Image
Ein »BAMF« Schild vor der neu eingerichteten zentralen Bearbeitungstelle der Bundespolizei. Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Patrick Pleul

Die Asylzahlen steigen, aber die Entscheidungen über die Asylanträge von afghanischen Geflüchteten hatte das BAMF zum größten Teil monatelang auf Eis gelegt. Deutlich wird anhand der aktuellen Zahlen auch, dass die Widerrufsprüfungen in den meisten Fällen reine Zeitverschwendung sind.

Die Asyl­zah­len sind so hoch wie seit 2018 nicht mehr: 148.000 Men­schen haben im ver­gan­ge­nen Jahr erst­ma­lig einen Asyl­an­trag in Deutsch­land gestellt. Die­se Nach­richt ging Mit­te Janu­ar durch die Pres­se. Doch es lohnt, einen aus­führ­li­chen Blick auf die Sta­tis­ti­ken zu wer­fen. Dann wird drei­er­lei deut­lich. Ers­tens: Die Zah­len füh­ren in die Irre. Zwei­tens: Über die Asyl­an­trä­ge von Afghan*innen hat das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) bis Dezem­ber 2021 nicht ent­schie­den – mit der Fol­ge, dass Zehn­tau­sen­de völ­lig im Unkla­ren über ihre Zukunft gelas­sen wur­den. Glei­ches gilt auch für Men­schen, die in Grie­chen­land als  Flücht­ling aner­kannt wur­den und dann nach Deutsch­land wei­ter­rei­sen. Ihre Anträ­ge lie­gen wei­ter­hin auf Eis. Drit­tens: Die Wider­rufs­prü­fun­gen haben im ver­gan­ge­nen Jahr einen beacht­li­chen Teil der Arbeit im BAMF aus­ge­macht – mit ver­schwin­dend gerin­ger »Erfolgs«quote. Des­halb müs­sen die Zusa­gen aus dem Koali­ti­ons­ver­trag zur Abschaf­fung solch anlass­lo­ser Prü­fun­gen nun schnell umge­setzt werden.

Die Zahl der neu nach Deutschland eingereisten Asylsuchenden liegt bei rund 122.000

Dass die Zah­len stei­gen wür­den, war nach dem pan­de­mie­be­ding­ten Tief­stand des letz­ten Jah­res kei­ne Über­ra­schung. Die Asyl­zu­gän­ge lie­gen nun wie­der im vor­pan­de­mi­schen Bereich von 2019. Die tat­säch­li­che Zahl der Neu­zu­gän­ge an Asyl­su­chen­den liegt aller­dings deut­lich nied­ri­ger als die offi­zi­el­len 148.000.

Rund 17.5% der Asyl­an­trä­ge stam­men näm­lich von Kin­dern, die hier gebo­ren wur­den, deren Eltern also bereits in Deutsch­land leben. Bekommt ein Paar, das sich im lau­fen­den Asyl­ver­fah­ren befin­det, ein Kind, muss für die­ses auch ein Asyl­an­trag gestellt wer­den. Glei­ches gilt für neu­ge­bo­re­ne Kin­der von Men­schen, die hier bereits aner­kannt wur­den – für die­se Kin­der wird häu­fig Fami­li­en­asyl bean­tragt. Die Zahl der neu nach Deutsch­land ein­ge­reis­ten Asyl­su­chen­den beträgt dem­nach rund 122.000. Haupt­her­kunfts­län­der waren in 2021 Syri­en, Afgha­ni­stan und der Irak.

17,5%

der Asyl­an­trä­ge stam­men von Kin­dern, die hier gebo­ren wurden

Entscheidungen für Afghan*innen wurden zu einem großen Teil ausgesetzt

Für afgha­ni­sche Asyl­su­chen­de geht es nicht etwa schnell mit einer Aner­ken­nung, wie die aktu­el­le Lage am Hin­du­kusch ver­mu­ten lie­ße – das Gegen­teil ist der Fall. Das BAMF hat­te seit der Macht­über­nah­me der Tali­ban Asyl­an­trä­ge von afgha­ni­schen Asyl­su­chen­den »rück­prio­ri­siert«, das bedeu­tet es hat bis auf weni­ge Aus­nah­men die Ent­schei­dun­gen für das Her­kunfts­land Afgha­ni­stan aus­ge­setzt. Die Zahl der Men­schen, die nicht wis­sen, ob sie nun in Deutsch­land einen Schutz­sta­tus erhal­ten oder nicht, stieg damit wei­ter an. Seit Dezem­ber ent­schei­det das BAMF zwar wie­der, auf­grund des mona­te­lan­gen Ent­schei­dungs­stopps sta­peln sich jetzt jedoch vie­le Anträ­ge: Von Sep­tem­ber bis Ende Dezem­ber wur­de in nur 2.700 Fäl­len afgha­ni­scher Asyl­su­chen­der eine Ent­schei­dung getrof­fen. Im glei­chen Zeit­raum wur­den aber 18.000 Asyl­an­trä­ge von Afghan*innen gestellt (knapp 11.000 Erst­an­trä­ge und über 7.000 Fol­ge­an­trä­gen). Beim BAMF anhän­gig, also noch nicht bear­bei­tet, sind ins­ge­samt nun fast 28.000 Afghanistan-Verfahren.

Dies hat dra­ma­ti­sche Aus­wir­kun­gen, zumal Mit­te letz­ten Jah­res außer­dem knapp 21.000 Gerichts­ver­fah­ren von afgha­ni­schen Asyl­su­chen­den, die zum größ­ten Teil vom BAMF abge­lehnt wor­den waren, anhän­gig waren. Somit war­ten rund 50.000 Men­schen aus Afgha­ni­stan auf eine Ent­schei­dung über ihre Zukunft. Doch die Betrof­fe­nen war­ten nicht nur auf ihren Schutz­sta­tus, son­dern in vie­len Fäl­len auch auf den Nach­zug der engs­ten Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen, der für sie ohne Ent­schei­dung über ihren Schutz­sta­tus nicht mög­lich ist. Ange­sichts gericht­li­cher Ver­fah­rens­dau­ern von durch­schnitt­lich mehr als zwei Jah­ren ist das ein unhalt­ba­rer Zustand für die­se Menschen.

Zu den durch die BAMF-(Nicht-)Entscheidungspraxis ent­ste­hen­den, oft­mals jah­re­lan­gen War­te­zei­ten, kom­men im Fal­le des Fami­li­en­nach­zugs die War­te­zei­ten der Ange­hö­ri­gen: Der­zeit ste­hen knapp 6.000 Men­schen aus Afgha­ni­stan auf den Ter­min­war­te­lis­ten der Deut­schen Bot­schaf­ten, die den Nach­zug zu ihren bereits schutz­be­rech­tig­ten Ange­hö­ri­gen in Deutsch­land bean­tragt haben. Die­se Zahl hat sich damit in den letz­ten sechs Mona­ten nahe­zu ver­dop­pelt. Ihre War­te­zeit beträgt nach Anga­ben der Regie­rung »mehr als ein Jahr«. Die­ser Zeit­raum wird – ver­mut­lich aus guten Grün­den – nicht genau­er erfasst, beträgt nach PRO ASYL-Erfah­run­gen aber in aller Regel weit mehr als 18 Mona­te. Bis dann ein Visum erteilt wird, ver­ge­hen wei­te­re Mona­te, häu­fig min­des­tens ein hal­bes Jahr. Wohl­ge­merkt: in die­sen Fäl­len besteht in der Regel ein Rechts­an­spruch auf ein Nachzugsvisum.

Das Per­so­nal in den Bot­schaf­ten in Islam­abad und Neu-Delhi wur­de zuletzt zwar »tem­po­rär« ver­stärkt, erreicht damit aber gera­de ein­mal das Niveau von 2017. Trotz der desas­trö­sen Lage in Afgha­ni­stan hat das Aus­wär­ti­ge Amt gera­de mal neun zusätz­li­che Stel­len in der Deut­schen Bot­schaft in Paki­stan und zehn in Katar ein­ge­rich­tet. Das grün geführ­te Außen­mi­nis­te­ri­um ist drin­gend gehal­ten, die­se men­schen­recht­lich völ­lig unak­zep­ta­blen Zustän­de schleu­nigst zu verändern.

20.000

Ver­fah­ren von in Grie­chen­land Aner­kann­ten in der Warteschleife

Entscheidungsstau im BAMF 

Ähn­lich wie afgha­ni­schen Schutz­su­chen­den geht es Men­schen, die in Grie­chen­land als Flücht­ling aner­kannt wur­den. Auf­grund der kata­stro­pha­len Zustän­de dort, die PRO ASYL immer wie­der ange­pran­gert hat, wan­dern vie­le von ihnen nach Deutsch­land wei­ter. Stel­len sie hier einen Asyl­an­trag, pas­siert – gar nichts. Auch die­se Fäl­le hat das BAMF »rück­prio­ri­siert«, also vor­erst auf Eis gelegt. Es wird schlicht­weg nicht ent­schie­den, obwohl Gerich­te bereits deut­lich gemacht haben, dass Geflüch­te­te momen­tan nicht nach Grie­chen­land zurück­ge­schickt wer­den dür­fen. So hän­gen cir­ca 20.000 Ver­fah­ren von in Grie­chen­land Aner­kann­ten in der War­te­schlei­fe. Allein die­se bei­den Grup­pen  – Afghan*innen sowie Aner­kann­te aus Grie­chen­land – machen mitt­ler­wei­le rund 45 Pro­zent der beim BAMF anhän­gi­gen Ver­fah­ren aus. Der Ent­schei­dungs­stau in der Behör­de ist unver­ständ­lich, wenn man bedenkt, dass bei­de Grup­pen zum aller­größ­ten Teil nicht zurück­ge­schickt wer­den dür­fen und infol­ge des­sen hier blei­ben werden.

Absurde Dublin-Regeln führen zu irrwitziger und ineffizienter Arbeit

Die aktu­el­len Zah­len zei­gen auch, dass die Dub­lin-Fäl­le unter den Asyl­ver­fah­ren noch immer hoch sind. Der »euro­päi­sche Ver­schie­be­bahn­hof« führt dazu, dass die EU-Län­der sich die Flücht­lin­ge gegen­sei­tig »zuschie­ben«. Wer zum Bei­spiel zunächst in Ita­li­en ein­ge­reist ist und dann nach Deutsch­land kommt, soll nach Ita­li­en zurück­ge­schickt wer­den – 42.000 sol­cher Dub­lin-Über­nah­me­ersu­che hat Deutsch­land im ver­gan­ge­nen Jahr an ande­re euro­päi­sche Staa­ten gestellt. Letz­ten Endes in ein ande­res EU-Land über­stellt wur­den weni­ger als 2.700 Men­schen. In mehr als der Hälf­te der Fäl­le hat der ver­meint­lich zustän­di­ge Staat das Über­nah­me­ersu­chen aus Deutsch­land abge­lehnt. Schutz­su­chen­de wer­den aber auch des­we­gen häu­fig nicht zurück­ge­schickt, weil die Bedin­gun­gen dort laut Gerichts­ur­tei­len so schlecht sind, dass das unzu­mut­bar ist. Den­noch wird nach wie vor stur an der Dub­lin-Pra­xis fest­ge­hal­ten, obwohl die­se Ver­fah­ren sehr auf­wän­dig und inef­fi­zi­ent sind. Für die Schutz­su­chen­den bedeu­tet dies wei­te­re War­te­zei­ten und in der Regel mona­te­lan­ge Unge­wiss­heit. Am deut­lichs­ten belegt dies der Blick nach Grie­chen­land:  Im ers­ten Halb­jahr 2021 hat das Bun­des­amt rund 4000 Ver­fah­ren zur »Rück­füh­rung« nach Grie­chen­land ein­ge­lei­tet, um am Ende eine (!) Per­son nach Grie­chen­land abzu­schie­ben.  Das offen­bart den irr­sin­ni­gen Büro­kra­tie-Auf­wand, der dahin­ter steckt – und die ange­sichts der »Erfolgs­quo­te« höchst inef­fi­zi­en­te Arbeitsweise.

Widerrufsprüfungen: Reine Zeitverschwendung

Inef­fi­zi­ent sind auch die Wider­rufs­prü­fun­gen: Anstatt Asyl­an­trä­ge zu prü­fen, lei­tet das BAMF Wider­rufs­prü­fun­gen von aner­kann­ten Flücht­lin­gen ein – über 700.000 seit 2018. Das erfor­dert unnö­tig Zeit und Ener­gie, die an ande­rer Stel­le drin­gend nötig wäre. Deutsch­land zählt zu den weni­gen Län­dern, in denen Wider­rufs­prü­fun­gen gesetz­lich vor­ge­se­hen sind. Das BAMF ist von Amts wegen ange­hal­ten zu prü­fen, ob den geflüch­te­ten und bereits aner­kann­ten Men­schen ihr Schutz­sta­tus nach­träg­lich wie­der ent­zo­gen wer­den kann – nicht etwa weil sie sich etwas hät­ten zuschul­den kom­men las­sen,  son­dern wegen mög­li­cher­wei­se ver­än­der­ten Bedin­gun­gen in den Her­kunfts­län­dern. Dass sich die Lage weder in Afgha­ni­stan noch in Syri­en zum Posi­ti­ven ver­än­dert hat, dürf­te aller­dings jedem klar sein und ist über­dies durch Berich­te von Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen umfas­send doku­men­tiert.

150.000

Ent­schei­dun­gen gab es zu Asyl­an­trä­gen 2021

170.000

Wider­rufs­prü­fun­gen fan­den statt

Nichts­des­to­trotz fin­den Wider­rufs­prü­fun­gen im gro­ßen Stil statt – es wird mehr Arbeit und Ener­gie in die­se Prü­fun­gen hin­ein­ge­steckt als in die Prü­fung von Asyl­an­trä­gen. Wäh­rend das BAMF von Janu­ar bis Ende Dezem­ber 2021 über rund 150.000 Asyl­an­trä­ge ent­schied, hat es im glei­chen Zeit­raum über knapp 170.000 Wider­rufs­prü­fun­gen ent­schie­den. Nur in 3,9 Pro­zent aller Fäl­le wur­de der Schutz­sta­tus aber tat­säch­lich wider­ru­fen. Meist ist dies dar­auf zurück­zu­füh­ren, dass Men­schen, denen in Deutsch­land Schutz zuge­spro­chen wur­de, gar nicht mehr in Deutsch­land leben, in nicht weni­gen Fäl­len, weil die Bun­des­re­gie­rung den Fami­li­en­nach­zug der­art in die Län­ge zieht, dass ein Zusam­men­le­ben in Deutsch­land unmög­lich erscheint.

Das über­ge­ord­ne­te Ziel der alten Bun­des­re­gie­rung lau­te­te nicht etwa, Men­schen in Not eine dau­er­haf­te Lebens­per­spek­ti­ve zu geben, son­dern mög­lichst weni­gen Geflüch­te­te dau­er­haft Schutz zuzugestehen.

Dass trotz der seit Jah­ren gerin­gen Quo­te von regel­mä­ßig weni­ger als vier Pro­zent an den Wider­rufs­prü­fun­gen fest­ge­hal­ten wur­de, zeigt: Das über­ge­ord­ne­te Ziel der alten Bun­des­re­gie­rung lau­te­te nicht etwa, Men­schen in Not eine dau­er­haf­te Lebens­per­spek­ti­ve  zu geben, son­dern mög­lichst weni­gen Geflüch­te­te dau­er­haft Schutz zuzugestehen.

Es ist erfreu­lich, dass die neue Bun­des­re­gie­rung beschlos­sen hat, die­se anlass­lo­se Über­prü­fung zu strei­chen (Koali­ti­ons­ver­trag, S. 139). Das  legt not­wen­di­ge Kapa­zi­tä­ten für das BAMF frei, sich auf sei­ne Kern­auf­ga­be – die Durch­füh­rung von Asyl­ver­fah­ren – zu kon­zen­trie­ren und erspart den Betrof­fe­nen vie­le Sor­gen. Doch es muss jetzt gehan­delt wer­den, bevor sich wei­te­re zehn­tau­send Asyl­an­trä­ge stau­en. Es ist drin­gend not­wen­dig, die anlass­lo­sen Wider­rufs­prü­fun­gen sofort zu strei­chen – um Geflüch­te­te und BAMF-Mit­ar­bei­ter glei­cher­ma­ßen zu entlasten.

(dmo/ er)