News
»Wir realisierten, dass wir nicht gerettet würden«
Eine tödliche Bootskatastrophe in der Ägäis am 16. März hatte es kurzzeitig in die mediale Öffentlichkeit Europas geschafft. 16 Menschen, darunter neun Kinder, kommen ums Leben – obwohl alles darauf hindeutet, dass die griechische Küstenwache frühzeitig informiert war. PRO ASYL setzt sich für die Aufklärung der furchtbaren Ereignisse ein.
»Am 20. März erreichte uns die schreckliche Nachricht über eine erneute Bootskatastrophe nahe der Insel Agathonisi. Ein Angehöriger in Deutschland hatte unsere Kolleg*innen von PRO ASYL kontaktiert, die wiederum uns informierten. Seine Tante habe vier Kinder verloren, eine andere Tante drei Kinder und ihren Ehemann. Zwei Tage später reisten wir nach Samos, um die Überlebenden und ihre Angehörigen zu treffen« berichtet Natassa Strachini, Anwältin bei Refugee Support Aegean (RSA), der griechischen Partnerorganisation von PRO ASYL.
Nur knapp 20 Kilometer trennt die türkische Küste von der griechischen Insel Agathonisi. Das Boot war in der Nähe der westtürkischen Stadt Didim losgefahren. Erst kurz vor der Insel kentert das Boot. Zwei Familien mit insgesamt neun Kindern kommen ums Leben – vier Jungen, zwei Mädchen und ein Säugling, sieben Männer und zwei Frauen. Nur zwei Männer und eine Frau überleben die Bootskatastrophe, bei der sie ihre engsten Familienangehörigen verloren haben. Drei Menschen bleiben bis heute vermisst.
Recherchen stützen schwere Vorwürfe gegen Küstenwache
Umfassende Gespräche, die PRO ASYL/RSA mit den Überlebenden, dem Krankenhauspersonal und Behörden vor Ort führte und Recherchen des Spiegel zeigen: Obwohl die griechische Küstenwache informiert war, wurde nicht gerettet. Die drei Überlebenden quälen unerträgliche Fragen: Wurde der Tod ihrer Angehörigen in Kauf genommen? Könnten ihre Kinder und Ehepartner noch leben? Ihre Vorwürfe gegen die griechischen Behörden wiegen schwer.
Eine Chronologie der tödlichen Katastrophe
Am 16. März 2018 starten die aus dem Irak und Afghanistan geflüchteten Familien am frühen Morgen von der türkischen Küste aus. Die kleine Ägäis-Insel Agathonisi soll das Ziel sein für die Geflüchteten, außerdem sind zwei türkische Männer an Bord und übernehmen das Steuer.
Auf Samos alarmiert der wartende Sohn sofort die Polizei und Küstenwache. Doch er wird abgewimmelt.
Ein Sohn der afghanischen Familie hatte bereits zwei Monate zuvor die Überfahrt gewagt und saß seither im überfüllten Hotspot auf Samos fest. Als das Boot die türkische Küste verlässt, wird er von seiner Schwester, der jungen Anwältin Freshta, über Whats App informiert. Kurz bevor die Familien das rettende Ufer erreichen, kommt es zu einem schweren Schaden am Boot. Es gelingt Freshta gerade noch, panisch ihrem Bruder die Koordinaten des Bootes zu schicken und Hilferufe an weitere Angehörige loszuschicken. Kurz darauf kentert das Boot.
Auf Samos alarmiert der wartende Sohn sofort die Polizei und Küstenwache. Er gibt in mehreren Telefonaten die Koordinaten des Bootes und seine persönlichen Daten durch, schickt Nachrichten und spricht mit der Polizei. Doch er wird abgewimmelt. Er versucht es immer und immer wieder. Umsonst. Warum die Hilferufe verhallten, bleibt bislang ungeklärt.
Verzögerte Rettungsoperation kostet mindestens 16 Menschen das Leben
Erst 24 Stunden nach dem ersten Notruf, am Samstagmorgen startet die Rettungsoperation – viel zu spät. Die Überlebenden berichten außerdem, ein Schiff sei über Stunden hinweg in Sichtweite gewesen und habe nicht auf die Notrufe reagiert. Auch Freshta ist unter den Toten.
»Mit den Stunden, die vergingen, konnten sich immer mehr von uns nicht mehr über Wasser halten, einer nach dem anderen sank und tauchte nicht mehr an der Wasseroberfläche auf.«
Die Überlebenden berichteten PRO ASYL/RSA, wie sie seit dem Kentern des Bootes am frühen morgen bis kurz vor der Abenddämmerung im Wasser um ihr Überleben kämpften.
„Wir trugen alle Schwimmwesten. Wir versuchten nahe beieinander zu bleiben. Etwas später tauchte ein Schiff auf, das von der Insel aus in unsere Richtung fuhr. Wir begannen um Hilfe zu rufen. Mein Sohn begann laut zu pfeifen und mein Neffe versuchte das Schiff zu erreichen. Doch die Wellen trugen uns weiter weg. Wir realisierten, dass wir nicht gerettet würden. Mit den Stunden, die vergingen, konnten sich immer mehr von uns nicht mehr über Wasser halten, einer nach dem anderen sank und tauchte nicht mehr an der Wasseroberfläche auf“, erzählt Fahima aus Afghanistan, die vier Kinder bei der Bootskatastrophe verloren hat.
RSA: Unterstützung, Begleitung und Versuche der Aufklärung
Eine Anwältin, eine Sozialarbeiterin und ein Übersetzer von Refugee Support Aegean treffen die Überlebenden und weitere Angehörige, die angereist waren, kurz nach der Katastrophe auf Samos. Sie leisten psychologische Unterstützung sowie rechtliche Beratung, um die Überlebenden über ihre Rechte und Pflichten aufzuklären und über den Ablauf des Asylverfahrens.
PROASYL/RSA hilft mit Übersetzungen und bei der Vermittlung von Kontakten zu Ärzten, UNHCR und Behörden. Die drei Überlebenden befinden sich zu diesem Zeitpunkt noch im Krankenhaus der Insel. Die Umstände der Katastrophe werden in mehreren Gesprächen sorgfältig rekonstruiert – PROASYL/RSA erfährt, dass das Boot am 16. März gekentert sei und nicht erst am Folgetag.
Die angereisten Angehörigen der Familie bitten um Unterstützung bei der Überführung der Leichen nach Afghanistan und in den Irak – über einen Monat wird dieses Verfahren in Anspruch nehmen. Ende März begleitet eine Psychologin das PRO ASYL/RSA-Team, um den schwer traumatisierten Überlebenden psychologisch beizustehen und sie bei äußerst belastenden Vorgängen wie der Identifizierung von den verstorbenen Angehörigen zu begleiten und zu betreuen. Anfang April können die Überlebenden und Angehörigen nach Athen reisen, wo sie weiter mit PRO ASYL/RSA in Kontakt sind und psychologisch betreut werden.
Küstenwache bestreitet unterlassene Rettung
Kurz nach der Katastrophe hatte die griechische Küstenwache in einer Presseerklärung erklärt, es seinen zwei Frauen und ein Mann am Strand der Insel gefunden worden, die überlebt hätten. Sogleich habe die Küstenwache eine Rettungsoperation eingeleitet. Noch immer behauptet die griechische Küstenwache, die Bootskatastrophe hätte sich erst am 17. März ereignet. Entgegen aller Berichte der Angehörigen und Überlebenden.
Noch immer behauptet die griechische Küstenwache, die Bootskatastrophe hätte sich erst am 17. März ereignet. Entgegen aller Berichte der Angehörigen und Überlebenden.
Dass an den schweren Vorwürfen der Überlebenden gegen die griechische Küstenwache dennoch etwas dran sein könnte, wurde selbst auf höchster politischer Ebene der griechischen Regierung nicht ausgeschlossen. Sowohl der Schifffahrtsminister, Panagiotis Kouroumblis, als auch Migrationsminister Dimitris Vitsas reisten nach Samos, um die Überlebenden zu treffen.
Der griechische Schifffahrtsminister berichtete, bei der Küstenwache nachgefragt zu haben, ob ein Notruf am Freitagmorgen eingegangen war. Die Küstenwache antwortete dem Spiegel zufolge: Tatsächlich sei ein Anruf eingegangen und man habe mehrfach versucht, den Anrufer zurückzurufen – ohne Erfolg. Doch die Telefondaten belegen, dass der Sohn am Freitag mehrere Male mit den Behörden in Kontakt gewesen sei.
Am 28. März 2018 reagierte die griechische Küstenwache mit einer weiteren Presseerklärung auf die schweren Vorwürfe. Man habe unverzüglich nach ersten Informationen über die Bootskatastrophe die Rettungsoperation eingeleitet.
Anwält*innen von PRO ASYL/RSA leisten Rechtshilfe
Ein Disziplinarverfahren zu den Umständen der Bootskatastrophe sowie eine Untersuchung der Direktion für interne Angelegenheiten der griechischen Küstenwache zu einer möglichen Verantwortung der eigenen Beamten wurden eingeleitet. Die Überlebenden und Angehörigen haben außerdem Klage wegen unterlassener Hilfeleistung gegen die griechische Küstenwache eingelegt und werden dabei von RSA vertreten.
Ihr Leid, der Verlust der engsten Angehörigen bleibt unerträglich. Doch sie fordern die Aufklärung des Todes ihrer Familien und dass den massiven Vorwürfen nachgegangen wird. Und gemeinsam mit Menschenrechtsorganisationen, Seenotrettungsinitiativen und vielen anderen: Dass das dunkelste Kapitel der europäischen Flüchtlingspolitik – das Sterbenlassen an den Außengrenzen – nicht der Straflosigkeit, der Ignoranz und dem Vergessen anheim fällt. Dass das Sterben endlich ein Ende hat und gefahrenfreie Wege nach Europa geöffnet werden.
(rsa)
+++ Update vom 23.08.18: PRO ASYL und RSA unterstützen die Hinterbliebenen seit dem Unglück. Der größte Wunsch der afghanischen Familie ist die Zusammenführung mit den hier lebenden Angehörigen. In Zusammenarbeit mit dem Rechtsanwalt ist es nun gelungen, eine Zustimmung zu dem Übernahmeersuchen zu erlangen. Der Familienzusammenführung in Deutschland sollte nun nichts mehr im Wege stehen. Die Behörden haben dafür weitere sechs Monate Zeit. +++