Im Schnellverfahren will die Große Koalition die Verschärfungen im Asylrecht durchpeitschen. PRO ASYL widerspricht dem öffentlich erweckten Eindruck, der Gesetzentwurf sei entschärft worden. Gemessen an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Existenzminimum von Asylbewerbern kann von einer Entschärfung nicht die Rede sein.
Die Große Koalition will Flüchtlingen, die z.B. in einem anderen EU-Staat einen Schutzstatus erhalten haben oder in einen anderen EU-Staat verteilt worden sind, vom Existenzminimum ausschließen – ungeachtet dessen, dass sie in den anderen EU-Ländern oft keine Lebensperspektive haben oder selbst Menschenrechtsverletzungen erleiden müssen. Auf die dramatische Situation von anerkannten Flüchtlingen z.B. in Bulgarien hatte PRO ASYL am 16. April 2015 hingewiesen und massive Menschenrechtsverletzungen in einer Dokumentation zahlreicher Einzelfälle öffentlich gemacht.
Die heute vom Bundesinnenminister behauptete Entschärfung stellt lediglich eine Veränderung in der Gruppe der Betroffenen dar. Während in der Fassung des Gesetzentwurfs vom 14. September alle Personen im Dublin-Verfahren von Leistungskürzungen betroffen sein sollten, hat man sich nun auf die Anerkannten und weitere Gruppen fokussiert (Stand: 21. September). Betroffen sind nun:
· Wer bereits in einem anderen EU-Land als schutzberechtigt anerkannt worden ist und dennoch nach Deutschland kommt (Anerkannte).
· Personen, die von einem ersten EU-Land in ein anderes EU-Land umgesiedelt worden sind und dann nach Deutschland weitergereist sind (Relocation).
· Geduldete, bei denen aus von ihnen selbst zu vertretenen Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können.
Künftig soll bei diesen Gruppen nur noch Mittel zur physischen Existenzsicherung, sprich Lebensmittel und Wohnen etc., gewährt werden. Das sozio-kulturelle Existenzminimum, das oftmals unter dem Stichwort „Taschengeld“ diskutiert wird, soll hingegen gestrichen werden. Darunter fällt z.B. die Ermöglichung von Kommunikation.
Die Große Koalition will damit einen Paragraphen verschärfen, der schon jetzt von vielen Gerichten als verfassungswidrig eingeschätzt wird. Für die Geduldeten sieht schon der bisherige § 1a AsylbLG in bestimmten Fällen eine Leistungskürzung auf das „unabweisbar gebotene“ vor. Dies ist mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht vereinbar.
PRO ASYL hält den Vorstoß der Großen Koalition insgesamt für verfassungswidrig, da er gegen die Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip verstößt. Das Bundesverfassungsgerichts hat in seinem Grundsatzurteil vom 18. Juli 2012- 1 BvL 10/10 -, – 1 BvL 2/11 – ausdrückliche festgestellt:
„Auch eine kurze Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive in Deutschland rechtfertigt es im Übrigen nicht, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss. Art. 1 Abs. 1 GG garantiert ein menschenwürdiges Existenzminimum, das durch im Sozialstaat des Art. 20 Abs. 1 GG auszugestaltende Leistungen zu sichern ist, als einheitliches, das physische und soziokulturelle Minimum umfassendes Grundrecht. Ausländische Staatsangehörige verlieren den
Geltungsanspruch als soziale Individuen nicht dadurch, dass sie ihre Heimat verlassen und sich in der Bundesrepublik Deutschland nicht auf Dauer aufhalten. Die einheitlich zu verstehende menschenwürdige Existenz muss daher ab Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland realisiert werden.“ (Rn. 120, Hervorhebung durch durch Pro Asyl)
„Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen. Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“ (Rn. 121)
Die Gesetzesentwürfe im Original:
Asylrechtsverschärfung: Scharfer Widerspruch aus der Zivilgesellschaft (25.09.15)
Asylrechtsverschärfung: Gesetzentwurf bleibt verfassungswidrig (22.09.15)
Abschottung, Abschreckung und Obdachlosigkeit werden zum Programm (17.09.15)