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Flüchtlinge sitzen vor dem Eingang zum Zeltlager in Calden. Bei einer Massenschlägerei sind in dem

Vielerorts sind die Flüchtlingsunterkünfte katastrophal überbelegt: Die dort Untergebrachten haben keinerlei Privatsphäre oder Rückzugsmöglichkeiten. Der soziale Stress und die Enge befördern Gewaltausbrüche wie jüngst in Calden. Umso absurder: Die Bundesregierung will Flüchtlinge künftig bis zu sechs Monate in den überfüllten Erstaufnahmelagern festhalten.

Am Wochen­en­de eska­lier­te die Situa­ti­on in einer Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung in Kas­sel-Cal­den: Wie meh­re­re Medi­en berich­te­ten wur­den bei einer Mas­sen­schlä­ge­rei von 300 bis 400 Betei­lig­ten 14 Men­schen ver­letzt, dar­un­ter drei Poli­zis­ten. Schon zuvor war es im Lager Cal­den zu gewalt­tä­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen gekom­men, durch ver­sprüh­tes Reiz­gas wur­den unter ande­rem auch Kin­der ver­letzt. Die aktu­el­le Eska­la­ti­on soll mit einer Ran­ge­lei zwei­er Män­ner bei der Essens­aus­ga­be ihren Anfang genom­men haben. Eine Hel­fe­rin schil­der­te gegen­über den Medi­en, zuvor hät­ten meh­re­re Flücht­lin­ge von ihrer dro­hen­den Abschie­bung erfahren.

In Kas­sel-Cal­den sind 1500 Flücht­lin­ge in Zel­ten unter­ge­bracht – das Lager war ursprüng­lich für 1000 Flücht­lin­ge aus­ge­legt. Impro­vi­sier­te, oft kata­stro­phal über­füll­te Not­un­ter­künf­te bie­ten den dort Unter­ge­brach­ten kei­ner­lei Rück­zugs­or­te oder Pri­vat­sphä­re. Jeder Gang zur Essens­aus­ga­be, zu den Toi­let­ten oder Duschen wird in den Mas­sen­un­ter­künf­ten zur Gedulds­pro­be. Zu Enge und sozia­lem Stress kommt häu­fig hin­zu, dass die Asyl­su­chen­den oft im Unkla­ren dar­über sind, wie es wei­ter­geht, wie lan­ge sie in der Mas­sen­un­ter­kunft blei­ben müs­sen – ein ban­ges War­ten dar­auf, wie ihr Asyl­ge­such ent­schie­den wird. Auf­grund der Sprach­bar­rie­ren kön­nen sie häu­fig nur inner­halb der eige­nen Grup­pen kom­mu­ni­zie­ren. Der Stress aller Betei­lig­ten führt daher schnell zu Aggressionen.

Man­geln­der Schutz von Gewalt­op­fern und beson­ders ver­letz­li­chen Personen

Auf­grund der Enge und der feh­len­den Rück­zugs­mög­lich­kei­ten haben Unbe­tei­lig­te und Opfer der Gewalt­ta­ten oft kaum Chan­cen, sich vor Gewalt in Sicher­heit zu brin­gen. Auch wenn die Aggres­si­on nur von weni­gen der in einer Mas­sen­un­ter­kunft unter­ge­brach­ten Men­schen aus­geht, sind in kür­zes­ter Zeit davon Hun­der­te Men­schen Betrof­fen. Beson­ders dra­ma­tisch ist die Situa­ti­on für Fami­li­en, Frau­en und Kinder.

Immer wie­der berich­ten Flücht­lin­ge, die sich in Flücht­lings­un­ter­künf­ten Dro­hun­gen und Gewalt aus­ge­setzt sehen, dass sie kei­nen aus­rei­chen­den Schutz erhal­ten. Ver­su­chen die Opfer Bedro­hung und Gewalt in ihrer Unter­kunft zu ent­kom­men, ste­hen sie vor büro­kra­ti­schen Pro­ble­men. Wenn Sie unbü­ro­kra­tisch bei Freun­den oder ande­ren außer­halb der Unter­kunft Schutz suchen, kann dies für sie recht­li­che Kon­se­quen­zen haben. Ein Aus­zug oder Umzug in eine ande­re Unter­kunft muss erst bean­tragt wer­den. Bis dar­über ent­schie­den wird und ein Platz ver­füg­bar ist, ver­ge­hen zum Teil Monate.

Künf­tig sechs Mona­te Erst­auf­nah­me­la­ger?

Die der­zeit von der Bun­des­re­gie­rung avi­sier­te Asyl­rechts­ver­schär­fung sieht auch in der aktu­el­len Ent­wurfs­fas­sung vor, dass Asyl­su­chen­de län­ger als bis­her in den Erst­auf­nah­me­la­gern blei­ben müs­sen. Schutz­su­chen­de aus so genann­ten „siche­ren Her­kunfts­län­dern“ sol­len gar bis zum Ent­scheid ihres Asyl­an­trags dort aus­har­ren – das heißt, auf­grund der rigi­den Ableh­nungs­pra­xis bezüg­lich die­ser Her­kunfts­staa­ten, auf unbe­stimm­te Zeit bis zu ihrer Abschie­bung. Dies wird die Ver­zweif­lung eines Teils der Schutz­su­chen­den in den Unter­künf­ten stei­gern und damit zusätz­lich Aggres­sio­nen unter den Flücht­lin­gen befeuern.

Schutz­su­chen­de, die nicht aus „siche­ren Her­kunfts­län­dern“ stam­men, sol­len künf­tig sechs Mona­te in den Erst­auf­nah­me­la­gern blei­ben müs­sen, sofern nicht bereits bin­nen die­ser Frist bereits über ihr Asyl­ge­such ent­schie­den ist. Dies dürf­te aktu­ell nur bei syri­schen Flücht­lin­gen der Fall sein, deren Asyl­an­trä­ge prio­ri­siert bear­bei­tet wer­den. Deren durch­schnitt­li­che Asyl­ver­fah­rens­dau­er lag 2014 bei vier Mona­ten. Flücht­lin­ge aus ande­ren Her­kunfts­staa­ten müs­sen wesent­lich län­ger war­ten: Sie dürf­ten künf­tig sechs Mona­te in den Erst­auf­nah­me­la­gern blei­ben müs­sen – beson­ders für Kin­der oder ande­re beson­ders ver­letz­li­che Per­so­nen sind das sechs qual­vol­le Monate.

Ange­sichts der Über­fül­lung der Unter­künf­te und der Gewalt­pro­ble­ma­tik ist es absurd und ver­ant­wor­tungs­los, Flücht­lin­ge nicht aus den Lagern aus­zie­hen zu las­sen – selbst dann nicht, wenn sie ande­re Unter­kunfts­mög­lich­kei­ten hät­ten – etwa bei Ver­wand­ten, Freun­den oder in ande­ren pri­va­ten Unter­künf­ten. Statt der sechs­mo­na­ti­gen Zwangs­ka­ser­nie­rung müss­ten  Flücht­lin­gen drin­gend gestat­tet wer­den, so schnell wie mög­lich aus den Lagern auszuziehen.

Inte­gra­ti­on statt Abschreckungspolitik

Auf­grund von Gewalt­ta­ten in Flücht­lings­un­ter­künf­ten for­dern meh­re­re Poli­ti­ker bereits, Schutz­su­chen­de getrennt nach reli­giö­ser oder eth­ni­scher Zuge­hö­rig­keit unter­zu­brin­gen. So wich­tig es im Fal­le von Gewalt und Dro­hun­gen als ad hoc Maß­nah­me auch ist, Grup­pen, die sich von ande­ren bedroht sehen, anders­wo unter­zu­brin­gen, wäre eine gene­rel­le Tren­nung ent­lang von Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­kei­ten ein fata­les Signal. Tole­ranz für ande­re Reli­gio­nen, Welt­an­schau­un­gen und Lebens­wei­sen zu erler­nen ist wesent­li­che Vor­aus­set­zung für gelin­gen­de Integration.

Inte­gra­ti­on in die­sem Sin­ne kann jedoch nur dann gelin­gen, wenn die Men­schen­wür­de von Flücht­lin­gen hier­zu­lan­de nicht mit Füßen getre­ten wird. Es ist wenig aus­sichts­reich, Men­schen, die in Mas­sen­un­ter­künf­ten kaser­niert wer­den, mit Sach­leis­tun­gen abge­speist und ihrer Bewe­gungs­frei­heit beraubt wer­den, die hier angeb­lich vor­herr­schen­den Men­schen­rech­te sowie Frei­heit, Tole­ranz und gegen­sei­ti­gen Respekt näher zu brin­gen. Statt Asyl­su­chen­de von Deutsch­land durch mise­ra­ble Lebens­be­din­gun­gen abzu­schre­cken bedarf es daher men­schen­wür­di­ge Unter­künf­te, Zugang zu Bil­dung und Arbeits­markt und Inte­gra­ti­ons- und Sprach­kur­se.

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