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Steigende Asylzahlen? Ein Blick hinter die Schlagzeilen
Die Asylzahlen steigen, aber die Entscheidungen über die Asylanträge von afghanischen Geflüchteten hatte das BAMF zum größten Teil monatelang auf Eis gelegt. Deutlich wird anhand der aktuellen Zahlen auch, dass die Widerrufsprüfungen in den meisten Fällen reine Zeitverschwendung sind.
Die Asylzahlen sind so hoch wie seit 2018 nicht mehr: 148.000 Menschen haben im vergangenen Jahr erstmalig einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Diese Nachricht ging Mitte Januar durch die Presse. Doch es lohnt, einen ausführlichen Blick auf die Statistiken zu werfen. Dann wird dreierlei deutlich. Erstens: Die Zahlen führen in die Irre. Zweitens: Über die Asylanträge von Afghan*innen hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bis Dezember 2021 nicht entschieden – mit der Folge, dass Zehntausende völlig im Unklaren über ihre Zukunft gelassen wurden. Gleiches gilt auch für Menschen, die in Griechenland als Flüchtling anerkannt wurden und dann nach Deutschland weiterreisen. Ihre Anträge liegen weiterhin auf Eis. Drittens: Die Widerrufsprüfungen haben im vergangenen Jahr einen beachtlichen Teil der Arbeit im BAMF ausgemacht – mit verschwindend geringer »Erfolgs«quote. Deshalb müssen die Zusagen aus dem Koalitionsvertrag zur Abschaffung solch anlassloser Prüfungen nun schnell umgesetzt werden.
Die Zahl der neu nach Deutschland eingereisten Asylsuchenden liegt bei rund 122.000
Dass die Zahlen steigen würden, war nach dem pandemiebedingten Tiefstand des letzten Jahres keine Überraschung. Die Asylzugänge liegen nun wieder im vorpandemischen Bereich von 2019. Die tatsächliche Zahl der Neuzugänge an Asylsuchenden liegt allerdings deutlich niedriger als die offiziellen 148.000.
Rund 17.5% der Asylanträge stammen nämlich von Kindern, die hier geboren wurden, deren Eltern also bereits in Deutschland leben. Bekommt ein Paar, das sich im laufenden Asylverfahren befindet, ein Kind, muss für dieses auch ein Asylantrag gestellt werden. Gleiches gilt für neugeborene Kinder von Menschen, die hier bereits anerkannt wurden – für diese Kinder wird häufig Familienasyl beantragt. Die Zahl der neu nach Deutschland eingereisten Asylsuchenden beträgt demnach rund 122.000. Hauptherkunftsländer waren in 2021 Syrien, Afghanistan und der Irak.
Entscheidungen für Afghan*innen wurden zu einem großen Teil ausgesetzt
Für afghanische Asylsuchende geht es nicht etwa schnell mit einer Anerkennung, wie die aktuelle Lage am Hindukusch vermuten ließe – das Gegenteil ist der Fall. Das BAMF hatte seit der Machtübernahme der Taliban Asylanträge von afghanischen Asylsuchenden »rückpriorisiert«, das bedeutet es hat bis auf wenige Ausnahmen die Entscheidungen für das Herkunftsland Afghanistan ausgesetzt. Die Zahl der Menschen, die nicht wissen, ob sie nun in Deutschland einen Schutzstatus erhalten oder nicht, stieg damit weiter an. Seit Dezember entscheidet das BAMF zwar wieder, aufgrund des monatelangen Entscheidungsstopps stapeln sich jetzt jedoch viele Anträge: Von September bis Ende Dezember wurde in nur 2.700 Fällen afghanischer Asylsuchender eine Entscheidung getroffen. Im gleichen Zeitraum wurden aber 18.000 Asylanträge von Afghan*innen gestellt (knapp 11.000 Erstanträge und über 7.000 Folgeanträgen). Beim BAMF anhängig, also noch nicht bearbeitet, sind insgesamt nun fast 28.000 Afghanistan-Verfahren.
Dies hat dramatische Auswirkungen, zumal Mitte letzten Jahres außerdem knapp 21.000 Gerichtsverfahren von afghanischen Asylsuchenden, die zum größten Teil vom BAMF abgelehnt worden waren, anhängig waren. Somit warten rund 50.000 Menschen aus Afghanistan auf eine Entscheidung über ihre Zukunft. Doch die Betroffenen warten nicht nur auf ihren Schutzstatus, sondern in vielen Fällen auch auf den Nachzug der engsten Familienangehörigen, der für sie ohne Entscheidung über ihren Schutzstatus nicht möglich ist. Angesichts gerichtlicher Verfahrensdauern von durchschnittlich mehr als zwei Jahren ist das ein unhaltbarer Zustand für diese Menschen.
Zu den durch die BAMF-(Nicht-)Entscheidungspraxis entstehenden, oftmals jahrelangen Wartezeiten, kommen im Falle des Familiennachzugs die Wartezeiten der Angehörigen: Derzeit stehen knapp 6.000 Menschen aus Afghanistan auf den Terminwartelisten der Deutschen Botschaften, die den Nachzug zu ihren bereits schutzberechtigten Angehörigen in Deutschland beantragt haben. Diese Zahl hat sich damit in den letzten sechs Monaten nahezu verdoppelt. Ihre Wartezeit beträgt nach Angaben der Regierung »mehr als ein Jahr«. Dieser Zeitraum wird – vermutlich aus guten Gründen – nicht genauer erfasst, beträgt nach PRO ASYL-Erfahrungen aber in aller Regel weit mehr als 18 Monate. Bis dann ein Visum erteilt wird, vergehen weitere Monate, häufig mindestens ein halbes Jahr. Wohlgemerkt: in diesen Fällen besteht in der Regel ein Rechtsanspruch auf ein Nachzugsvisum.
Das Personal in den Botschaften in Islamabad und Neu-Delhi wurde zuletzt zwar »temporär« verstärkt, erreicht damit aber gerade einmal das Niveau von 2017. Trotz der desaströsen Lage in Afghanistan hat das Auswärtige Amt gerade mal neun zusätzliche Stellen in der Deutschen Botschaft in Pakistan und zehn in Katar eingerichtet. Das grün geführte Außenministerium ist dringend gehalten, diese menschenrechtlich völlig unakzeptablen Zustände schleunigst zu verändern.
Entscheidungsstau im BAMF
Ähnlich wie afghanischen Schutzsuchenden geht es Menschen, die in Griechenland als Flüchtling anerkannt wurden. Aufgrund der katastrophalen Zustände dort, die PRO ASYL immer wieder angeprangert hat, wandern viele von ihnen nach Deutschland weiter. Stellen sie hier einen Asylantrag, passiert – gar nichts. Auch diese Fälle hat das BAMF »rückpriorisiert«, also vorerst auf Eis gelegt. Es wird schlichtweg nicht entschieden, obwohl Gerichte bereits deutlich gemacht haben, dass Geflüchtete momentan nicht nach Griechenland zurückgeschickt werden dürfen. So hängen circa 20.000 Verfahren von in Griechenland Anerkannten in der Warteschleife. Allein diese beiden Gruppen – Afghan*innen sowie Anerkannte aus Griechenland – machen mittlerweile rund 45 Prozent der beim BAMF anhängigen Verfahren aus. Der Entscheidungsstau in der Behörde ist unverständlich, wenn man bedenkt, dass beide Gruppen zum allergrößten Teil nicht zurückgeschickt werden dürfen und infolge dessen hier bleiben werden.
Absurde Dublin-Regeln führen zu irrwitziger und ineffizienter Arbeit
Die aktuellen Zahlen zeigen auch, dass die Dublin-Fälle unter den Asylverfahren noch immer hoch sind. Der »europäische Verschiebebahnhof« führt dazu, dass die EU-Länder sich die Flüchtlinge gegenseitig »zuschieben«. Wer zum Beispiel zunächst in Italien eingereist ist und dann nach Deutschland kommt, soll nach Italien zurückgeschickt werden – 42.000 solcher Dublin-Übernahmeersuche hat Deutschland im vergangenen Jahr an andere europäische Staaten gestellt. Letzten Endes in ein anderes EU-Land überstellt wurden weniger als 2.700 Menschen. In mehr als der Hälfte der Fälle hat der vermeintlich zuständige Staat das Übernahmeersuchen aus Deutschland abgelehnt. Schutzsuchende werden aber auch deswegen häufig nicht zurückgeschickt, weil die Bedingungen dort laut Gerichtsurteilen so schlecht sind, dass das unzumutbar ist. Dennoch wird nach wie vor stur an der Dublin-Praxis festgehalten, obwohl diese Verfahren sehr aufwändig und ineffizient sind. Für die Schutzsuchenden bedeutet dies weitere Wartezeiten und in der Regel monatelange Ungewissheit. Am deutlichsten belegt dies der Blick nach Griechenland: Im ersten Halbjahr 2021 hat das Bundesamt rund 4000 Verfahren zur »Rückführung« nach Griechenland eingeleitet, um am Ende eine (!) Person nach Griechenland abzuschieben. Das offenbart den irrsinnigen Bürokratie-Aufwand, der dahinter steckt – und die angesichts der »Erfolgsquote« höchst ineffiziente Arbeitsweise.
Widerrufsprüfungen: Reine Zeitverschwendung
Ineffizient sind auch die Widerrufsprüfungen: Anstatt Asylanträge zu prüfen, leitet das BAMF Widerrufsprüfungen von anerkannten Flüchtlingen ein – über 700.000 seit 2018. Das erfordert unnötig Zeit und Energie, die an anderer Stelle dringend nötig wäre. Deutschland zählt zu den wenigen Ländern, in denen Widerrufsprüfungen gesetzlich vorgesehen sind. Das BAMF ist von Amts wegen angehalten zu prüfen, ob den geflüchteten und bereits anerkannten Menschen ihr Schutzstatus nachträglich wieder entzogen werden kann – nicht etwa weil sie sich etwas hätten zuschulden kommen lassen, sondern wegen möglicherweise veränderten Bedingungen in den Herkunftsländern. Dass sich die Lage weder in Afghanistan noch in Syrien zum Positiven verändert hat, dürfte allerdings jedem klar sein und ist überdies durch Berichte von Menschenrechtsorganisationen umfassend dokumentiert.
Nichtsdestotrotz finden Widerrufsprüfungen im großen Stil statt – es wird mehr Arbeit und Energie in diese Prüfungen hineingesteckt als in die Prüfung von Asylanträgen. Während das BAMF von Januar bis Ende Dezember 2021 über rund 150.000 Asylanträge entschied, hat es im gleichen Zeitraum über knapp 170.000 Widerrufsprüfungen entschieden. Nur in 3,9 Prozent aller Fälle wurde der Schutzstatus aber tatsächlich widerrufen. Meist ist dies darauf zurückzuführen, dass Menschen, denen in Deutschland Schutz zugesprochen wurde, gar nicht mehr in Deutschland leben, in nicht wenigen Fällen, weil die Bundesregierung den Familiennachzug derart in die Länge zieht, dass ein Zusammenleben in Deutschland unmöglich erscheint.
Das übergeordnete Ziel der alten Bundesregierung lautete nicht etwa, Menschen in Not eine dauerhafte Lebensperspektive zu geben, sondern möglichst wenigen Geflüchtete dauerhaft Schutz zuzugestehen.
Dass trotz der seit Jahren geringen Quote von regelmäßig weniger als vier Prozent an den Widerrufsprüfungen festgehalten wurde, zeigt: Das übergeordnete Ziel der alten Bundesregierung lautete nicht etwa, Menschen in Not eine dauerhafte Lebensperspektive zu geben, sondern möglichst wenigen Geflüchtete dauerhaft Schutz zuzugestehen.
Es ist erfreulich, dass die neue Bundesregierung beschlossen hat, diese anlasslose Überprüfung zu streichen (Koalitionsvertrag, S. 139). Das legt notwendige Kapazitäten für das BAMF frei, sich auf seine Kernaufgabe – die Durchführung von Asylverfahren – zu konzentrieren und erspart den Betroffenen viele Sorgen. Doch es muss jetzt gehandelt werden, bevor sich weitere zehntausend Asylanträge stauen. Es ist dringend notwendig, die anlasslosen Widerrufsprüfungen sofort zu streichen – um Geflüchtete und BAMF-Mitarbeiter gleichermaßen zu entlasten.
(dmo/ er)