Einzelfälle
Um diese Menschen geht es
Die Begrenzungen und Schwierigkeiten beim Familiennachzug betreffen viele Menschen – oft mit dramatischen Folgen. Exemplarisch stellen wir beispielhafte Einzelfälle vor:
Vater sieht seinen Sohn das erste Mal, als dieser sieben Jahre alt ist
Habtemariam Tewelde sagt, er führe seine Ehe nur noch telefonisch. Acht Jahre ist er bereits von seiner Frau getrennt. Sie war schwanger, als er seine Heimat Eritrea verließ, doch das wusste das Paar zum damaligen Zeitpunkt noch nicht. Seinen Sohn hat er bis Dezember 2020 noch nie gesehen gehabt. Frau und Kind sind von Eritrea aus ins Nachbarland Äthiopien geflüchtet. Ende vergangenen Jahres konnte Habtemariam Tewelde es sich nach jahrelangem Sparen endlich erlauben, nach Äthiopien zu fliegen, um die beiden wenigstens zu besuchen. Doch dann flog er alleine nach Deutschland zurück, denn noch immer liegt keine Entscheidung der Botschaft über den Familiennachzug vor, dabei liegt der Botschaftstermin bereits zwei Jahre zurück. »In Holland, Frankreich oder Schweden sind Familien innerhalb eines Jahres wiedervereint. Meine Frau fragt mich, warum Deutschland das nicht hinkriegt. Ich kann es ihr nicht erklären«, sagt er. Herr Tewelde ist seit Anfang 2016 anerkannter Flüchtling.
»In Holland, Frankreich oder Schweden sind Familien innerhalb eines Jahres wiedervereint. Meine Frau fragt mich, warum Deutschland das nicht hinkriegt. Ich kann es ihr nicht erklären.«
Der Familiennachzug scheitert in erster Linie an fehlenden Unterlagen: So hat das Paar beispielsweise kirchlich geheiratet, wie es in Eritrea üblich ist. Der deutsche Staat verlangt für die Erteilung eines Visums auf Familiennachzug aber eine staatliche Heiratsurkunde. Um nachträglich ein staatliches Dokument zu erhalten, müsste sich Herr Tewelde an die eritreische Diktatur wenden, in der er gefoltert wurde – an den Verfolgerstaat also, dem er entkommen ist.
Update: Nach acht langen Jahren konnte die Familie sich endlich wieder in die Arme schließen.
Alleinerziehende Mutter bangt um ihre Töchter in griechischen Lagern
Rukan O. ist eine alleinstehende, syrische Kurdin, die im November 2017 mit ihren drei Töchtern aus Aleppo in Richtung Türkei flüchtete. Drei Monate später flohen sie weiter nach Griechenland und kamen im Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos unter. Neben den katastrophalen Lebensbedingungen und der schlechten Gesundheitsversorgung erlebte Rukan O. dort auch sexuelle Übergriffe. Aus diesem Grund entschied Frau O., weiter nach Deutschland zu flüchten und ihre Töchter, die sie in der Obhut ihrer Schwester ließ, nachzuholen. Ihr war nicht klar, wie lange sie unterwegs sein, wie lange sich das Verfahren hinziehen würde und dass eine ihrer Töchter schwer an Tuberkulose erkranken würde.
»Die weite Strecke, die ich auf der Flucht zurücklegen musste, konnte meine Tochter nicht laufen.«
»Die weite Strecke, die ich auf der Flucht zurücklegen musste, konnte meine Tochter nicht laufen.«
Ende 2018 erhielt Frau O. in Deutschland subsidiären Schutz und beantragte umgehend über die deutsche Botschaft in Athen den Nachzug ihrer Töchter. Es dauerte 13 Monate, bis die Mädchen überhaupt Termine für die Stellung der Visa-Anträge erhielten. Schließlich verlangte die Botschaft die Zustimmung des Vaters bezüglich der Einreise der Kinder nach Deutschland. Da dieser seit Jahren als vermisst galt, verlangte die Botschaft die syrische Verschollenheitserklärung des Scharia-Gerichts, legalisiert und übersetzt. Der ältesten Tochter gelang es in der Zwischenzeit mithilfe der sozialen Netzwerke, ihren Vater ausfindig zu machen, der dem Nachzug der Töchter zu ihrer Mutter zustimmte – doch nun zweifelt die Deutsche Botschaft an der Glaubhaftigkeit der Zustimmung. Mutter und Töchter sind immer noch getrennt. Die Mädchen sind im griechischen Flüchtlingscamp nicht ausreichend vor Gewalt geschützt, zwei von ihnen sind erkrankt; der Mutter geht es psychisch und physisch sehr schlecht.
Journalist aus Afghanistan fürchtet um das Leben seiner Familie
Ahmed Hussein* aus Afghanistan hat in seiner Heimat neun Jahre lang als Journalist gearbeitet, unter anderem für die Deutsche Welle. Aufgrund seines Berufs wurde er von den Taliban wiederholt mit dem Tod bedroht. Vor lauter Angst leben seine Frau und die Kinder im Verborgenen, seine vier Töchter und ein Sohn gehen seit rund drei Jahren nicht mehr zur Schule. Herr Hussein lebt seit 2019 als anerkannter Flüchtling in Deutschland und wartet seit fast zwei Jahren darauf, dass seine Familie überhaupt einen Antrag auf ein Visum zum Familiennachzug stellen darf. Im September 2019 hat er sich an die zuständige Deutsche Botschaft in Neu-Delhi gewandt, doch noch immer steht kein Termin für die Antragstellung eines Visums auf Familiennachzug fest – also noch nicht einmal für den allerersten Schritt. Aufgrund der Pandemie war die Botschaft monatelang geschlossen.
Ahmed Hussein besucht in seiner neuen Heimat Niedersachsen einen Sprachkurs, doch in Gedanken ist er bei seiner Familie. »Mein Körper ist hier, aber meine Seele ist in Afghanistan«, sagt er. Der Familienvater hat furchtbar Angst um seine Liebsten, insbesondere seit dem Abzug der westlichen Truppen und dem Vormarsch der Taliban.
*Pseudonym zum Schutz der Familie.
Teenager wartet seit sechs Jahren auf Mutter und Geschwister
Er war noch ein Kind, als er mit der Familie seines Onkels im Oktober 2015 nach Deutschland kam: Der Syrer Hussein Husain war damals zehn Jahre alt. Das Jugendamt Hannover übernahm die Vormundschaft für Hussein und stellte im Juni 2016 einen Asylantrag für ihn. Im Februar 2017 wurde ihm stattdessen der subsidiäre Schutz zuerkannt. Von März 2016 bis Juli 2018 hatte die Bundesregierung den Familiennachzug für Angehörige von subsidiär Schutzberechtigten allerdings vollständig ausgesetzt. Seine Eltern und die drei minderjährigen Geschwister waren aufgrund der Sicherheitslage in Syrien in die Türkei geflohen. Sie buchten einen Termin bei der deutschen Botschaft.
Das Recht auf den Nachzug eines Geschwisterkindes besteht in Deutschland nicht. Das bedeutet: Die Bundesregierung verlangt von Eltern, sich zwischen ihren Kindern zu entscheiden.
Doch sie erfuhren, dass nur die Anträge von Eltern zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen genehmigt werden würden. Das Recht auf den Nachzug eines Geschwisterkindes besteht in Deutschland nicht. Das bedeutet: Die Bundesregierung verlangt von Eltern, sich zwischen ihren Kindern zu entscheiden. Folglich entschied der Vater, allein den Nachzug zu seinem Sohn zu beantragen. Im Februar 2020 durfte er endlich einreisen – er stellte selbst einen Asylantrag, wurde als subsidiär schutzberechtigt anerkannt und erst dadurch wurde der Weg frei, dass die Mutter von Hussein und die minderjährigen Geschwister ebenfalls einen Termin bei der Botschaft beantragen durften. Im Februar 2021 konnten sie vorsprechen. Es dauerte weitere Monate, bis die Familie Anfang Juli endlich einreisen durfte. Hussein wartete seit fast 6 Jahren auf seine Mutter, Brüder und seine Schwester. Aus dem Kind ist mittlerweile ein Teenager geworden, dem die eigene Mutter bei der ersten Umarmung fremd erschien.
6000 Kilometer liegen zwischen alleinerziehendem Vater und seinen Kindern
Barole S. machte sich 2015 auf den gefährlichen Weg von Eritrea nach Europa, damit er und seine Familie in Freiheit leben können. Dass er seine Frau niemals wiedersehen würde, ahnte er damals nicht. Im Mai 2016 wurde Barole S. als Flüchtling anerkannt, doch nach zahlreichen Hürden, die die Familie überwinden musste, passierte 2017 das für Barole Unvorstellbare: Seine Frau starb kurz vor dem Termin bei der Botschaft, auf den sie alle so lange gewartet hatten.
Seine Frau starb kurz vor dem Termin bei der Botschaft, auf den sie alle so lange gewartet hatten.
Dass seine Kinder nun weder Vater noch Mutter bei sich haben, erträgt Barole S. kaum. Auch der Autounfall eines Sohnes nahm ihn extrem mit. Nach dem Tod seiner Frau wurde er aufgefordert, die religiöse Heiratsurkunde in Eritrea staatlich beglaubigen zu lassen. In Eritrea wurde ihm gesagt, dass dies nicht möglich sei, weil seine Frau nicht mehr am Leben ist. Doch kaum ist das nun (Jahre später!) geklärt, tun sich neue Schwierigkeiten auf: Die Geburtsurkunden für die im Sudan geborenen Kinder konnten bisher nicht beschafft werden. Und so wartet Barole S. noch immer darauf, seine Kinder endlich wieder in die Arme schließen zu können.
Mutter und kleine Tochter hier, Mann und große Tochter im Sudan
Die Freude war groß, als Semhar W. ihre Familie im Januar das erste Mal seit vielen Jahren wiedersah. Noch größer wäre sie gewesen, wenn das Wiedersehen in Deutschland stattgefunden hätte – denn auf den Nachzug ihres Ehemannes und ihrer 14-jährigen Tochter wartet die Krankenschwester aus Eritrea noch immer. Sie lebt gemeinsam mit der kleinen, 3‑jährigen Tochter als subsidiär Schutzberechtigte in Deutschland. Jahrelang hatte sie gespart, um in den Sudan zu fliegen und Mann und Tochter, die nun dort leben, wenigstens besuchen zu können. Die beiden Halbschwestern haben sich da zum ersten Mal gesehen. Ihre große Tochter habe aber auch sie, die Mutter, zunächst behandelt wie eine Fremde, erzählt Semhar W. Für den Ehemann sind alle Unterlagen vollständig, doch die 14-Jährige hat keinen Reisepass – eine der vielen Hürden, vor denen Semhar W. steht.
Die Jugendliche hatte sich 2019 für einen Botschaftstermin registriert, aber im Mai 2020 teilte die Deutsche Botschaft auf Anfrage mit, dass noch kein Termin für sie vergeben wurde und sie stattdessen bei der Internationalen Organisation für Migration (IOM) im sudanesischen Khartum vorsprechen solle. Das geschah im Januar – seitdem wartet Semhar W. noch immer.