22.09.2015
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Geht das Gesetz durch Bundesrat und Bundestag, dürften die Richterinnen und Richter deshalb in ihre Roben schlüpfen müssen: Das geplante Vorhaben, Flüchtlingen nur das nackte Überleben zu sichern und sie vom menschenwürdigen Existenzminimum auszuschließen, ist ganz klar verfassungswidrig. Foto: Wikimedia Commons

Die Bundesregierung hat sich auf eine neue Version des Gesetzentwurfes mit dem Titel „Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz“ geeinigt – doch das Gesetzesvorhaben, das zahlreiche Instrumente zur Ausgrenzung und Abschreckung von Schutzsuchenden enthält, ist und bleibt verfassungswidrig.

Es kann der Bun­des­re­gie­rung nicht schnell genug gehen: Vor dem Hin­ter­grund der aktu­el­len Über­for­de­rung des Bun­des­amts für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge und des Man­gels an Unter­künf­ten für Flücht­lin­ge soll das so genann­te  Asyl­ver­fah­rens­be­schleu­ni­gungs­ge­setz nun schnells­tens mit den Län­dern abge­stimmt und anschlie­ßend von Bun­des­tag und Bun­des­rat beschlos­sen wer­den. Doch die Eile täuscht dar­über hin­weg, dass das Gesetz zur Bewäl­ti­gung der aku­ten Her­aus­for­de­run­gen nichts bei­trägt – im Gegen­teil. Dar­an hat auch die jüngs­te Über­ar­bei­tung des Gesetz­ent­wur­fes nichts geän­dert: Er zielt wei­ter­hin dar­auf, Schutz­su­chen­de durch Aus­gren­zung und Dis­kri­mi­nie­rung abzu­schre­cken, nicht, wie der Titel ver­spricht, auf eine Beschleu­ni­gung der Asylverfahren.

Nach­dem der vom Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um geplan­te, in der Res­sort­ab­stim­mung befind­li­che Gesetz­ent­wurf vom 14. Sep­tem­ber an die Öffent­lich­keit gedrun­gen war, hat die Bun­des­re­gie­rung immer­hin von einem Vor­ha­ben Abstand genom­men: Schutz­su­chen­de, die nach­weis­lich über ande­re EU-Staa­ten nach Deutsch­land ein­ge­reist sind und daher nach der Dub­lin-III-Ver­ord­nung dort­hin zurück müs­sen, jeg­li­che Ver­sor­gung und Unter­brin­gung zu strei­chen, um sie – aus­ge­stat­tet mit einer Rück­fahr­kar­te und Rei­se­pro­vi­ant – zur Rück­rei­se zu drän­gen. Die­ses ein­deu­tig ver­fas­sungs­wid­ri­ge Vor­ha­ben wur­de nun aus dem Gesetz­ent­wurf gestrichen.

Ver­schie­bung der Betroffenen

Doch gemes­sen an der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts zum Exis­tenz­mi­ni­mum von Asyl­be­wer­bern bleibt der Gesetz­ent­wurf ver­fas­sungs­wid­rig. Die Gro­ße Koali­ti­on will Flücht­lin­gen, die z.B. in einem ande­ren EU-Staat einen Schutz­sta­tus erhal­ten haben oder in einen ande­ren EU-Staat ver­teilt wor­den sind, künf­tig vom so genann­ten sozio­kul­tu­rel­len Exis­tenz­mi­ni­mum aus­schlie­ßen – das heißt, dass nur ihre phy­si­sche Exis­tenz gesi­chert wer­den soll – nach dem Mot­to: Über­le­ben muss reichen.

Wäh­rend in der Fas­sung des Gesetz­ent­wurfs vom 14. Sep­tem­ber alle Per­so­nen im Dub­lin-Ver­fah­ren von Leis­tungs­kür­zun­gen betrof­fen sein soll­ten, hat man sich nun mit die­sem Vor­ha­ben auf ande­re Grup­pen fokus­siert (Stand: 21. Sep­tem­ber). Betrof­fen sind nun Per­so­nen, die bereits in einem ande­ren EU-Land als schutz­be­rech­tigt aner­kannt wor­den sind und den­noch nach Deutsch­land kom­men (Aner­kann­te) sowie Per­so­nen, die von einem ers­ten EU-Land in ein ande­res EU-Land umge­sie­delt wor­den sind und dann nach Deutsch­land wei­ter­ge­reist sind (Relo­ca­ti­on). Dazu kom­men Gedul­de­te, bei denen aus von ihnen selbst zu ver­tre­te­nen Grün­den auf­ent­halts­be­en­den­de Maß­nah­men nicht voll­zo­gen wer­den können.

Phy­si­sche Exis­tenz­si­che­rung statt Menschenwürde

Dass bei die­sen Grup­pen nur noch Mit­tel zur phy­si­schen Exis­tenz­si­che­rung gewährt wer­den – Lebens­mit­tel und ein Schlaf­platz – ist mit dem Grund­ge­setz nicht zu ver­ein­ba­ren. In einem Grund­satz­ur­teil vom 18. Juli 2012- 1 BvL 10/10 -, – 1 BvL 2/11 – hat das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt aus­drück­lich fest­ge­stellt: „Auch eine kur­ze Auf­ent­halts­dau­er oder Auf­ent­halts­per­spek­ti­ve in Deutsch­land recht­fer­tigt es im Übri­gen nicht, den Anspruch auf Gewähr­leis­tung eines men­schen­wür­di­gen Exis­tenz­mi­ni­mums auf die Siche­rung der phy­si­schen Exis­tenz zu beschrän­ken. Art. 1 Abs. 1 GG in Ver­bin­dung mit Art. 20 Abs. 1 GG ver­langt, dass das Exis­tenz­mi­ni­mum in jedem Fall und zu jeder Zeit sicher­ge­stellt sein muss. Art. 1 Abs. 1 GG garan­tiert ein men­schen­wür­di­ges Exis­tenz­mi­ni­mum, das durch im Sozi­al­staat des Art. 20 Abs. 1 GG aus­zu­ge­stal­ten­de Leis­tun­gen zu sichern ist, als ein­heit­li­ches, das phy­si­sche und sozio­kul­tu­rel­le Mini­mum umfas­sen­des Grundrecht.“

Dass das auch für Flücht­lin­ge gilt, mach­te das Gericht unmiss­ver­ständ­lich klar: „Aus­län­di­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge ver­lie­ren den Gel­tungs­an­spruch als sozia­le Indi­vi­du­en nicht dadurch, dass sie ihre Hei­mat ver­las­sen und sich in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land nicht auf Dau­er auf­hal­ten. Die ein­heit­lich zu ver­ste­hen­de men­schen­wür­di­ge Exis­tenz muss daher ab Beginn des Auf­ent­halts in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land rea­li­siert wer­den.“ (Rn. 120)

Men­schen­wür­de ist migra­ti­ons­po­li­tisch nicht zu relativieren

Eben­so klar macht das Urteil des Ver­fas­sungs­ge­richts, dass die Inten­ti­on, Flücht­lin­ge abzu­schre­cken, die Absen­kung des men­schen­wür­di­gen Exis­tenz­mi­ni­mums in kei­ner Wei­se recht­fer­ti­gen kann. Kurz – die Men­schen­wür­de ist migra­ti­ons­po­li­tisch nicht zu relativieren:

„Migra­ti­ons­po­li­ti­sche Erwä­gun­gen, die Leis­tun­gen an Asyl­be­wer­ber und Flücht­lin­ge nied­rig zu hal­ten, um Anrei­ze für Wan­de­rungs­be­we­gun­gen durch ein im inter­na­tio­na­len Ver­gleich even­tu­ell hohes Leis­tungs­ni­veau zu ver­mei­den, kön­nen von vorn­her­ein kein Absen­ken des Leis­tungs­stan­dards unter das phy­si­sche und sozio­kul­tu­rel­le Exis­tenz­mi­ni­mum recht­fer­ti­gen. Die in Art. 1 Abs. 1 GG garan­tier­te Men­schen­wür­de ist migra­ti­ons­po­li­tisch nicht zu rela­ti­vie­ren.“ (Rn. 121)

Die Geset­zes­ent­wür­fe im Ori­gi­nal, Stand 20/21. Sep­tem­ber:

» Ent­wurf einer Ver­ord­nung zur Ände­rung der Beschäf­ti­gungs­ver­ord­nung, der Inte­gra­ti­ons­kurs­ver­ord­nung und wei­te­rer Ver­ord­nun­gen (20.09.2015 22:55)

» Ent­wurf eines Geset­zes zur Ände­rung des Asyl­ver­fah­rens­ge­set­zes, des Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­set­zes und wei­te­rer Geset­ze (Asyl­ver-fah­rens­be­schleu­ni­gungs­ge­setz) (21.09.2015 01:31)

Asyl­pa­ket I: Asyl­recht­li­che Ände­run­gen seit dem 23.10.2015 in Kraft (17.11.15)

PRO ASYL will Kla­gen gegen das Asyl­ver­schär­fungs­ge­setz unter­stüt­zen (16.10.15)

Men­schen­wür­de ist kein Fehl­an­reiz (14.10.15)

Mas­sen­un­ter­künf­te leis­ten Gewalt­aus­brü­chen Vor­schub (28.09.15)

Asyl­rechts­ver­schär­fung: Schar­fer Wider­spruch aus der Zivil­ge­sell­schaft (25.09.15)

Bund-Län­der-Gip­fel: CDU/CSU, SPD und Grü­ne eini­gen sich auf mas­si­ve Asyl­rechts­ver­schär­fung (25.09.15)

Was jetzt getan wer­den muss (23.09.15)

Gro­ße Koali­ti­on beschließt Ver­fas­sungs­bruch (21.09.15)

Neu­er Gesetz­ent­wurf: Abschot­tung, Abschre­ckung und Obdach­lo­sig­keit  (17.09.15)

Abschot­tung, Abschre­ckung und Obdach­lo­sig­keit wer­den zum Pro­gramm (17.09.15)