21.09.2015

Im Schnell­ver­fah­ren will die Gro­ße Koali­ti­on die Ver­schär­fun­gen im Asyl­recht durch­peit­schen. PRO ASYL wider­spricht dem öffent­lich erweck­ten Ein­druck, der Gesetz­ent­wurf sei ent­schärft wor­den. Gemes­sen an der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts zum Exis­tenz­mi­ni­mum von Asyl­be­wer­bern kann von einer Ent­schär­fung nicht die Rede sein.

Die Gro­ße Koali­ti­on will Flücht­lin­gen, die z.B. in einem ande­ren EU-Staat einen Schutz­sta­tus erhal­ten haben oder in einen ande­ren EU-Staat ver­teilt wor­den sind, vom Exis­tenz­mi­ni­mum aus­schlie­ßen – unge­ach­tet des­sen, dass sie in den ande­ren EU-Län­dern oft kei­ne Lebens­per­spek­ti­ve haben oder selbst Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen erlei­den müs­sen. Auf die dra­ma­ti­sche Situa­ti­on von aner­kann­ten Flücht­lin­gen z.B. in Bul­ga­ri­en hat­te PRO ASYL am 16. April 2015 hin­ge­wie­sen und mas­si­ve Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen in einer Doku­men­ta­ti­on zahl­rei­cher Ein­zel­fäl­le öffent­lich gemacht.

Die heu­te vom Bun­des­in­nen­mi­nis­ter behaup­te­te Ent­schär­fung stellt ledig­lich eine Ver­än­de­rung in der Grup­pe der Betrof­fe­nen dar. Wäh­rend in der Fas­sung des Gesetz­ent­wurfs vom 14. Sep­tem­ber alle Per­so­nen im Dub­lin-Ver­fah­ren von Leis­tungs­kür­zun­gen betrof­fen sein soll­ten, hat man sich nun auf die Aner­kann­ten und wei­te­re Grup­pen fokus­siert (Stand: 21. Sep­tem­ber). Betrof­fen sind nun:

·         Wer bereits in einem ande­ren EU-Land als schutz­be­rech­tigt aner­kannt wor­den ist und den­noch nach Deutsch­land kommt (Aner­kann­te).

·         Per­so­nen, die von einem ers­ten EU-Land in ein ande­res EU-Land umge­sie­delt wor­den sind und dann nach Deutsch­land wei­ter­ge­reist sind (Relo­ca­ti­on).

·         Gedul­de­te, bei denen aus von ihnen selbst zu ver­tre­te­nen Grün­den auf­ent­halts­be­en­den­de Maß­nah­men nicht voll­zo­gen wer­den können.

Künf­tig soll bei die­sen Grup­pen nur noch Mit­tel zur phy­si­schen Exis­tenz­si­che­rung, sprich Lebens­mit­tel und Woh­nen etc., gewährt wer­den. Das sozio-kul­tu­rel­le Exis­tenz­mi­ni­mum, das oft­mals unter dem Stich­wort „Taschen­geld“ dis­ku­tiert wird, soll hin­ge­gen gestri­chen wer­den. Dar­un­ter fällt z.B. die Ermög­li­chung von Kommunikation.

Die Gro­ße Koali­ti­on will damit einen Para­gra­phen ver­schär­fen, der schon jetzt von vie­len Gerich­ten als ver­fas­sungs­wid­rig ein­ge­schätzt wird. Für die Gedul­de­ten sieht schon der bis­he­ri­ge § 1a Asyl­bLG in bestimm­ten Fäl­len eine Leis­tungs­kür­zung auf das „unab­weis­bar gebo­te­ne“ vor. Dies ist mit den Vor­ga­ben des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts nicht vereinbar.

PRO ASYL hält den Vor­stoß der Gro­ßen Koali­ti­on ins­ge­samt für ver­fas­sungs­wid­rig, da er gegen die Men­schen­wür­de und das Sozi­al­staats­prin­zip ver­stößt. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts hat in sei­nem Grund­satz­ur­teil vom 18. Juli 2012- 1 BvL 10/10 -, – 1 BvL 2/11 –  aus­drück­li­che festgestellt:

 „Auch eine kur­ze Auf­ent­halts­dau­er oder Auf­ent­halts­per­spek­ti­ve in Deutsch­land recht­fer­tigt es im Übri­gen nicht, den Anspruch auf Gewähr­leis­tung eines men­schen­wür­di­gen Exis­tenz­mi­ni­mums auf die Siche­rung der phy­si­schen Exis­tenz zu beschrän­ken. Art. 1 Abs. 1 GG in Ver­bin­dung mit Art. 20 Abs. 1 GG ver­langt, dass das Exis­tenz­mi­ni­mum in jedem Fall und zu jeder Zeit sicher­ge­stellt sein muss. Art. 1 Abs. 1 GG garan­tiert ein men­schen­wür­di­ges Exis­tenz­mi­ni­mum, das durch im Sozi­al­staat des Art. 20 Abs. 1 GG aus­zu­ge­stal­ten­de Leis­tun­gen zu sichern ist, als ein­heit­li­ches, das phy­si­sche und sozio­kul­tu­rel­le Mini­mum umfas­sen­des Grund­recht. Aus­län­di­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge ver­lie­ren den

 Gel­tungs­an­spruch als sozia­le Indi­vi­du­en nicht dadurch, dass sie ihre Hei­mat ver­las­sen und sich in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land nicht auf Dau­er auf­hal­ten. Die ein­heit­lich zu ver­ste­hen­de men­schen­wür­di­ge Exis­tenz muss daher ab Beginn des Auf­ent­halts in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land rea­li­siert wer­den.“ (Rn. 120, Her­vor­he­bung durch durch Pro Asyl)

„Migra­ti­ons­po­li­ti­sche Erwä­gun­gen, die Leis­tun­gen an Asyl­be­wer­ber und Flücht­lin­ge nied­rig zu hal­ten, um Anrei­ze für Wan­de­rungs­be­we­gun­gen durch ein im inter­na­tio­na­len Ver­gleich even­tu­ell hohes Leis­tungs­ni­veau zu ver­mei­den, kön­nen von vorn­her­ein kein Absen­ken des Leis­tungs­stan­dards unter das phy­si­sche und sozio­kul­tu­rel­le Exis­tenz­mi­ni­mum recht­fer­ti­gen. Die in Art. 1 Abs. 1 GG garan­tier­te Men­schen­wür­de ist migra­ti­ons­po­li­tisch nicht zu rela­ti­vie­ren.“ (Rn. 121)

Die Geset­zes­ent­wür­fe im Original:

» Ent­wurf einer Ver­ord­nung zur Ände­rung der Beschäf­ti­gungs­ver­ord-nung, der Inte­gra­ti­ons­kurs­ver­ord­nung und wei­te­rer Ver­ord­nun­gen (20.09.2015 22:55)

» Ent­wurf eines Geset­zes zur Ände­rung des Asyl­ver­fah­rens­ge­set­zes, des Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­set­zes und wei­te­rer Geset­ze (Asyl­ver-fah­rens­be­schleu­ni­gungs­ge­setz) (21.09.2015 01:31)

 Asyl­rechts­ver­schär­fung: Schar­fer Wider­spruch aus der Zivil­ge­sell­schaft (25.09.15)

 Asyl­rechts­ver­schär­fung: Gesetz­ent­wurf bleibt ver­fas­sungs­wid­rig (22.09.15)

 Abschot­tung, Abschre­ckung und Obdach­lo­sig­keit wer­den zum Pro­gramm (17.09.15)

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