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Das Kosovo hat sich 2008 zum unabhängigen Staat erklärt - doch die Freude darüber ist bei vielen Bürgerinnen und Bürgern der Verzweiflung gewichen. Zehntausende suchen anderswo nach einer Lebensperspektive. Foto: Ruben Neugebauer

Die gestiegene Zahl von Asylsuchenden aus dem Kosovo verleitete Politiker jüngst zu dramatisierender Rhetorik. Wieder einmal geht es um Verfahrensbeschleunigung und schnellere Abschiebungen – doch das wird den Exodus aus dem Kosovo kaum aufhalten.

Eine „Asyl­la­wi­ne“ aus dem Koso­vo sei in Gang gekom­men, hieß es in einem Brief der Deut­schen Bot­schaft an das Aus­wär­ti­ge Amt, nötig sei eine „Hauruck­Aktion des Bun­des und der Län­der“, denn „erst wenn eine grö­ße­re Anzahl von Koso­va­ren medi­en­wirk­sam per Sam­mel-Char­ter­flie­ger zurück­kehrt“, spre­che sich her­um, „dass sich ille­ga­le Ein­wan­de­rung nach Deutsch­land nicht rech­net, zitier­te „Bild am Sonn­tag“ aus dem Brief der deut­schen Bot­schaft im Kosovo.

Die Rhe­to­rik von „Lawi­ne“, Flut“ und „Strom“ grif­fen etli­che Medi­en und Poli­ti­ker begie­rig auf. Mar­cel Huber, Chef der Baye­ri­schen Staats­kanz­lei (CSU), sprach von einem „orga­ni­sier­ten Miss­brauch des Asyl­rechts“, Bay­erns Minis­ter­prä­si­dent See­ho­fer (CSU) gab die Paro­le aus: „Wir sind nicht das Sozi­al­amt der Welt“. Der Chef der ober­baye­ri­schen Land­rä­te, Tho­mas Kar­ma­sin (CSU), bezeich­ne­te die Asyl­su­chen­den aus dem Koso­vo gar als „Win­ter­ur­lau­ber auf Kos­ten unse­rer Steuerzahler“.

„Win­ter­ur­lau­ber“ aus dem Kosovo?

Win­ter­ur­lau­ber? Tat­säch­lich hat die Flucht aus dem Koso­vo über­wie­gend mit der Ver­ar­mung brei­ter Schich­ten zu tun: Etwa ein Drit­tel der Bevöl­ke­rung lebt von weni­ger als 1,40 Euro pro Tag, vie­le leben im abso­lu­ten Elend, dar­un­ter ins­be­son­de­re auch die Ange­hö­ri­gen von dis­kri­mi­nier­ten Min­der­hei­ten wie etwa den Roma, Ash­ka­li und Ägyp­tern. Die Hoff­nung auf eine Ver­bes­se­rung der Lebens­ver­hält­nis­se haben vie­le Bür­ge­rin­nen und Bür­ger mitt­ler­wei­le auf­ge­ge­ben: Rund 18.000 Men­schen sol­len seit Jah­res­be­ginn das Koso­vo Rich­tung Deutsch­land ver­las­sen haben, im Janu­ar stell­ten 3.630 hier­zu­lan­de einen Asyl­an­trag. Betrof­fe­ne berich­ten, für sich und ins­be­son­de­re für ihre Kin­der im Koso­vo kei­ne Per­spek­ti­ve auf ein men­schen­wür­di­ges Leben zu sehen.

Das sich vie­le Koso­va­rin­nen und Koso­va­ren eine Lebens­per­spek­ti­ve in Deutsch­land erhof­fen, hängt nicht zuletzt damit zusam­men, dass vie­le von ihnen Bezü­ge zu Deutsch­land haben, nicht weni­ge haben in Deutsch­land gelebt und spre­chen Deutsch. In der Ära Titos arbei­te­ten vie­le Koso­vo-Alba­ner als Gast­ar­bei­ter in Deutsch­land, wäh­rend der Jugo­sla­wi­en­krie­ge in den 1990er Jah­ren such­ten vie­le in Deutsch­land Asyl. Nach Ende der Jugo­sla­wi­en­krie­ge errich­te­ten sepa­ra­tis­ti­sche Grup­pen im Koso­vo einen Par­al­lel­staat, län­ge­re Zeit gewalt­frei, ab 1996 dann unter Anwen­dung von Waf­fen­ge­walt, 1998 eska­lier­te die Situa­ti­on, der Koso­vo­krieg der NATO 1999 pro­du­zier­te eine wei­te­re Flücht­lings­wel­le. Bis Ende der 1990er Jah­re nahm die Zahl koso­vo-alba­ni­scher Flücht­lin­ge dra­ma­tisch zu. Unter den Men­schen, die heu­te nach Deutsch­land flie­hen, sind daher auch sol­che, die damals bereits als Flücht­lin­ge in Deutsch­land waren.

Unab­hän­gig, aber perspektivlos 

In das schließ­lich zum UN-Pro­tek­to­rat gewor­de­ne Koso­vo kehr­ten zwar vie­le der Koso­vo-Flücht­lin­ge zurück, doch das Erstar­ken der alba­ni­schen Natio­na­lis­ten mach­te 200.000 Ser­ben, Roma und ande­re Nicht-Alba­ner zu Flücht­lin­gen. Im Früh­jahr 2004 kam es zu Pogro­men gegen Roma und ande­re Koso­vo-Min­der­hei­ten mit Toten, mehr als 1.000 Ver­letz­ten und 4.000 Ver­trei­bun­gen, unter den Augen der inter­na­tio­na­len Schutz­trup­pe KFOR. Es folg­te eine kon­ti­nu­ier­li­che Aus­wan­de­rung der soge­nann­ten RAE-Min­der­hei­ten: Roma, Ash­ka­li und soge­nann­te Koso­vo-Ägyp­ter flie­hen bereits seit län­ge­rer Zeit vor extre­mer ras­sis­ti­scher Dis­kri­mi­nie­rung in die EU, aber auch nach Ser­bi­en und Montenegro.

Im Febru­ar 2008 erklär­te sich Koso­vo für unab­hän­gig – aber eini­ge EU-Län­der und ande­re Staa­ten erken­nen das Koso­vo nicht als unab­hän­gi­gen Staat an. Das Land bleibt ein völ­ker­recht­lich, aber vor allem auch wirt­schaft­lich pre­kä­res Gebil­de: Das Koso­vo hat ein extre­mes Außen­han­dels­de­fi­zit und hängt völ­lig von Kapi­tal­zu­flüs­sen aus dem Aus­land ab. Der EU-Arbeits­markt ist für Koso­va­rin­nen und Koso­va­ren ver­schlos­sen. Die Über­wei­sun­gen durch die Arbeits­emi­gran­ten ver­gan­ge­ner Zei­ten sind höher als die im Koso­vo erwirt­schaf­te­ten Werte.

Kaum zu tren­nen: Staat und orga­ni­sier­te Kriminalität

Nicht zuletzt ist ein Teil der koso­va­ri­schen Poli­tik eng ver­floch­ten mit Netz­wer­ken der orga­ni­sier­ten Kri­mi­na­li­tät. Zahl­rei­che aus­län­di­sche Funk­ti­ons­trä­ger, die im Koso­vo aus dem Nichts einen moder­nen Staat schaf­fen woll­ten, haben sich dabei auch mit Kri­mi­nel­len ver­bün­det. Ent­spre­chend wird auch dar­über dis­ku­tiert, wo die Mil­li­ar­den Euro an inter­na­tio­na­ler Unter­stüt­zung seit 1999 hin­ge­flos­sen sind, wenn gleich­zei­tig gro­ße Tei­le der Infra­struk­tur und des Bil­dungs­sys­tems wei­ter vor sich hin rotten.

Am Bei­spiel des Koso­vo stellt sich noch deut­li­cher als in ande­ren Regio­nen des Bal­kans die Fra­ge, ob die Staa­ten, die aus den Sezes­si­ons­pro­zes­sen und den Krie­gen der 1990er Jah­re her­vor­ge­gan­gen sind, ihren Bür­ge­rin­nen und Bür­gern etwas bie­ten kön­nen, das gemein­hin unter Staat­lich­keit ver­stan­den wird: Funk­tio­nie­ren­de Insti­tu­tio­nen, ein arbei­ten­des Jus­tiz­we­sen, eine Ein­däm­mung der Kor­rup­ti­on und ein beschei­de­nes Auskommen.

Das Koso­vo ist kein siche­res Herkunftsland

Um die Men­schen aus dem Koso­vo schnellst­mög­lich wie­der los­wer­den zu kön­nen for­dert u.a. der deut­sche Städ­te- und Gemein­de­bund, das Koso­vo als „siche­res Her­kunfts­land“ ein­zu­stu­fen. Bay­ern hat­te eine ent­spre­chen­de Bun­des­rats­in­itia­ti­ve ange­kün­digt und einen ent­spre­chen­den Geset­zes­an­trag vor­ge­legt. Nach­dem im letz­ten Jahr Bos­ni­en und Her­ze­go­wi­na, Maze­do­ni­en und Ser­bi­en ohne aus­rei­chen­de Prü­fung der men­schen­recht­li­chen Ver­hält­nis­se auf die Lis­te der soge­nann­ten „siche­ren Her­kunfts­staa­ten“ gesetzt wur­den, um  damit bereits lau­fen­de Abschie­bun­gen zu legi­ti­mie­ren, droht dies nun im Fal­le Koso­vos, Mon­te­ne­gros und Alba­ni­ens fort­ge­schrie­ben zu werden.

Eine sol­che Ein­stu­fung hebelt für die Betrof­fe­nen das Herz­stück des Asyl­ver­fah­rens aus: Die indi­vi­du­el­le Prü­fung des Falls. Ange­sichts der bekann­ten Ver­stri­ckun­gen von Staat und orga­ni­sier­ter Kri­mi­na­li­tät sowie der mas­si­ven Dis­kri­mi­nie­rung von Min­der­hei­ten setzt die rea­li­täts­wid­ri­ge Ein­stu­fung des Koso­vo als „siche­rer Her­kunfts­staat“ Flücht­lin­ge des Risi­kos aus, trotz asyl­recht­lich rele­van­ter Flucht­grün­de ohne Prü­fung ihres Fal­les zurück­ge­scho­ben zu wer­den. Dies gilt eben­so für Mon­te­ne­gro und Albanien.

Das gan­ze Reper­toire der Abschreckungspolitik

Da eine Ein­stu­fung des Koso­vos als „siche­res Her­kunf­s­land“ nicht so schnell zu machen ist – und sich im Fal­le der bereits als „sicher“ dekla­rier­ten Staa­ten bis­lang als kaum effek­tiv erwies, set­zen Bund und Län­der einst­wei­len auf ande­re alt­be­kann­te Abschre­ckungs­me­cha­nis­men. So will Bay­ern die müh­sam abge­schaff­ten Essens­pa­ke­te, die einst alle Flücht­lin­ge im Frei­staat beka­men, eigens für Flücht­lin­ge aus den Bal­kan­staa­ten wie­der ein­füh­ren. Vor allem aber hat das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge bereits begon­nen, die Asyl­an­trä­ge von Koso­va­rin­nen und Koso­va­ren prio­ri­siert zu bear­bei­ten – d.h., im Eil­tem­po abzu­leh­nen. Schnel­le Ableh­nun­gen und schnel­le Abschie­bun­gen sol­len dafür sor­gen, dass im Koso­vo die Bot­schaft ankommt, dass die Flucht nach Deutsch­land zweck­los ist.

Dazu ver­su­chen deut­sche Behör­den, die Men­schen aus dem Koso­vo bereits an der Ein­rei­se in die EU zu hin­dern. An der ser­bisch-unga­ri­schen Gren­ze, so berich­ten unter ande­ren Focus und Deut­sche Wel­le, hel­fe die deut­sche Poli­zei „die Asyl-Lawi­ne aus dem Koso­vo zu stop­pen“. An der unga­risch-ser­bi­schen Gren­ze wur­den Anfang Febru­ar in Ungarn hun­der­te Men­schen aus dem Koso­vo in Haft genom­men, die in die EU ein­rei­sen wollten.

Auch die koso­va­ri­sche Regie­rung ver­sucht, ihre Bür­ger und Bür­ge­rin­nen von der Flucht abzu­hal­ten. Der koso­va­ri­sche Innen­mi­nis­ter Sken­der Hyseni sicher­te Öster­reich, wo eben­falls vie­le Koso­va­ren ankom­men, in Wien zu, die koso­va­ri­sche Regie­rung wol­le ihren Bür­ger bezüg­lich ihrer Chan­cen im Aus­land des­il­lu­sio­nie­ren. Ob das klappt ist aller­dings unge­wiss: In Bezug auf ihre Hei­mat könn­ten die Koso­va­rin­nen und Koso­va­ren kaum des­il­lu­sio­nier­ter sein als heute.

Lang­fris­tig wird Abschre­ckung nicht funktionieren

Ins­ge­samt ist frag­lich, ob die Abschre­ckungs­po­li­tik funk­tio­niert: Men­schen, die aus guten Grün­den für sich kei­ne Chan­cen auf eine Ver­bes­se­rung ihrer pre­kä­ren Lage im Koso­vo  sehen, wer­den wei­ter­hin anders­wo nach einer Lebens­per­spek­ti­ve zu suchen. Auf­grund der Tat­sa­che, dass vie­le Koso­va­rin­nen und Koso­va­ren Bezü­ge nach Deutsch­land haben, einig frü­her schon ein­mal in Deutsch­land waren, Deutsch spre­chen, oft gut qua­li­fi­ziert sind – teil­wei­se mit deut­schen Schul- oder Stu­di­en­ab­schlüs­sen und Aus­bil­dun­gen – wer­den vie­le wei­ter­hin ver­su­chen, nach Deutsch­land zu kom­men, um hier nach Arbeit zu suchen. Für die Betrof­fe­nen lega­le Ein­wan­de­rungs­we­ge jen­seits des Asyl­sys­tems zu schaf­fen, wäre eine Mög­lich­keit, die­se Rea­li­tät anzu­er­ken­nen.

Ein klei­ne­rer Teil der Koso­vo-Flücht­lin­ge gehört Min­der­hei­ten wie  den Roma, Asch­ka­li oder den Koso­vo-Ägyp­tern an, die häu­fig mas­si­ver ras­sis­ti­scher Dis­kri­mi­nie­rung aus­ge­setzt sind. Asyl­an­trä­ge von Schutz­su­chen­den aus dem Koso­vo dür­fen daher nicht pau­schal abge­lehnt, son­dern müs­sen drin­gend indi­vi­du­ell geprüft werden.

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