitiert und bietet weder Sicherheit noch Perspektiven.
Der Demokratieabbau und die staatliche Willkür werden auch im maroden Schutzsystem der Türkei deutlich. Weiterhin bleibt es eine der größten Herausforderungen, einen Asylantrag überhaupt zu registrieren und den Aufenthalt in der Türkei damit (zumindest vorübergehend) zu legalisieren. Ohne die Registrierung laufen Schutzsuchende ständig Gefahr, in Kontrollen aufgegriffen und im Anschluss inhaftiert zu werden. Auch der Deckmantel der Terrorismusbekämpfung wird von der Türkei genutzt, um die Ausweisung von Schutzsuchenden zu erwirken – intransparent und meist ohne triftigen Grund. Die Abschiebezentren bleiben eine Blackbox. Hier werden Menschen unter Druck gesetzt Erklärungen zur »freiwilligen« Rückkehr zu unterzeichnen. Damit wird auch im Landesinneren das Gebot der Nichtzurückweisung als Minimalanforderung des Flüchtlingsschutzes gebrochen.
Die Anfang des Jahres von PRO ASYL herausgegebene Expertise »The Situation of Afghan Refugees in Turkey« zeigt zentrale Probleme von afghanischen Flüchtlingen im Zugang zum Schutz in der Türkei auf, die in vielerlei Hinsicht auch auf andere Gruppen übertragbar sind.
Fehlender Zugang zum Flüchtlingsschutz in Griechenland wird dramatische Konsequenzen haben
Es ist davon auszugehen, dass Asylanträge von Menschen aus Syrien, Afghanistan, Somalia, Pakistan und Bangladesch ab sofort bis auf wenige Ausnahmen von den griechischen Behörden als unzulässig abgelehnt werden. Den Betroffenen droht in der Folge die Abschiebung in die Türkei. Angesichts der bisherigen Erfahrungen erscheint es unwahrscheinlich, dass die Türkei Tausende von Asylsuchenden aus Griechenland zurücknehmen wird.
Es ist anzunehmen, dass die Neuregelung genau die Population schafft, die fortan in diesen Haftzentren weggesperrt werden soll. Wer der Haft entgehen kann, landet ohne jegliche staatliche Unterstützung auf der Straße.
Die EU Hotspots auf den Inseln werden derzeit kostspielig um- bzw. neugebaut, Haftkapazitäten werden im gesamten Land erhöht. Es ist anzunehmen, dass die Neuregelung genau die Population schafft, die fortan in diesen Haftzentren weggesperrt werden soll. Wer der Haft entgehen kann, landet ohne jegliche staatliche Unterstützung auf der Straße.
EU Gipfel: Brüssel verlagert Deal vor
Die Maßnahme ist im Gesamtpaket zu sehen: Die elenden Zustände von Asylsuchenden und anerkannten Flüchtlingen kalkulierter Bestandteil der Abschottungslogik – sie sollen Abschrecken bzw. zur Weiterreise drängen. Mit der jüngsten gesetzlichen Verschärfung wird zudem eine flüchtlingsfeindliche Politik nach ungarischem Vorbild institutionalisiert. Hervorzuheben sind zudem Push-Backs durch die griechische Küstenwache und die EU- Grenzschutzagentur Frontex finden tagtäglich statt und haben die Zahlen der Ankünfte auf den griechischen Inseln erheblich reduziert.
Um den hässlichen Bildern zu entgehen, versuchen die EU und ihre Mitgliedsstaaten in gewohnter Manier, diese an eine andere Grenze zu verlagern: aktuelle Pläne der EU Kommission sehen vor, das Element der Grenzkontrolle auf türkischer Seite zu stärken. Im Rahmen des Treffens der Staats- und Regierungschefs der EU sicherten diese der Türkei neuerlich 3.5 € Milliarden zu. Die Summe soll über die nächsten drei Jahre ausgezahlt werden. Weiterhin steht dabei die Unterstützung von syrischen Geflüchteten in der Türkei im Fokus. Laut einer geleakten Vorlage soll jedoch ein Anteil auch auf eine verstärkte Grenzkontrolle durch die Türkei entlang deren östliche Grenze entfallen, dem Grenzraum der Türkei zu Syrien, dem Irak und dem Iran. Die Fortsetzung der Zusammenarbeit, die erneut auf Kanzlerin Merkel zurückgeführt wird, unterstreicht deren Position als treibende Kraft der europäischen Externalisierungspolitik.
Der Beschluss muss zurückgenommen werden!
PRO ASYL und RSA warnen davor, dass das Recht auf Asyl und die Flüchtlingskonvention von 1951 in Griechenland – mit aktiver Unterstützung der Europäischen Union – großen Teils außer Kraft gesetzt wird. Während Europa das 70-jährige Bestehen der Genfer Flüchtlingskonvention begeht, stellt der Versuch einen Angriff auf die Grundprinzipien der Konvention dar. Die Einstufung der Türkei als »sicherer Drittstaat“ hat große politische Bedeutung und demontiert im Wesentlichen die minimalen Sicherheitsvorkehrungen des maroden griechischen Asylsystems und gefährdet Tausende von Schutzsuchenden in eklatanter Missachtung grundlegender rechtsstaatlicher Prinzipien
Während Europa das 70-jährige Bestehen der Genfer Flüchtlingskonvention begeht, stellt der Versuch einen Angriff auf die Grundprinzipien der Konvention dar.
PRO ASYL und RSA fordern die griechische Regierung daher auf den gemeinsamen Ministerialbeschluss zurückzuziehen.
Bisher fehlt jedwede Kritik von Seiten der EU Kommission und der Mitgliedsstaaten, allen voran Deutschlands sowie des UNHCRs an der weitreichenden Neuregelung. Dieses Schweigen kann nur als stille Zustimmung gewertet werden. Wir fordern daher die EU-Kommission, Mitgliedsstaaten und sämtliche flüchtlingspolitische Akteure, die in Griechenland aktiv sind auf, das Vorgehen Griechenlands entschieden zu verurteilen.
(rsa / mz / ame)