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Menschenrechte verschwinden: Wie die EU das Recht auf Asyl untergraben will
Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit unternehmen die EU-Mitgliedsstaaten einen massiven Angriff auf das geltende Asylrecht. Unter dem Namen Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) werden Konzepte ausgearbeitet, Flüchtlingsschutz verstärkt auf Drittstaaten zu verlagern und sich so der menschenrechtlichen Verantwortung zu entziehen.
Die Mitgliedsstaaten der EU verabschieden sich damit von erkämpften Errungenschaften, die im Vertrag über die Europäische Union formuliert wurden: »Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte«.
Gleichzeitig wird die uneingeschränkte Gültigkeit der Genfer Flüchtlingskonvention verletzt, denn die Würde und das Recht geflohener Menschen werden nicht mehr effektiv geschützt.
So sehen die Blaupausen aus
1. Es wird nicht mehr nach Fluchtgründen gefragt
Stattdessen wird festgestellt, ob Asylsuchende durch einen angeblichen »Sicheren Drittstaat« gekommen sind, wohin man sie zurückschicken kann. Flüchtlinge werden einem vorgeschalteten »Zulässigkeitsverfahren« unterworfen, in dem einzig und allein geklärt wird, ob ihr Asylantrag zugelassen wird. Falls nicht, kann die Zurückweisung in den Drittstaat erfolgen. Mit dieser Konstruktion wird Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) in Frage gestellt, der das Verbot formuliert, Flüchtlinge in Gebiete zurückzuweisen, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht ist.
Das Zulässigkeitsverfahren bekam mit dem EU-Türkei-Deal entscheidende Bedeutung. Seitdem wird betroffenen Flüchtlingen, die über die Türkei eine der griechischen Inseln erreichen, kein individuelles Asylverfahren mehr gewährt. Sie müssen sich stattdessen zunächst einem Verfahren unterwerfen, in dem einzig und allein geklärt wird, ob ihr Asylgesuch zulässig ist.
Wird dies verneint, droht die Abschiebung in den sogenannten »Sicheren Drittstaat«. Die Türkei wird als »Sicherer Drittstaat« deklariert, obwohl dort Schutzsuchende drangsaliert, eingesperrt und an der türkisch-syrischen Grenze vom türkischen Militär auch getötet werden.
Um das Zulässigkeitsverfahren in Griechenland durchzusetzen, wurde auf Druck der EU das dortige nationale Asylrecht mehrfach verschärft. Dieses Verfahren soll im Rahmen des neuen GEAS zukünftig von allen EU-Staaten angewandt werden.
2. Schutzsuchende werden in Lagern isoliert
Ob »Hotspot« an der Außengrenze oder »AnkER« (Ankunfts‑, Entscheidungs- und Rückführungszentrum) in Deutschland, Flüchtlingen wird ihre persönliche Freiheit genommen. Der Zweck dieser Lager ist überall gleich: Ankommende Flüchtlinge sollen festgehalten werden, um unmittelbar Zugriff auf sie zu haben.
Jahrelange Erfahrungen mit Lagern an den EU-Außengrenzen zeigen, dass diese Unterbringungspraxis menschenunwürdig, traumatisierend und entrechtend ist.
An den Außengrenzen der EU befinden sich elf Hotspots, sechs in Italien und fünf in Griechenland. Aufgabe der Hotspots ist es laut EU-Kommission, Flüchtlinge zu registrieren und »diejenigen, die keinen Schutzanspruch haben« schnell wieder abzuschieben.
3. Wirksamer Rechtsschutz wird verweigert
In Haft- und Massenlagern gibt es für Flüchtlinge keinen Zugang zu einem fairen Asylverfahren, anwaltlicher Beratung und effektivem Rechtsschutz. Mit den neuen europäischen Verordnungen würden Schutzsuchende zu Objekten, über die bürokratisch entschieden wird. Die gerechte Würdigung des Einzelfalls bleibt auf der Strecke. Zu einem fairen Asylverfahren zählt zudem, dass die betroffenen Menschen das Recht wahrnehmen können, gegen eine negative Entscheidung einen wirksamen Rechtsbehelf bei Gericht einzulegen.
Menschen, die an der Grenze eines EU-Staates Asyl beantragen, müssen Zugang zu einem fairen Asylverfahren in der Europäischen Union haben.
Bereits seit 1999 arbeitet die EU an einem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem. Erst im Sommer 2013 wurde das neue europäische Asylsystem – 2. Etappe der Vergemeinschaftung – beschlossen und gefeiert. Der damalige Bundesinnenminister Friedrich sprach vom »weltweit modernsten Flüchtlingsrecht mit hohen Standards«. Im April 2016 stellte die EU-Kommission lapidar fest: »Unser gegenwärtiges Konzept ist nicht zukunftsfähig«
Das politische Scheitern der EU bei der Flüchtlingsaufnahme in 2015 hätte einen Neubeginn in der Flüchtlingspolitik und vor allem eine ernsthafte Reform des EU- Asylrechts zur Folge haben müssen. Stattdessen diskutieren die EU-Mitgliedsstaaten umfassende Reformvorschläge des sogenannten GEAS. Die Brüsseler Blaupausen sind jedoch kein Neuanfang, sondern ein Programm zur Schwächung der Rechte Schutzsuchender. Schlimmer noch: In weiten Teilen stellen sie eine faktische Abschaffung des Zugangs zum individuellen Asylrecht dar. Entscheidende Einschränkungen werden unter Begriffen wie »Zulässigkeitsverfahren«, »Sicherer Drittstaat« und »Rechtsmittel ohne aufschiebende Wirkung« formuliert.
4. Es droht die Zurückschiebung in Drittstaaten
Solche sogenannten »Sicheren Drittstaaten« müssen nicht sicher sein. Politisch umstritten ist zurzeit, ob bereits »sichere Teilgebiete« genügen würden, um Flüchtlinge dorthin zurückzuschicken. Es ist für die Einstufung nicht nötig, dass die Genfer Flüchtlingskonvention in den betreffenden Staaten Gültigkeit besitzt, und Schutzsuchende müssen nur durch diese Staaten in die EU eingereist sein, um direkt dorthin zurückgebracht zu werden.
Entscheidend ist, mit welchen Drittstaaten die EU entsprechende Deals abschließt. Dazu werden systematisch die Kriterien gesenkt, ab wann ein Drittstaat als sicher eingestuft wird: In der Türkei z. B. gilt die Genfer Flüchtlingskonvention nicht für Schutzsuchende aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak, viele werden willkürlich inhaftiert und zurückgewiesen.
Die EU-Kommission will im Rahmen des GEAS eine Liste »Sicherer Drittstaaten« erstellen. Diese Drittstaaten müssen – wie z.B. die Türkei – noch nicht einmal die Genfer Flüchtlingskonvention in Gänze ratifiziert haben.
Bereits in der »Erklärung EU-Türkei« vom 18. März 2016 wird bezüglich Syriens angedeutet, dass am Ende schon bewachte Lager ausreichen könnten, um sichere Zonen für Flüchtlinge auszuweisen: »Die EU und ihre Mitgliedstaaten werden mit der Türkei … zusammenarbeiten, damit die ansässige Bevölkerung und die Flüchtlinge in sicheren Zonen leben können.«
Genau diese Entwicklung zeichnet sich gegenwärtig in der Zusammenarbeit mit dem EU-Partner Libyen ab: Schutzsuchende werden im Mittelmeer aufgegriffen und von dort in der Einheitsregierung unterstehende libysche Lager zurückgeführt, wo ihnen Folter, Demütigung und Tod drohen.
Als Anwärter auf eine künftige Auszeichnung als »Sicherer Drittstaat« durch die EU sind außerdem z.B. Ägypten, Algerien, Marokko und Tunesien in der Diskussion.
5. Deals mit Drittstaaten und Warlords bringen Flüchtlinge in Gefahr
Schutzsuchende Menschen außerhalb der eigenen Grenzen wirksam festsetzen, dies versucht die EU nicht nur durch den Türkei-Deal, sondern auch durch Deals mit Staaten, in denen regionale Warlords oder Diktatoren herrschen. Schwere Menschenrechtsverletzungen werden dabei bewusst in Kauf genommen und verschwiegen. Die Einheitsregierung Libyens ist bereits ein solcher Partner der EU zur Externalisierung Schutzsuchender.
Die von der EU finanzierte libysche Küstenwache fängt Flüchtlinge im Mittelmeer ab und schleppt sie zurück. In libyschen Gefängnissen kommt es laut UN-Berichten zu Folterungen, Vergewaltigungen und Morden.
Von der EU und ihren Mitgliedsstaaten wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Aktionspläne, Programme und Projekte aufgelegt, um Flüchtlinge und Migrant*innen möglichst vor Erreichen der europäischen Außengrenzen aufzuhalten.
Ursprungs- und Transitregionen wie Mali, der Niger, die Türkei oder Libyen werden in die Sicherung der Grenzen und die Abwehr von Schutzsuchenden eingebunden, wofür sie hohe Geldsummen erhalten. Das Geld fließt u.a. in Grenzkontrolltechnik, Schulungen der Grenzpolizei, Rückübernahmeabkommen und Grenzpatrouillen – nicht jedoch in tatsächliche Schutzkonzepte oder verbesserte Aufnahmebedingungen.
Rettet das Recht auf Asyl in Europa!
Die EU-Mitgliedsstaaten müssen stattdessen ein gemeinsames europäisches Schutzsystem schaffen, in dem die Interessen der Schutzsuchenden, faire Asylverfahren, menschenwürdige Aufnahme und innereuropäische Solidarität gewährleistet sind!
Menschen, die an der Grenze eines EU-Staates Asyl beantragen, müssen Zugang zu einem fairen Asylverfahren in der Europäischen Union haben. Artikel 33, Absatz 1 der Genfer Flüchtlingskonvention besagt:
»Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.«
Dieses Zurückweisungsverbot muss befolgt werden. Auch der Schutz vor Folter und unmenschlicher Behandlung nach Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention gilt absolut.