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Neuer Gesetzentwurf: Abschottung, Abschreckung und Obdachlosigkeit
Ein heute öffentlich gewordener Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht zahlreiche Maßnahmen zur Entrechtung, Ausgrenzung und Diskriminierung von Flüchtlingen vor. Unter anderem soll Flüchtlingen, die über andere EU-Staaten kamen, das menschenwürdige Existenzminimum verweigert werden. Ein erster Überblick über den Entwurf des Bundesinnenministeriums.
Die Koalitionsbeschlüsse vom 6. September hatten bereits auf einen asylpolitischen Rollback hingedeutet: Längere Zwangsunterbringung in Massenunterkünften, Abspeisung mit Sachleistungen, Wiedereinführung der fast abgeschafften Residenzpflicht.
Wie bereits mehrere Medien berichteten, wurde heute dazu der entsprechende Gesetzentwurf bekannt, der noch weitreichendere Einschnitte im Aufenthalts‑, Asyl- und Sozialrecht vorsieht, als der Koalitionsbeschluss vermuten ließ. Ein erster Überblick über die zentralen Punkte des 150-seitigen Gesetzesvorhabens zeigt unter anderem, dass einem großen Teil der Schutzsuchenden künftig drohen könnte, dass sie in Deutschland ohne jede Versorgung auf der Straße landen.
Flüchtlinge sollen ausgehungert werden
Konkret sollen alle Flüchtlinge, die unter die Dublin-III-Verordnung fallen und für deren Asylantrag ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist, keine Bezüge mehr aus dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Das heißt, dass für sie noch nicht mal ein Platz in einer Unterkunft vorgesehen ist – keine Sachleistungen, kein Barbetrag, keine medizinische Notversorgung mehr – schlicht: Nichts.
Was die Betroffenen künftig erhalten sollen ist allein Reiseproviant und eine Fahrkarte zurück (§ 1a Abs. 3 AsylblG-Entwurf) – nach dem Motto: Gute Reise zurück ins Flüchtlingselend am Rande Europas – sei es etwa nach Ungarn, wo Flüchtlinge unter Obdachlosigkeit leiden, inhaftiert werden oder Polizeigewalt ausgesetzt sind, nach Italien, wo Schutzsuchende in der Regel auf der Straße landen oder in andere Staaten, in denen Flüchtlinge so gut wie keine Chance auf Integration haben.
Menschenwürde? Ein Bahnticket und Reiseproviant
Das Bundesinnenministerium schickt damit auch jene Flüchtlinge, die die Bundesregierung zuvor nach Deutschland einreisen ließ und die hier von der Bevölkerung an den Bahnhöfen willkommen geheißen wurden, sehenden Auges in Obdachlosigkeit und soziale Entrechtung. Fast alle Flüchtlinge, die Deutschland erreichen, sind schließlich über andere EU-Staaten eingereist – ein Großteil wurde daher in anderen Staaten bereits registriert und gilt demnach als „Dublin-Fall“.
Die Strategie des Aushungerns wird indes nicht dazu führen, dass die Betroffenen das Land verlassen – die Rückkehr etwa nach Ungarn ist für die Betroffenen aufgrund der dortigen Verhältnisse garantiert keine Option. Künftig droht, dass in Deutschland zahlreiche Flüchtlinge in der Obdachlosigkeit landen.
Menschen mittellos zu stellen, um sie außer Landes zu treiben, ist dabei ein ganz klarer Bruch mit dem Grundgesetz: 2012 hatte das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil entschieden, dass die Menschenwürde nicht migrationspolitisch zu relativieren ist. Ein Absenken der Sozialleistungen unter das soziokulturelle Existenzminimum ist mit dem Verfassungsrecht unvereinbar.
Entrechtung auch für viele Geduldete
Auch für Menschen, die nur geduldet in Deutschland leben, enthält der Gesetzentwurf neue Härten. Hatten Kirchen, Gewerkschaften, Verbände, Wirtschaftsunternehme, Flüchtlingsräte, PRO ASYL und weite Teilen der Politik lange für eine Bleibeperspektive für langjährig Geduldete gekämpft und schließlich eine vor kurzem in Kraft getretene bundesgesetzliche Bleiberechtsregelung erstritten, sorgt der neue Gesetzentwurf des Bundesinnenministeriums dafür, dass zahlreiche Geduldete vom Bleiberecht ausgeschlossen werden können.
Die Bundesregierung erfindet im neuen § 60b AufenthG eine „Bescheinigung über die vollziehbare Ausreisepflicht“. Damit kann die Bleiberechtsregelung in der Praxis ausgehebelt werden. Wenn die Abschiebung eines Flüchtlings aus von ihm selbst vertretenen Gründen nicht vollzogen werden kann, soll er/sie Arbeitsverbote erhalten und ebenfalls aus den Sozialleistungen ausgeschlossen werden. Diese Regelung wird viele bislang geduldete Flüchtlinge treffen, da einem großen Teil von ihnen unterstellt wird, sie seien selbst dafür verantwortlich, dass sie nicht abgeschoben werden können.
Raus aus der Schule: Neue Arbeits- und Ausbildungsverbote
Zudem werden im § 60a AufenthG durch Abs. 6 neue Arbeits- und Ausbildungsverbote geschaffen – und zwar vermutlich für eine große Zahl von Menschen. Schutzsuchenden, denen unterstellt wird, sie hätten sich nach Deutschland begeben, um Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu erhalten, sollen künftig weder arbeiten noch eine Ausbildung machen dürfen. Das gilt auch für Flüchtlinge, denen unterstellt wird, sie würden ihre Abschiebung verhindern.
Pauschal werden auch alle Menschen mit dieser Maßnahme aus der Gesellschaft ausgegrenzt, deren Asylantrag als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt wurde und die aus einem angeblich „sicheren Herkunftsland“ stammen.
Die Ausbildungsverbote gehen so weit, dass sie auch Schüler treffen: Wer eine Schule besucht, aber nicht mehr schulpflichtig ist – etwa als Schüler/in höherer Klassen in einer Realschule oder im Gymnasium – soll sofort aus der Schule gerissen werden. Wer von den Betroffenen studiert, soll gezwungen werden, sein Studium abzubrechen. Die in den letzten Jahren erwirkten Liberalisierungen in Sachen Arbeits- und Ausbildungsverbot werden damit weitgehend kassiert.
Bürokratieaufbau statt Bürokratieabbau: Die „BÜMA“ wird zur Regel
Nach Aussagen der Bundesregierung zielt der Gesetzesentwurf darauf, die Asylverfahren zu beschleunigen. Stattdessen sieht der Gesetzentwurf vor, dass Asylsuchende monatelang in unerträgliche Warteschleifen gezwängt werden können. So wird die bereits vom BAMF angewandte provisorische Praxis, vor Beginn des Asylverfahrens die Asylsuchenden zunächst mit einer „Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender“ (sog. BÜMA) auszustatten, auf gesetzliche Grundlage gestellt. (§ 63a AsylVfG). Die „BÜMA“ – eigentlich ein Provisorium, mit dem die Behörden darauf reagieren, dass den Asylsuchenden aufgrund der Überforderung des BAMFs ihren Asylantrag nicht zeitnah stellen können – wird somit zur Regel.
Bundespolizei soll Asylzuständigkeit prüfen
Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass künftig die Polizei, sofern innereuropäische Kontrollen nach dem Schengener Grenzkodex durchgeführt werden, an den Grenzen selbst prüfen soll, ob Deutschland für den Asylantrag eines Flüchtlings zuständig ist oder nicht (§ 18b Abs. 2 AsylVfG). Bislang liegt die Zuständigkeit beim Bundesamt. Das lässt befürchten, dass die Polizei – die höchstwahrscheinlich weder die Zeit noch die Qualifikation hat, die Zuständigkeit mit der gebotenen Sorgfalt zu prüfen – in Hauruckverfahren an den Grenzen Flüchtlinge mit der pauschalen Behauptung, Deutschland sei nicht zuständig, in Haft nimmt und zurückschiebt. Auffällig ist dabei, dass das Bundesinnenministerium versucht, die freiheitssichernde und haftbeschränkende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auszuhebeln. Nun soll ihnen diese Kompetenz entzogen und an die Verwaltungsgerichte übertragen werden (§ 83e AsylVfG).
Abschiebungen sollen nicht mehr angekündigt werden
Nach § 60a Abs. 5 AufenthG muss die durch Widerruf vorgesehene Abschiebung mindestens einen Monat vorher angekündigt werden, wenn die Abschiebung länger als ein Jahr ausgesetzt, ist; die Ankündigung ist zu wiederholen, wenn die Aussetzung für mehr als ein Jahr erneuert wurde. Bislang konnten die Bundesländer im Ermessen selbst entscheiden, ob Abschiebungen nach dem Fristablauf den Betroffenen angekündigt werden. Das Bundesinnenministerium will dies nun bundesgesetzlich festlegen, damit Abschiebungen generell nicht mehr angekündigt werden. Für die Betroffenen bedeutet dies die ständige Angst, nicht zu wissen wann die Polizei bei ihnen erscheint – möglicherweise sogar nachts. Auch für die zivilgesellschaftlichen Unterstützer*innen von Flüchtlingen wird es schwerer, die Abschiebungen ihrer Freunde und Bekannten zu verhindern. Unmenschliche Abschiebungen konnten bislang durch beherzte Solidarität von Anti-Abschiebenetzwerken verhindert werden.
Verpflichtungserklärungen: Verwandte und Bekannte werden haftbar gemacht – für immer
Bislang ist es unter bestimmten (eher seltenen) Umständen in Deutschland lebenden Personen möglich, sich dazu zu verpflichten, für Angehörige oder Freunde auf der Flucht eine Verpflichtungserklärung zu unterzeichnen, damit die Behörden diesen ein Visum zur legalen Einreise erteilen. Mit dieser Erklärung verpflichten sich die in Deutschland lebenden Personen, für den Lebensunterhalt der Schutzsuchenden aufzukommen – mindestens in Höhe des Existenzminimums, unter Umständen zuzüglich der Kosten für die Krankenversicherung. Durch Verpflichtungserklärungen konnten etwa im Rahmen der Landesaufnahmeprogramme für syrische Flüchtlinge in Deutschland lebende syrische Familien Angehörige zu retten.
Bislang war umstritten, wie lange sich die Unterzeichnenden mit der Verpflichtungserklärung verpflichten, für ihre schutzsuchenden Angehörigen oder Freunde aufzukommen. Das Bundesland Nordrhein-Westfalen hat beispielsweise im April 2015 erlassen, dass Verpflichtungserklärungen für syrische Familienangehörige im Rahmen des Landesaufnahmeprogramms erlöschen, wenn nach Stellung eines Asylantrags ein Schutzstatus zuerkannt wird und damit eine Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 1 oder 2 AufenthG erteilt wird. Damit soll verhindert werden, dass die Geber der Verpflichtungserklärungen unbefristet die finanzielle Verantwortung tragen.Das Bundesinnenministerium will nun gesetzlich regeln, dass die Verpflichtungserklärung auch dann noch gilt, wenn der oder die Betroffene als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter anerkannt wurde (§ 68a Abs. 2 AufenthG). Das erhöht die ohnehin hohen Hürden: Schon bislang war nur wohlhabenden Menschen möglich, ihre Verwandten oder Freunde zu sich zu retten. Der Gesetzentwurf verschärft diese Problematik. Menschen mit durchschnittlichem Einkommen haben damit noch größere Probleme, auf der Flucht befindliche Angehörige zu sich zu holen.
Weitere Maßnahmen zur Abschreckung und Ausgrenzung
Wie bereits dem Koalitionsbeschluss zu entnehmen war drängt die Bundesregierung darauf, dass Asylsuchende künftig nicht mehr drei, sondern sechs Monate in den Erstaufnahmelagern bleiben müssen (§ 47 Abs. 1 S. 1 AsylVfG) – es sei denn, ihr Asylantrag wird vorher bewilligt. Angesichts der aktuellen Verfahrensdauer werden höchstens Syrer, über deren Anträge prioritär entschieden wird, vorher aus den überfüllten Erstaufnahmeeinrichtungen ausziehen dürfen. In den Erstaufnahmeeinrichtungen sollen künftig statt Bargeld Sachleistungen ausgegeben werden (§ 3 AsylblG).
Schutzsuchende aus den so genannten „sicheren Herkunftsländern“ sollen bis zur Erledigung ihres Verfahrens in den Lagern bleiben müssen – das heißt: Auf unbestimmte Zeit bis zur Abschiebung (§ 47 Abs. 1a AsylVfG). Die Liste der „sicheren Herkunftsstaaten“ soll durch Kosovo, Montenegro und Albanien erweitert werden. (Anlage II zu § 29a AsylVfG).
Unsinnig, unmenschlich, unrealistisch
PRO ASYL fordert Bund und Länder auf, das Gesetzespaket zu stoppen. Der Entwurf ist angesichts von Tausenden hilfsbereiten Bürgerinnen und Bürgern, der oftmals engagierten lokalen Behörden und der diese Tage unersetzbaren Initiativen der Zivilgesellschaft, die sich alle bemühen, Schutzsuchende menschenwürdig aufzunehmen, blanker Hohn. Er verschärft die Unterbringungsprobleme, statt sie zu lösen. Er bürokratisiert, statt zu vereinfachen. Er grenzt Flüchtlinge aus, statt sie zu integrieren. Und er ist schlicht verfassungswidrig.
Das offensichtliche Ziel des Gesetzesvorhabens, Flüchtlinge aus Deutschland durch Entrechtung und Entwürdigung zu vertreiben und Flüchtlinge von Deutschland abzuschrecken, ist nicht nur inakzeptabel, sondern schlicht unrealistisch. Angesichts der Menschenrechtslage in den wichtigsten Herkunftsstaaten, in den zentralen Transitstaaten und der Situation der Flüchtlinge in den EU-Randstaaten werden Verschlechterungen für Flüchtlinge hierzulande diese kaum von der Flucht nach Deutschland abhalten.
Nachdem das Bundesinnenministerium unter Thomas De Maizière diesen Sommer darauf verschwendet hat, an einem Rollback im Asyl- und Aufenthaltsrecht zu arbeiten, muss die Bundesregierung angesichts der Lage schleunigst umschwenken und tragfähige Konzepte für faire und schnelle Asylverfahren sowie für menschenwürdige Aufnahme und Integration erarbeiten.
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