25.11.2014
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Ein Brief, der berührt: Minire Neziri beschreibt, wie sie als 14-Jährige aus Deutschland abgeschoben wurde. Foto: privat

Minire Neziri ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Dann kam ein Montag im Juni 2005. Minire wurde abgeschoben. Für die damals 14-Jährige brach eine Welt zusammen. Heute ist Minire Neziri 23 Jahre alt. Sie hat einen Text über diesen schrecklichen Tag im Juni verfasst und uns gebeten ihn zu veröffentlichen. Das tun wir hier in voller Länge.

Von Mini­re Neziri

Juni 2005. Ein schö­ner, war­mer Monat. Ein Monat, wie jeder ande­re auch. Aber für uns auch ein Monat vol­ler Angst. Angst, dass es pas­siert. Dass wir zurück­müs­sen. Zurück in ein Land, das ich nur vom Hören­sa­gen kann­te, denn das Licht der Welt hat­te ich in Deutsch­land erblickt. Es war ein Mon­tag. Ich hat­te mich nach der Schu­le mit mei­ner bes­ten Freun­din zu einer Fahr­rad­tour ver­ab­re­det. Wir fuh­ren den lan­gen Weg bis zum gro­ßen Ein­kaufs­zen­trum, schlen­der­ten eine Wei­le durch die Kla­mot­ten­ab­tei­lung und besuch­ten anschlie­ßend eine ande­re gute Freun­din. Wir spra­chen über Mäd­chen­kram, aßen Eis und amü­sier­ten uns. Dann sag­te mei­ne bes­te Freun­din plötz­lich: „Ich glaub ich ster­be, wenn du irgend­wann abge­scho­ben wirst.“

Also schlie­fen wir zu Hau­se. Zum letz­ten Mal.

Wit­zig, dass es nur ein paar Stun­den spä­ter tat­säch­lich pas­sier­te. Iro­nie des Schick­sals. Ich lache heu­te noch drü­ber. Am Abend saß ich zu Hau­se mit mei­ner Fami­lie und sah fern. Schon seit einer Wei­le über­nach­te­ten wir Diens­tags immer bei einem Onkel, da man hör­te, dass die Abschie­bun­gen immer Mitt­wochs und Frei­tags, in den frü­hen Mor­gen­stun­den statt­fan­den. Aber es war Mon­tag. Also schlie­fen wir zu Hau­se. Zum letz­ten Mal.

Mei­ne gro­ße Schwes­ter leb­te seit einer Wei­le mit ihrem sie­ben Mona­te alten Sohn bei uns, besaß aber zwei Stra­ße wei­ter eine eige­ne Woh­nung. Und in genau die­ser Woh­nung schlief mein Vater seit eini­gen Wochen. Para­no­id? Nein, eher nicht. Man ist nicht para­no­id, wenn jede Nacht das pas­sie­ren kann, vor dem man so gro­ße Angst hat.

Mit­ten in der Nacht wur­de ich aus dem Schlaf gerissen.

Mit­ten in der Nacht wur­de ich aus dem Schlaf geris­sen. Mei­ne Mama rüt­tel­te an mei­nem Arm. Über­all war das Licht an und sie wein­te. Ich ver­stand nichts. ‚Steh auf, wir müs­sen gehen‘, sag­te sie. Ver­wirrt stand ich auf und sah im Flur vier Poli­zis­ten ste­hen. Mei­ne Schwes­tern wein­ten. Mein Bru­der wein­te. Mei­ne Mut­ter wein­te. Auch mein Nef­fe kreisch­te her­um. Ein hek­ti­sches Durch­ein­an­der. Ein ähn­li­cher Wirr­warr fand in mei­nem Kopf statt. Wo mein Vater sei, frag­ten sie mei­ne Mut­ter. Bei sei­nen Brü­dern, log sie. Wir soll­ten zwei Kof­fer packen und mit­kom­men. Sie wür­den uns auch ohne Papa mit­neh­men. Ich hat­te mich ange­zo­gen und saß mit mei­nem Nef­fen auf dem Bett. Die Beam­ten folg­ten uns auf Schritt und Tritt. Geschrei, Wei­nen, Geschrei. Die Nach­bars­fa­mi­lie, eben­falls aus dem Koso­vo, stürm­te her­ein. Noch mehr Trä­nen. Und dann folg­ten schließ­lich auch meine.

Mein Bru­der rief sei­nen bes­ten Freund an. Der Jun­ge stand kur­ze Zeit spä­ter völ­lig fas­sungs­los vor unse­rer Woh­nungs­tür. Er war mit­ten in der Nacht vom Nach­bar­ort hier­her gerannt und die woll­ten ihn allen Erns­tes nicht rein­las­sen. Ein kur­zes Geran­gel vor der Tür folg­te. Flü­che auf Alba­nisch. Geschrei. Letzt­end­lich lie­ßen sie ihn doch durch. Er fiel mei­nem Bru­der wei­nend um den Hals. Eine fes­te, brü­der­li­che, ver­zwei­fel­te Umar­mung. Zwei Alba­ner, die sich heu­lend im Arm lie­gen – sieht man auch nicht alle Tage. Einer der Beam­ten wisch­te sich dabei unauf­fäl­lig über die Augen, er wein­te. Kof­fer waren gepackt. Abfahrbereit.

Tut zwar nicht zur Sache, aber ich wei­ne gra­de schon wieder.

Ich weiß noch, was ich ange­zo­gen hat­te. Einen rosa Bla­zer und eine rote Hose. Klingt nach Geschmacks­ver­wir­rung, aber damals war es echt Mode. Das waren neue Sachen gewe­sen und nun trug ich sie zur Beer­di­gung mei­nes Lebens. Ein gro­ßer Poli­zei­kom­bi stand am Stra­ßen­rand. Wir stie­gen ein. Mei­ne Mama, mein sieb­zehn­jäh­ri­ger Bru­der, mei­ne fünf­zehn­jäh­ri­ge Schwes­ter, und ich, vier­zehn zu dem Zeit­punkt. Mei­ne ältes­te Schwes­ter stand wei­nend neben dem Wagen. Sie hielt die klei­ne Hand mei­nes Nef­fen an die Auto­schei­be. Sie besaß eine Auf­ent­halts­er­laub­nis und durf­te zurückbleiben.

Es flos­sen so vie­le Trä­nen. Tut zwar nicht zur Sache, aber ich wei­ne gra­de schon wie­der. In so schmerz­haf­te Erin­ne­run­gen zu wüh­len ist manch­mal echt anstren­gend. Wie auch immer. Wir wink­ten den ande­ren zum Abschied und hin­ter­lie­ßen einen gan­zen Tränenfluss.

Oder soll­te ich Zel­le sagen?

Die Fahrt führ­te uns zuerst nach Heil­bronn. Dort wur­den wir in ein Gebäu­de gebracht. Über­all stan­den Uni­for­mier­te. Eine Beam­tin schloss eine Tür auf. Schlich­te Stahl­bän­ke, die rechts und links an den wei­ßen Wän­den befes­tigt waren, erwar­te­ten uns da. Stahl­bän­ke, auf denen schon ein paar ande­re Platz gefun­den hat­ten. Im Lau­fe der Nacht wur­den immer mehr Leu­te her­ein geführt.

Ich saß neben Mama, lehn­te mei­nen Kopf auf ihre Schul­ter und ließ mei­nen Blick durch den Raum schwei­fen. Ein Baby wein­te. Die Mut­ter hielt es an die Brust, wieg­te dabei ihren Kör­per vor und zurück, wäh­rend ihr Trä­nen über das Gesicht lie­fen. Ihr Ehe­mann küm­mer­te sich um die ande­ren bei­den Kin­der. Dane­ben saß ein jun­ger Mann. 20 Jah­re alt – Höchs­tens. Die Ellen­bo­gen auf die Knien gestützt, hat­te er das Gesicht in den Hän­den ver­gra­ben. Und dann war da noch ein glatz­köp­fi­ger Mann. Ich schätz­te ihn auf Mit­te drei­ßig. Er wein­te nicht. Er brüll­te. Und wie er brüll­te! Er schien vor Wut zu kochen und häm­mer­te immer wie­der gegen die Stahl­tür. Irgend­wann gab er auf und fing an, im Raum auf und ab zu lau­fen. Oder soll­te ich Zel­le sagen?

Auf dem Bild sind mei­ne Wan­gen gerö­tet, vor Scham und Demütigung.

Irgend­wann öff­ne­te sich die Tür. Ein­zeln wur­den wir mit­ge­nom­men. Ich weiß noch, wie Mama mir hin­ter­her rief, ich sol­le kei­ne Angst haben. Eine Frau führ­te mich in ein Zim­mer, wo eine ande­re bereits war­te­te. Dort wur­den mir die Fin­ger­ab­drü­cke abge­nom­men. Dann sag­te sie, ich sol­le mich aus­zie­hen. Bit­te was? ‚Ja, Ja, aus­zie­hen soll­te ich mich.‘ Zit­ternd leg­te ich mei­ne Klei­dung ab, bis ich nur noch in Unter­wä­sche da stand. ‚Die bit­te auch weg‘, sag­te die Frau. Welch eine Ernied­ri­gung! Ich fing an zu wei­nen. Dar­auf­hin wink­te die ande­re Frau ab und sag­te, ich sol­le mich wie­der anzie­hen. Ein Foto wur­de gemacht. Ich habe das noch immer irgend­wo zwi­schen mei­nen Doku­men­ten. Auf dem Bild sind mei­ne Wan­gen gerö­tet, vor Scham und Demü­ti­gung. Mei­ne Augen sind rot unter­lau­fen und mei­ne Haa­re ste­hen zu allen Sei­ten ab. Ich wur­de wie­der zu den ande­ren gebracht, die Tür fiel hin­ter mir kra­chend ins Schloss. Ich war damals noch zu jung um alles zu ver­ste­hen. Heu­te weiß ich, dass wir wie Schwer­ver­bre­cher behan­delt wor­den sind.

Ich glaub­te ihr nicht. Bis ich die Schürf­wun­den an ihren Knien sah.

Die Rei­se ging wei­ter. Ab nach Baden-Baden. Wir wur­den zum Flug­ha­fen gebracht, gin­gen durch die Sicher­heits­kon­trol­le und setz­ten uns dann in den Abflug­be­reich. Wir waren vie­le, so vie­le! Man­che lie­fen hek­tisch hin und her, ande­re saßen ein­fach nur still da. Mama sprach mit einer Frau, die ihr erzähl­te, wie man sie an den Haa­ren gepackt und aus der Woh­nung geschleift hat­te. Sie ges­ti­ku­lier­te wild mit ihren Hän­den her­um und ich dach­te, sie wür­de Mär­chen erzäh­len. Ich glaub­te ihr nicht. Bis ich die Schürf­wun­den an ihren Knien sah. Das getrock­ne­te Blut, das ihr am Bein kleb­te, sprach Bän­de. Die Kla­ge einer ande­ren Frau, hall­te in der gesam­ten Hal­le wie­der. ‚Wo sol­len wir denn hin?‘, schrie sie. ‚Wir haben doch alles im Krieg verloren!‘

Mein Kopf schien plat­zen zu wol­len. Wir beka­men ein Käse­brot und etwas zu trin­ken. Das War­ten wur­de uner­träg­lich. Nach ein paar Stun­den war es schließ­lich soweit. Mit zwei Bus­sen wur­den wir bis zum Flug­zeug gebracht. Ich war weder ner­vös noch ängst­lich, obwohl ich noch nie zuvor geflo­gen war. Ich war ein­fach nur leer. Ich saß am Fens­ter und sah in die end­lo­sen Wol­ken. Mir war das Aus­maß der Ereig­nis­se die­ses Tages noch gar nicht rich­tig bewusst. Ich freu­te mich sogar auf mei­ne Cou­si­nen und Cou­sins, die ich noch nie getrof­fen hat­te. Ich freu­te mich auf mei­ne Oma und auf mei­nen gro­ßen Bru­der, der zwei Jah­re vor uns abge­scho­ben wor­den war.

Mein ers­tes Getränk im Kosovo

Gute zwei Stun­den spä­ter betrat ich zum ers­ten Mal in mei­nem Leben, koso­va­ri­schen Boden. Erschöpft, von einer lan­gen schlaf­lo­sen Nacht und einem anstren­gen­den Tag, aber mit einem Lächeln im Gesicht, fie­len wir wenig spä­ter mei­nem gro­ßen Bru­der um den Hals. Wäh­rend der Fahrt bis nach Hau­se – das neue Zuhau­se – starr­te ich unun­ter­bro­chen aus dem Fenster.

Kaput­te Stra­ßen. Bet­teln­de Kin­der am Stra­ßen­rand. Zer­stör­te, aus­ge­brann­te Häu­ser. Mir wur­de übel. Lan­ge Auto­fahr­ten hat­ten mir schon immer zuge­setzt, und jetzt wur­de ich auch noch durch die Löcher in der Fahr­bahn stän­dig hoch und run­ter kata­pul­tiert. Mein Bru­der hielt an und kauf­te uns an einem Kiosk etwas zu trin­ken. „Mul­ti Sola“ – mein ers­tes Getränk im Kosovo.

Nach über zwei Stun­den, kamen wir schließ­lich in Pej an. Wir fuh­ren ein Stück aus der Stadt hin­aus, zu unse­rem Dorf. Fel­der, Wie­sen, Gebü­sche. Unge­lo­gen, mein ers­ter Gedan­ke war: ‚Wie im Dschun­gel.‘ Den Rest fas­se ich mal kurz zusam­men. Die ers­ten Tage waren schön. Wir wohn­ten vor­erst alle zusam­men. 17 Leu­te, das kann ganz schön anstren­gend sein, vor allem dann, wenn man nur eine Toi­let­te hat. Mein Papa kam eine Woche spä­ter, mit dem LKW und unse­rem Hab und Gut, nach. Der Som­mer war eben­falls schön. Vie­le Ver­wand­te aus Deutsch­land kamen zu Besuch. Hoch­zei­ten wur­den gefei­ert, ganz tra­di­tio­nell. Doch dann waren sie alle wie­der weg und ich blieb zurück.

Aus dem ein­zi­gen Leben, das ich kannte.

Mein ers­ter Schul­tag soll­te auch mein letz­ter sein. Ich rann­te mit­ten in der Pau­se ein­fach nach Hau­se und schrie heu­lend, dass ich dort nie wie­der hin­ge­hen wür­de. Leicht über­trie­ben, ja. Aber ver­sucht euch ein­fach mal in mei­ne Lage zu ver­setz­ten. Ihr geht in ein Gebäu­de, das eine Schu­le sein soll. Ihr seht kaput­te Stüh­le, kaput­te Tische, kaput­te Fens­ter, eine schief hän­gen­de Tafel. Kei­ne Gar­de­ro­be, kei­ne Schrän­ke, kei­ne Pinn­wand. Ihr fragt euren Sitz­nach­barn, wofür denn die­ser komi­sche Holz­ho­fen da sei und er erzählt euch, dass damit im Win­ter geheizt wird.

Das war zu viel für mein vier­zehn­jäh­ri­ges Herz. Mit vier­zehn war man damals noch nicht so reif wie die heu­ti­ge Gene­ra­ti­on. Ich war ein Kind. Ein Kind, ver­dammt! Ein Kind, das von heu­te auf Mor­gen aus sei­nem ver­trau­ten Leben geris­sen wor­den war. Aus dem ein­zi­gen Leben, das ich kann­te. Der All­tag schlich sich ein. Ich war immer ein sport­li­ches Mäd­chen gewe­sen, spiel­te Fuß­ball und Vol­ley­ball und war stän­dig aktiv. Und hier? Hier hieß es: „Lass das. Mäd­chen spie­len nicht Fuß­ball, das ist pein­lich.“ Ich ver­brach­te die meis­te Zeit vor dem Fern­se­her, zog mir Tele­no­ve­las rein und wur­de ein fau­ler Mensch.

Dass ich nur eine von vie­len bin, trös­tet mich nicht

Das ist doch kein Leben. Ich lebe nicht. Ich vege­tie­re vor mich hin. Seit Jah­ren. Auch heu­te noch. Ich befin­de mich vor einem Scher­ben­hau­fen. Ver­steht mich nicht falsch. Ich lie­be die­ses Land. Ich lie­be mei­ne Hei­mat, mein Vater­land. Ich lie­be die fri­sche Land­luft, die net­ten Lands­leu­te, unse­re Tra­di­tio­nen, unse­re Kul­tur, unse­ren Zusam­men­halt. Ich lie­be unse­re Musik und unse­re Spra­che. Aber ich has­se die Strom­aus­fäl­le. Ich has­se die Kor­rup­ti­on und die­se ver­damm­te Per­spek­tiv­lo­sig­keit, die die jün­ge­re Gene­ra­ti­on ins Aus­land zieht.

Mir wur­de alles genom­men. Mein Leben, mei­ne Freun­de, mei­ne Zukunft. Viel­leicht wäre aus mir kei­ne Poli­ti­ke­rin oder Ärz­tin gewor­den. Aber ich hät­te mei­nen Real­schul­ab­schluss gemacht und hät­te wei­ter gese­hen. Ich hat­te Träu­me und Zie­le, die in wei­ter Fer­ne gerückt und letzt­end­lich wie eine Sei­fen­bla­se geplatzt sind. Das ist unfair. Das ist unmensch­lich. Auch, dass ich nur eine von vie­len bin, trös­tet mich nicht. Im Gegen­teil. Die Gewiss­heit, dass es da drau­ßen Leu­te gibt, die ein ähn­li­ches Schick­sal tei­len, macht mich wütend. So wütend! Ich will mein altes Leben zurück. Das Leben, das mir gestoh­len wurde!

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