Hintergrund
EU-Türkei-Deal: Das Versagen europäischer Flüchtlingspolitik
Seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals am 20. März 2016 herrscht permanenter Ausnahmezustand in der Ägäis. Die Inseln Lesbos, Samos, Chios, Kos und Leros wurden zu Freiluftgefängnissen für Tausende Schutzsuchende.
Im Frühjahr 2018 saßen circa 13.000 Flüchtlinge in den Elendslagern – den sogenannten EU-»Hotspots« – fest. Sie leben unter unmenschlichen Bedingungen: Zelte stehen im Morast, die hygienischen Bedingungen sind unzumutbar, die medizinische Versorgung unzureichend. Ärzte ohne Grenzen sprach im März 2018 von einem »psychosozialen Notstand«. Besorgniserregend ist die Lage vor allem in den völlig überfüllten Lagern auf Lesbos und auf Samos.
Immer mehr Frauen und Kinder
Nach der Unterzeichnung des EU-Türkei-Deals nahm die Zahl der in Griechenland ankommenden Flüchtlinge zunächst ab. Inzwischen hat sich der Trend umgekehrt, die Zahlen steigen wieder:
Im Jahr 2017 erreichten knapp 30.000 Flüchtlinge Griechenland auf dem Seeweg, rund 20.000 davon in der zweiten Jahreshälfte. Im ersten Quartal 2018 gelangten laut UNHCR fast 6.000 Flüchtlinge auf die griechischen Inseln.
Sechzig Prozent der ankommenden Bootsflüchtlinge sind inzwischen Frauen und Kinder. Restriktive Nachzugsregelungen in Deutschland und anderswo zwingen sie wieder auf die Boote und in die Hände der Schlepper. Zur Erinnerung: Ein humanitäres Verkaufsargument der EU-Türkei-Erklärung war, »das Geschäftsmodell der Schleuser zu zerschlagen« und den Schutzsuchenden »eine Alternative zu bieten, damit sie nicht ihr Leben aufs Spiel setzen«.
Containment auf den Inseln
Nur wer als besonders schutzbedürftig anerkannt wird, darf die Inseln verlassen. Die EU-Kommission warnt immer wieder davor, Schutzsuchende auf das griechische Festland zu transferieren. Dies würde eine falsche Botschaft aussenden und zu einer neuen Welle von Ankünften führen. Asylsuchende, die auf eigene Faust versuchen, von den Inseln zu fliehen, werden bei Aufgriff dorthin zurückgebracht. Laut griechischem Flüchtlingsrat betraf dies im Jahr 2017 knapp 1.200 Personen.
Entgegen der Brüsseler »Empfehlung« lenkte die griechische Regierung inzwischen ein, um eine humanitäre Katastrophe abzuwenden. Von November 2017 bis Ende Februar 2018 transferierte sie fast 10.000 Schutzsuchende aufs Festland.
»Labor« Ägäis
Das griechische Asylrecht wurde mehrfach auf Druck aus Brüssel und Berlin verschärft, um es mit dem EU-Türkei-Deal kompatibel zu machen. Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der sich erst im Aufbau befindenden griechischen Asylinstitutionen wurden dabei geopfert. So wurde erstmals ein sogenanntes Zulässigkeitsverfahren etabliert. Wird die Türkei als »sicher« für den jeweiligen Flüchtling eingestuft, gilt der Asylantrag als »unzulässig«. Das heißt, der Schutzanspruch wird nicht mehr inhaltlich geprüft: Es droht die Abschiebung in die Türkei. Die griechische Asylbehörde wendet dieses Zulässigkeitsverfahren bis jetzt ausschließlich bei syrischen Asylsuchenden an (Stand April 2018).
Im flüchtlingspolitischen Labor Ägäis werden auch andere Sonderverfahren erprobt: Flüchtlingsgruppen mit einer durchschnittlichen Anerkennungsquote von unter 25 Prozent erhalten lediglich ein sogenanntes »Asylschnellverfahren« unter Haftbedingungen. Dies betrifft beispielsweise Asylsuchende aus Pakistan, Bangladesch, Ägypten, Tunesien, Algerien und Marokko. Nach inhaltlicher Ablehnung ihres Schutzgesuches werden sie in die Türkei abgeschoben.
EU will höhere Abschiebungszahlen
Dennoch herrscht in EU-Kreisen weiterhin Missmut über die zu geringen Abschiebungszahlen in die Türkei. Bis Ende 2017 wurden alle Abschiebungen, die auf Grundlage des Zulässigkeitsverfahrens durchgeführt werden sollten, durch rechtliche Interventionen verhindert. Allerdings hat das höchste griechische Gericht im September 2017 Entscheidungen der Beschwerdeausschüsse bestätigt, wonach die Türkei für zwei klagende syrische Antragsteller ein »sicheres Drittland« sei. Im ersten Quartal 2018 wurden bereits 21 Schutzsuchende aus Syrien, die im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung in erster und zweiter Instanz abgelehnt wurden, in die Türkei abgeschoben. Ihr Asylgesuch wurde inhaltlich in Griechenland nicht geprüft.
Insgesamt wurden von April 2016 bis Ende März 2018 circa 1.600 Personen aus Griechenland in die Türkei abgeschoben. 47 Prozent der Abgeschobenen hatten kein Schutzgesuch gestellt oder ihren Asylantrag zurückgezogen.
Die Türkei: »sicherer« Drittstaat?
Die dokumentierten Schüsse auf Flüchtlinge an der syrisch-türkischen Grenze, der völkerrechtswidrige Angriff auf die nordsyrische Stadt Afrin im März 2018, die völlige Auflösung des Rechtsstaates in der Türkei: Egal was an Menschenrechtsverletzungen unter dem autoritären Regime von Recep Tayyip Erdoğan geschieht, der Flüchtlingsdeal steht für die politisch Verantwortlichen in Europa nicht zur Disposition. Die Türkei ist aber kein »sicherer Drittstaat«. Erdogan produziert mittlerweile tausendfach Flüchtlinge im eigenen Land und in Nordsyrien, für deren »Abwehr« er sich von der EU hofieren und bezahlen lässt.
Ein tatsächliches Monitoring dessen, was mit Flüchtlingen in den türkischen Haftanstalten oder in den Grenzregionen geschieht, ist de facto nicht möglich.
Der Zugang für internationale Organisationen und Anwält*innen zu den in die Türkei abgeschobenen Flüchtlingen ist nicht gewährleistet. Seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 hat sich die Situation für Menschenrechtsaktivist*innen massiv verschlechtert – die Gefährdungslage erschwert mittlerweile auch die Arbeit im Bereich Flüchtlingsschutz. Ein tatsächliches Monitoring dessen, was mit Flüchtlingen in den türkischen Haftanstalten oder in den Grenzregionen geschieht, ist de facto nicht möglich. Zur Wahrheit gehört auch: Im Zuge des EU-Türkei-Deals hat die Türkei an der türkisch-syrischen Landgrenze massive Abwehrmaßnahmen errichtet.
Europa ist gefordert
Elend und Leid der Flüchtlinge auf den Inseln in der Ägäis wurden im Namen Europas bewusst herbeigeführt und müssen sofort beendet werden. Eine europäische Lösung muss, neben einer menschenwürdigen Unterbringung auf dem griechischen Festland, die zügige Öffnung legaler Ausreisemöglichkeiten für Schutzsuchende in andere EU-Staaten beinhalten. Und vor allem: Das Recht auf Familienzusammenführung muss endlich zeitnah umgesetzt werden. Tausende, die in Griechenland gestrandet sind, warten darauf, endlich zu ihren Familien in andere EU-Staaten weiterreisen zu können.
Karl Kopp
(Dieser Artikel erschien erstmals im Heft zum Tag des Flüchtlings 2018.)