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Familiennachzug: Wenn die Mama tausende Kilometer weit weg ist
Im Koalitionsvertrag hat sich die Ampel-Regierung zu einem beschleunigten Verfahren zum Familiennachzug bekannt. Doch bisher sind den Worten keine Taten gefolgt. Noch immer sind tausende Flüchtlingsfamilien voneinander getrennt. Zum Tag der Familie am 15. Mai fordert PRO ASYL: Die Bundesregierung muss ihr Versprechen einlösen.
Als die Ampel-Regierung ihr Amt antrat, hatte sie sich mit Blick auf die Flüchtlingspolitik und den Familiennachzug viel vorgenommen: Die Visavergabe soll beschleunigt und verstärkt digitalisiert werden, minderjährige Geschwister beim Familiennachzug nicht länger ausgenommen sein. Die diskriminierende Unterscheidung zwischen Flüchtlingen, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) anerkannt sind, und denen, die subsidiären Schutz erhalten, soll abgeschafft werden. So ist es im Koalitionsvertrag vorgesehen. PRO ASYL hatte sich im Vorfeld für diese Änderungen stark gemacht und die Ankündigungen im Koalitionsvertrag begrüßt.
Knapp hundert Tage seit Regierungsantritt der Ampel muss eine ernüchternde Bilanz gezogen werden. SPD, FDP und Grüne haben bisher weder entsprechende Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht – etwa zur Gleichstellung von subsidiär Geschützten mit GFK-Flüchtlingen – noch haben sie für Verbesserungen auf Verwaltungsebene gesorgt, die ohne Gesetzesänderungen leicht möglich wären. Das ist bitter, gerade weil es hier nicht um abstrakte Prozesse geht, sondern um Familien, die seit Jahren auseinandergerissen sind. Jeder Tag, den sie länger auf ihre Ehepartner, Kinder oder Eltern warten, ist für sie ein Tag voller Sehnsucht, Sorgen und Ängste.
Tage und Monate voller Tränen und Verzweiflung
Da ist Omid, der junge Afghane, der mit 12 Jahren nach Deutschland kam und seitdem auf den Nachzug seiner Mutter und seiner jüngeren Geschwister wartet. Mittlerweile ist aus dem Kind ein Mann geworden – Omid ist 19 Jahre alt. Da ist Semhar aus Eritrea, die auf ihren Ehemann und ihre 14-jährige Tochter wartet. Und da ist die alleinstehende, syrische Kurdin Rukan, die völlig fertig mit den Nerven ist, weil ihre drei Töchter noch immer unter katastrophalen Bedingungen in einem griechischen Flüchtlingslager ausharren müssen, anstatt bei ihr in Deutschland zu leben. Alle Drei werden von PRO ASYL und seinen Partnern seit über einem Jahr begleitet. Es sind Tragödien, die sich hinter diesen Lebensgeschichten verbergen: Tage und Monate voller Tränen und Verzweiflung, voll verpasster Momente, die nicht nachgeholt werden können, weil die Kinder groß werden, ohne dass die Eltern sie dabei begleiten können.
Nach wie vor warten Familienangehörige von Flüchtlingen jahrelang auf Termine zur Antragstellung. Sie müssen dabei oft unter Lebensgefahr Landesgrenzen überwinden, Dokumente beim Verfolgerstaat beschaffen und unter großen Unsicherheiten Entscheidungen treffen. In vielen Fällen betrifft das alleinreisende Frauen und Kinder. Sie brauchen dringend transparente Wege für ihre Terminbuchung und Visaanträge.
Baran* ist ein afghanischer Journalist und dreifacher Familienvater, der seit eineinhalb Jahren in Deutschland lebt. In Afghanistan war Baran in hochrangiger Position für einen Radio- und Fernsehsender tätig und arbeitete zudem als Pressesprecher eines Regierungsvertreters. Schon in der Vergangenheit war er Bedrohungen durch die Taliban ausgesetzt, die auch einen nahen Familienangehörigen von ihm töteten. Ab Mitte 2019 häuften sich diese. Immer öfter wurde ihm telefonisch mitgeteilt, man wolle ihn vernichten, er solle seine Tätigkeiten aufgeben. Von den afghanischen Sicherheitskräften erhielt er keine Unterstützung. Baran schlief aus Angst meist im Büro und besuchte seine Familie nur noch ein Mal pro Woche. Seine Frau war mit den Kindern allein zu Hause, als die Taliban eines Abends in den Innenhof eindrangen. Mit einem Jagdgewehr schoss die Mutter in die Luft und vertrieb sie so. Daraufhin verließ die Familie im September 2019 ihr Zuhause. Aufgrund der gefahrvollen Flucht entschied Baran, sich zunächst alleine nach Europa durchzuschlagen. Im September 2020 stellte er in Deutschland einen Asylantrag und ihm wurde die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Anfang 2021 registrierte er seine Frau und die drei Töchter auf der Terminwarteliste der deutschen Botschaft Islamabad. Mit der Machtübernahme der Taliban spitzte sich die Situation für seine Familie dramatisch zu und das von der Familie verlassene Haus wurde mehrfach durchsucht. Dennoch hat die Familie bis heute keinen Termin zur Antragstellung erhalten. Baran wandte sich verzweifelt an verschiedene Behörden, aber ohne Erfolg. Barans Frau lebt mit den drei Mädchen in einem Versteck und kann dieses nicht verlassen. Baran bangt um ihr Leben.
Dass es trotz der dramatischen Situation in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban seitens der Bundesregierung noch nicht einmal eine zügige Beschleunigung für den Nachzug afghanischer Familien gibt, ist inakzeptabel. Denn viele Familienangehörige von in Deutschland anerkannten Flüchtlingen sind in Afghanistan genauso in Gefahr wie ehemalige Ortskräfte oder Menschenrechtler*innen! Viele verstecken sich seit Monaten, die in Deutschland lebenden Angehörigen bangen jeden Tag um die Sicherheit ihrer Liebsten. Zwar ist es erfreulich, dass Außenministerin Baerbock und Innenministerin Faeser signalisiert haben, dass sie sich für die Aufnahme gefährdeter Afghan*innen einsetzen wollen. Doch PRO ASYL hat den Eindruck, dass die Verwaltungsebenen im Auswärtigen Amt und im Bundesinnenministerium mit Blick auf den Familiennachzug auch hier auf die Bremse treten.
Zahlreiche Hürden für afghanische Familien: Beispiele aus der Praxis
Unverändert sind afghanische Familien mit vielen Problemen deutscher Bürokratie konfrontiert. Ein Beispiel: Sie dürfen ihren Antrag auf ein Visum zum Familiennachzug offiziell nur an der deutschen Botschaft in Islamabad und an jener in Neu-Delhi stellen, wobei Indien seit der Machtübernahme durch die Taliban keine Visa mehr für Afghan*innen ausstellt. Die Botschaft in Pakistan ist dementsprechend völlig überlastet, zumal sie zu wenig Personal hat. PRO ASYL fordert deshalb seit Monaten eine Globalzuständigkeit für afghanische Antragsteller*innen, was bedeuten würde, dass sie an jeder deutschen Auslandsvertretung, die sie erreichen können, ihren Visumsantrag einreichen dürfen. Das würde die deutsche Botschaft in Pakistan entlasten und den Menschen dazu verhelfen, schneller einen Termin zu erhalten. Vor diesem Hintergrund begrüßt PRO ASYL die informelle Praxis, dass aktuell Visaanträge von Afghan*innen auch an bisher nicht zuständigen deutschen Auslandsvertretungen – etwa in der Türkei und im Iran – entgegengenommen werden. Diese Informationen sind jedoch kaum bekannt und im Falle des Iran nicht öffentlich zu finden. PRO ASYL fordert hier deutlich mehr Transparenz.
Vieles, was vonseiten der deutschen Behörden sofort gemacht werden könnte, bleibt unerledigt. So steht auf den Internetseiten vieler deutscher Botschaften immer noch, dass Afghan*innen Deutschkenntnisse auf A1-Niveau als Voraussetzung für den Familiennachzug nachweisen müssen. Das ist derzeit für die nachziehenden Ehegatten aus Afghanistan unmöglich. Angesichts der aktuellen Umstände und der dramatischen Situation ist es geboten, auch formal vom Sprachnachweis abzusehen, vor allem aber, dies für Antragsteller*innen auf der Homepage und in den Merkblättern kenntlich zu machen.
Der Umgang der Bundesregierung mit Flüchtlingsfamilien aus der Ukraine zeigt eindrücklich, dass es auch anders gehen kann, nämlich schnell und unbürokratisch. Dies muss unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit gelten.
Waris, die eigentlich anders heißt, kommt aus Somalia und ist Ende 2015 in Deutschland eingereist. Im Juli 2019 wurde sie als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt. Daraufhin stellte sie bei der deutschen Botschaft in Nairobi einen Terminantrag auf ein Visum zum Familiennachzug. Erst über zwei Jahre später bekamen ihre Kinder einen Termin bei der Internationalen Organisation für Migration (IOM), über die der Antrag endlich bei der Botschaft eingereicht wurde. Waris ist alleinstehend, ihr Mann ist verstorben. Die Kinder im Alter von 13, 11, 10 und 7 Jahren leben bei ihrer kranken Großmutter. Seit drei Jahren versucht die 36-Jährige, ihre Kinder über die deutsche Botschaft in Nairobi nachzuholen. Dabei tun sich immer neue Schwierigkeiten auf, obwohl die Mutterschaft sogar mittels einer DNA-Probe bewiesen wurde und alle erforderlichen Unterlagen eingereicht sind. Zuletzt verkündete das Auswärtige Amt, dass die Unterlagen an die zuständige Ausländerbehörde gesandt worden seien, wohingegen diese behauptet, sie habe nichts erhalten. Hinzu kommt, dass sich mittlerweile weder die Botschaft noch die IOM zurückmeldet. Waris und ihre Kinder werden im Ungewissen gelassen, wann das Warten ein Ende hat.
Auch viele andere Familien aus Ostafrika – etwa solche, die vor der eritreischen Diktatur mit ihrer Zwangsarbeit und Folter geflüchtet sind – warten seit mehreren Jahren auf ihre engsten Angehörigen. Im Falle von Eritreer*innen stellen sich besondere Hürden in Form einer Diasporasteuer und einer Reue-Erklärung, die sie als Voraussetzung dafür, dass sie von den eritreischen Behörden Dokumente erhalten, die wiederum die deutschen Behörden als Voraussetzung für den Familiennachzug ansehen, unterzeichnen müssen (mehr dazu siehe hier).
Der 25-jährige Amaniel* ist 2015 nach Deutschland gekommen und hat im Juli 2017 seine Anerkennung als Flüchtling erhalten. Der fristwahrende Antrag auf Familiennachzug wurde gestellt. Er hatte seine Familie verlassen, als sein Sohn erst wenige Monate alt war. Seine Frau hatte sich damals mit dem kleinen Kind die gefährliche Flucht nicht zugetraut und verließ Eritrea erst Ende 2018, als die Grenzen nach dem Friedensschluss mit Äthiopien kurzzeitig geöffnet waren. Im März 2019 haben sie sich an der deutschen Botschaft in Äthiopien für einen Termin zum Familiennachzug registriert. Ein Jahr später wurde der Familie ein Termin für April 2020 zugeteilt. Dieser wurde jedoch wenige Tage, bevor er stattfinden konnte, aufgrund des Corona-Lockdowns von der Botschaft storniert. Amaniels Frau wurde zugesichert, dass sie einen neuen Termin erhalten würde. Die Familie wartete monatelang, doch nichts geschah. Als sie sich schließlich hilfesuchend an die Internationale Organisation für Migration (IOM) wandte, sagte man ihr dort, dass sie keinen Termin bekommen könne, wenn sie nicht die Heiratsregistrierung vom Außenministerium in Asmara (Eritrea) überbeglaubigen ließe. Zu dieser Zeit gab es jedoch eine Handlungsanweisung des Auswärtigen Amtes, dass Überbeglaubigungen nicht erwartet werden könnten, da alle eritreischen Ämter wegen Corona geschlossen seien. Damit konfrontiert forderte IOM die Frau auf, einen neuen Termin über eine andere Visa-Kategorie zu buchen. Amaniel stellte sich zu diesem Zweck nahezu jede Nacht den Wecker, um einen der begehrten Termine zu ergattern, da neue Termine um Mitternacht freigeschaltet werden und blitzschnell ausgebucht sind. Die Buchung gelang schließlich, doch später behauptete das Auswärtige Amt, es sei die falsche Visa-Kategorie gebucht worden. Also alles von vorne! Im November 2021 buchte Amaniel erneut einen Termin, doch als die Familie zu diesem in der deutschen Botschaft in Addid Abeba erschien, wurde sie weggeschickt mit der Begründung, die Familie habe nur einen Termin für zwei Personen (Mutter und Sohn) gebucht – sie hätten aber zwei Termine für jeweils eine Person buchen müssen. Seither hat die Familie zum wiederholten Male versucht, einen neuen Termin zu buchen – und nun endlich wieder einen erhalten. Seinen mittlerweile 7‑jährigen Sohn hat Amaniel zuletzt gesehen, als dieser wenige Monate alt war.
Was wir tun
Vor rund einem Jahr hat PRO ASYL gemeinsam mit Flüchtlingsräten eine Kampagne gestartet, um das Thema stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. In den vergangenen zwölf Monaten haben wir ein Pressegespräch organisiert, Medienberichterstattung zum Familiennachzug angeregt und durch eigene Gastkommentare in Zeitungen auf das Thema aufmerksam gemacht. Wir haben durch Aktionen in den sozialen Netzwerken ( #FamilienGehörenZusammen) und Unterschriftenkampagnen Menschen mobilisiert, haben Flüchtlingsverbände, Kirchen und Gewerkschaften dazu aufgerufen, das Thema Familiennachzug auf die Agenda zu setzen und sind aktiv auf Bürgermeister*innen zugegangen, um sie für unser Anliegen zu gewinnen. Rund zwanzig (Ober)-Bürgermeister*innen aus unterschiedlichen Parteien gehören zu den Erstunterzeichnern eines entsprechenden Aufrufs, außerdem rund 220 zivilgesellschaftliche Organisationen. Gemeinsam mit der Initiative Familiennachzug Eritrea haben wir eine Demonstration in Berlin organisiert und darüber hinaus Geflüchtete, die auf ihre Familien warten, individuell beraten und begleitet – mit einigen schönen Erfolgsfällen. Auch die politische Lobbyarbeit inklusive kontinuierlicher Ansprachen von Bundestagsabgeordneten und Minister*innen zählt dazu. Erfreulich war es zu sehen, dass unsere Bemühungen gefruchtet haben und ein Großteil unserer Forderungen in den Koalitionsvertrag Eingang gefunden hat. Nun gilt es, dass die Ankündigungen auch in die Tat umgesetzt werden. Denn Familien gehören zusammen – egal, woher sie kommen.
(er)
*Alle Namen wurden zum Persönlichkeitsschutz der Menschen anonymisiert.