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Überleben im Kosovo: <a href="http://www.evangelisch.de/inhalte/90967/07-01-2014/kadira-will-nach-hause">Kadira</a> wurde in Deutschland geboren und nach Fushe Kosova abgeschoben. Nun sammelt sie Müll, damit die Familie ein Einkommen hat. Foto: Ruben Neugebauer / Chris Grodotzki

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge drängt darauf, Kosovo und Albanien als sogenannte „sichere Herkunftsstaaten“ einzustufen, um die Anträge von Schutzsuchende aus den beiden Staaten in Schnellverfahren bearbeiten und die Betroffenen schnell abschieben zu können. Der Vorstoß droht das Recht auf ein individuelles Asylverfahren weiter auszuhöhlen.

Der Prä­si­dent des Bun­des­amts für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF), Man­fred Schmidt, hat sich gegen­über der Süd­deut­schen Zei­tung für die Ein­stu­fung der Staa­ten Koso­vo und Alba­ni­en als „siche­re Her­kunfts­län­der“ aus­ge­spro­chen. Auf­grund stei­gen­der Asyl­an­trä­ge aus dem Koso­vo im Jahr 2014 pocht er mit sei­nem Vor­stoß auf schnel­le­re Asyl­ver­fah­ren und damit ein­her­ge­hend schnel­le­re Abschiebungen.

Bemer­kens­wert ist Schmidts Aus­sa­ge, es gebe im Koso­vo „kei­ne sys­te­ma­ti­sche Ver­fol­gung und damit kei­nen Grund für Asyl.“ Ver­fol­gung ist jedoch nicht erst dann asyl­recht­lich rele­vant, wenn sie „sys­te­ma­tisch“ geschieht – etwa muss auch nicht-staat­li­che Ver­fol­gung bei der Prü­fung eines Schutz­ge­suchs berück­sich­tigt wer­den. Tat­säch­lich wer­den Ange­hö­ri­ge der Roma-Min­der­heit und ande­rer Min­der­hei­ten im Koso­vo und ande­ren Bal­kan­staa­ten in vie­len Fäl­len mas­siv dis­kri­mi­niert und dabei aus fast allen Lebens- und Gesell­schafts­be­rei­chen aus­ge­schlos­sen, sodass im Asyl­ver­fah­ren zu prü­fen ist, ob eine asyl­recht­lich rele­van­te „kumu­la­ti­ve Ver­fol­gung“ vor­liegt. Durch eine Ein­stu­fung ihres Her­kunfts­lan­des als „sicher“ ver­lö­ren die Betrof­fe­nen de fac­to die Chan­ce auf ein sol­ches indi­vi­du­el­les, rechts­staat­lich über­prüf­ba­res Asylverfahren.

Gene­rell gilt: Ein­stu­fun­gen als „siche­re Her­kunfts­staa­ten“ vor­zu­neh­men, weil die Zugangs­zah­len aus einem Staat oder einer Regi­on stei­gen, sind, wie ein Rechts­gut­ach­ten von PRO ASYL zeigt, mit ver­fas­sungs­recht­li­chen und euro­pa­recht­li­chen Vor­ga­ben nicht ver­ein­bar. Das Kon­zept der siche­ren Her­kunf­st­staa­ten droht nun ein­mal mehr dar­auf hin­aus­zu­lau­fen, dass nach poli­ti­schem Gut­dün­ken gefäll­te Pau­schal­ur­tei­le über gan­ze Staa­ten den Grund­ge­dan­ken der asyl- und flücht­lings­recht­lich garan­tier­ten indi­vi­du­el­len Ein­zel­fall­prü­fung aushebeln.

Armut, Per­spek­tiv­lo­sig­keit, poli­ti­sche Hoffnungslosigkeit

Bereits im März hat PRO ASYL auf die ver­hee­ren­de Situa­ti­on im Koso­vo hin­ge­wie­sen: Ein Drit­tel der Bevöl­ke­rung lebt im  Elend, ihr Leben ist von Man­gel­er­näh­rung, Obdach­lo­sig­keit und man­geln­der medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung geprägt. Die Hoff­nung auf eine Bes­se­rung der Lebens­si­tua­ti­on haben die meis­ten der 1,8 Mil­lio­nen Bür­ge­rin­nen und Bür­ger des Zwerg­staats längst auf­ge­ge­ben. Der Koso­vo lei­det an mas­si­ven Defi­zi­ten bezüg­lich fast aller Struk­tu­ren, die Staat­lich­keit aus­ma­chen. Die dor­ti­ge Poli­tik ist ver­floch­ten in ein undurch­sich­ti­ges Netz aus Kor­rup­ti­on und orga­ni­sier­ter Kriminalität.

Im Koso­vo haben nach dem Koso­vo­krieg im Zuge der eth­ni­schen Segre­ga­ti­on här­tes­te Ver­fol­gun­gen von Roma, Ash­ka­li und Ägyp­ter statt­ge­fun­den. Der Min­der­hei­ten­ex­odus als Fol­ge sys­te­ma­ti­scher Aus­gren­zung und Dis­kri­mi­nie­rung ging der aktu­el­len Aus­wan­de­rungs­wel­le der Koso­vo­al­ba­ner voraus.

Auch in Alba­ni­en, das  BAMF-Chef Schmidt als „siche­res Her­kunfts­land“ ins Gespräch bringt, ist die Situa­ti­on für vie­le Men­schen fatal. Sowohl das Aus­wär­ti­ge Amt wie auch der Kom­mis­sar für Men­schen­rech­te des Euro­pa­ra­tes stel­len ein hohes Maß an „Kor­rup­ti­on, Nepo­tis­mus und orga­ni­sier­tes Ver­bre­chen und eine Kul­tur der Straf­lo­sig­keit und feh­len­den Imple­men­tie­rung der vor­han­de­nen Regel­wer­ke“ fest. Die­se schwer­wie­gen­den Defi­zi­te wür­den das wirk­sa­me Funk­tio­nie­ren des Gerichts­sys­tems ernst­haft beein­träch­ti­gen und das Ver­trau­en der Öffent­lich­keit in Gerech­tig­keit und Rechts­staat­lich­keit aus­höh­len. Das Aus­wär­ti­ge Amt berich­tet fer­ner über erheb­li­che gesell­schaft­li­che Dis­kri­mi­nie­run­gen von Roma und „Ägyp­tern“. Die­se wür­den nicht nur gesell­schaft­lich aus­ge­grenzt, son­dern sei­en auch Opfer einer dis­kri­mi­nie­ren­den Ver­wal­tungs­pra­xis. Wei­ter­hin wer­de der Zugang zum Arbeits­markt, Schul­sys­tem und zur Gesund­heits­ver­sor­gung für Roma in dis­kri­mi­nie­ren­der Wei­se eingeschränkt.

Damit sind im Ein­zel­fall Sach­ver­hal­te berührt, die nach EU-Recht im Asyl­ver­fah­ren zu einer Aner­ken­nung füh­ren kön­nen. In man­chen Regio­nen Alba­ni­ens ist der Staat fak­tisch nicht prä­sent, was Kri­mi­na­li­tät wie auch die wie­der­auf­le­ben­de Blut­ra­che begünstigt.

Asyl­rechts­ver­schär­fung ist kei­ne Lösung

Aus die­sen  öko­no­mi­schen wie poli­ti­schen Grün­den wer­den wei­ter­hin zahl­rei­che Bür­ge­rin­nen und Bür­ger der bei­den Staa­ten ver­su­chen, nach Deutsch­land oder in ande­re EU-Staa­ten zu migrie­ren. Bis­lang exis­tie­ren für die Betrof­fe­nen kaum ande­ren lega­le Mög­lich­kei­ten, als über das Asyl­sys­tem in die EU ein­zu­wan­dern – obwohl vie­le der­je­ni­gen, die nach Deutsch­land kom­men Chan­cen haben, sich hier eine neue eigen­stän­di­ge Exis­tenz auf­zu­bau­en: Vie­le Koso­va­rin­nen und Koso­va­ren haben Bezü­ge nach Deutsch­land und sind oft gut qua­li­fi­ziert – manch­mal sogar durch deut­sche Schul- oder Aus­bil­dungs- und Stu­di­en­ab­schlüs­se.  Für die Betrof­fe­nen lega­le Ein­wan­de­rungs­we­ge jen­seits des Asyl­sys­tems zu schaf­fen, wäre eine Mög­lich­keit, die Rea­li­tät anzu­er­ken­nen, das sich die Migra­ti­on aus dem Koso­vo und ande­ren Bal­kan­staa­ten kaum durch restrik­ti­ve Maß­nah­men ver­hin­dern lässt.

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