Hintergrund
Asyl in Zahlen 2019
Weltweit werden im Durchschnitt 37.000 Menschen pro Tag aus ihrer Heimat vertrieben. Ende des Jahres 2018 waren damit erstmals mehr als 70 Mio. Menschen auf der Flucht. Mit insgesamt 70,8 Mio. Flüchtlingen, Vertriebenen und Asylsuchenden ist die Zahl gegenüber dem Vorjahr um 2,3 Mio. gestiegen.
Im Vergleich zu vor 20 Jahren hat sie sich sogar verdoppelt. (Quelle: UNHCR Global Trends) Demgegenüber ist die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland das dritte Jahr in Folge deutlich gesunken. 142.500 Asylerstanträge waren 2019 zu verzeichnen, gegenüber 2018 (162.000) und dem Rekordjahr 2016 (722.000) ein Rückgang um 12% bzw. 80%. Inklusive Folgeasylanträgen lag die Zahl im Jahr 2019 bei 166.000.
(Folgende Ausführungen: Quellen immer BAMF bzw. die von dort abgefragten Statistiken sowie BMI)
Rückgang bei Asylerstanträgen
Erstmalig wies das Bundesinnenministerium in seiner Vorstellung der Asylstatistiken die Zahl der sogenannten »grenzüberschreitenden Asylanträge« aus. Hierbei handelt es sich um Asylanträge, denen im Regelfall ein Grenzübertritt vorausging, d.h. in diesen Zahlen bleiben Folgeanträge oder Asylanträge von hier geborenen Kindern unberücksichtigt. Insgesamt 111.000 »grenzüberschreitende« Asylanträge wurden im Jahr 2019 gezählt, im Vergleich zum Vorjahr ein Rückgang um 18.500 bzw. von 14%.
Immer weniger Anträge nach Ersteinreise
Unstrittig sind diese Zahlen als Indikator für den tatsächlichen Zugang von Asylsuchenden wesentlich geeigneter als die »offiziellen« Asylantragszahlen des BAMF. Diese beinhalteten im letzten Jahr mit 23.500 Folgeanträgen sowie 31.500 Erstanträgen hier geborener Kinder nämlich rund 55.000 Asylanträge von Menschen, die nicht neu nach Deutschland eingereist sind.
BMI suggerierte höhere Einreisezahlen
In den letzten Jahren wurden vom Innenministerium jedoch sehr gerne die Erst- und Folgeantragszahlen zusammengezählt, um einen viel höheren Zuzug von Asylsuchenden zu suggerieren, als es tatsächlich der Fall war. Mit diesen vermeintlich hohen Einreisezahlen wurden immer weitere gesetzliche Restriktionen begründet. Noch bis Mitte 2018 prognostizierte Innenminister Seehofer, dass der im Koalitionsvertrag »vereinbarte Korridor für die Zuwanderung« von 180.00 bis 220.000 Personen jährlich – hiermit meinte er vor allem Geflüchtete – erreicht oder überschritten werden könnte. Dabei war längst klar, dass man hiervon schon damals weit entfernt war.
Nunmehr scheint aber der Erfolg des eigenen Handelns im Vordergrund zu stehen und man lobte sich in der Presseerklärung selbst, dass die »zahlreichen Maßnahmen der letzten Jahre gegen ungesteuerte Zuwanderung wirken«. Gleichwohl bliebe »der Migrationsdruck an den Außengrenzen und nach Deutschland weiterhin hoch«. Es mutet fast schon zynisch an, angesichts einer weltweiten Rekordzahl an Flüchtlingen und Vertriebenen von »Migrationsdruck«, zu sprechen. Die immer größer werdende Verzweiflung und Notlage der Menschen bspw. in Nordsyrien, wo seit den Militäroffensiven der Türkei sowie des Assad-Regimes seit Ende letzten Jahres Hunderttausende in die Flucht geschlagen wurden, wird durch solche Aussagen völlig verkannt.
Syrien, Irak, Türkei, Iran & Afghanistan als Hauptherkunftsländer
Auch der Blick auf die Hauptherkunftsländer der Asylsuchenden in Deutschland unterstreicht, dass derartige verbale Verharmlosungen völlig fehl am Platz sind. Mit 26.500 Asylerstanträgen (hier: von zuvor neu eingereisten Asylsuchenden) war Syrien weiterhin mit Abstand das Hauptherkunftsland in Deutschland. Damit kam erneut fast jeder vierte Schutzsuchende aus dem Bürgerkriegsland. Mit 11.000 bzw. 10.500 Schutzsuchenden folgten der Irak und die Türkei auf Platz zwei und drei der Hauptherkunftsländer.
Die Türkei war damit eines der wenigen Länder mit leicht ansteigender Zahl. Die Türkei unter Erdoğan ist damit zunehmend nicht nur Aufnahmeland syrischer Flüchtlinge, sondern selbst Fluchtherkunftsland. Dahinter folgt der Iran mit knapp 8.000 Asylanträgen, aus Afghanistan kamen über 7.000 Schutzsuchende. Allein aus diesen fünf Ländern – allesamt Krisenherde und Staaten, in denen massive Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind – kamen 56% aller Asylsuchenden.
Auch weltweit stellten Menschen aus Syrien die größte Flüchtlingsgruppe: Ende 2018 waren 6,7 Mio. Syrer*innen außerhalb der Landesgrenzen auf der Flucht, mit 2,7 Mio. Flüchtlingen folgte Afghanistan.
Steigende Schutzquoten…
Nachdem die Schutzquoten für alle Herkunftsländer seit Herbst 2015 rapide gesunken sind – die viel zu häufig übliche Reaktion bei steigenden Flüchtlingszahlen – stieg die Quote im letzten Jahr wieder etwas an und mehr Menschen haben Schutz gefunden. Erhielten im Jahr 2018 mit 50% noch genau die Hälfte der Asylsuchenden, deren Antrag inhaltlich geprüft wurde, Schutz, stieg diese Quote im vergangenen Jahr auf knapp 57%: 36% erhielten Flüchtlingsschutz nach der Genfer Konvention, in 16% wurde subsidiärer Schutz zuerkannt, in 5% der Fälle lag ein nationales Abschiebungsverbot vor. 43% der Betroffenen wurden aus inhaltlichen Gründen abgelehnt.
Die offiziell ausgewiesenen Zahlen weisen mit einer Gesamtschutzquote von 38% sowie 29% Ablehnungen wesentlich niedrigere Quoten aus. Das liegt daran, dass in der offiziellen Statistik auch so genannte formelle Erledigungen umfasst sind, also Asylanträge die weder abgelehnt noch anerkannt werden, sondern nicht geprüft werden, weil bspw. ein anderer EU-Staat für die Prüfung zuständig ist. Diese stellen ein Drittel aller Entscheidungen dar (32%).
… oder doch (noch) weniger Humanität?
Auffällige Veränderungen im positiven Sinne gab es beim Irak (Anstieg der Schutzquote von 46% auf 52%), der Türkei (von 47% auf 53%) und bei Afghanistan (von 52% auf 63%). Demgegenüber stehen jedoch bei Staaten wie Eritrea (von 94% auf 90%) oder dem Iran (34% auf 28%) signifikante Änderungen im negativen Sinne gegenüber, ohne dass sich die Situation in diesen Ländern zum Guten verändert hätte. Am deutlichsten wird die Praxis, auf hohe Zugangszahlen mit niedrigeren Schutzquoten zu reagieren am Beispiel Iran, bei dem die Schutzquote seit 2015 von 85% auf 28% im vergangenen Jahr sank.
Doch auch die positiven Veränderungen bspw. bei der Türkei oder Afghanistan sind kaum mit einer flüchtlingsfreundlicheren BAMF-Praxis oder erhöhter Prüfqualität zu erklären. Sie sind insbesondere bei Afghanistan Resultat einer hohen Quote an Korrekturen der Asylbescheide durch die Gerichte, bei der Türkei schlägt sich insbesondere der Skandal um die Beschlagnahmung von BAMF-Akten bei einem Vertrauensanwalt des Auswärtigen Amtes durch türkische Behörden in der erhöhten Quote nieder. Hinzu kommt, dass der Großteil der Flüchtlingsanerkennungen auf Grund von Familienasyl gewährt wurde, also abgeleitet von hier anerkannten Angehörigen. Oftmals geht es um hier nach dem Asylverfahren der Eltern geborene Kinder, für die i.d.R. von Amts wegen ein Asylverfahren eingeleitet wird und die dann denselben Status wie ihre Eltern erhalten. Aber auch einige im Rahmen des Familiennachzugs nachgekommene Angehörige, die hier zur Statusklärung Asyl beantragten, dürften darunter sein.
Insgesamt beruhen mittlerweile 78% aller Flüchtlingsanerkennungen auf Familienasyl (2018: 63%). Schaut man sich diejenigen Staaten mit den höchsten Schutzquoten und dadurch vergleichsweise hohem »Familiennachzugspotenzial« an, wird diese Quote noch drastischer: Über 96% der Flüchtlingsanerkennungen bei Syrer*innen leiten sich von Familienangehörigen ab, beim Irak sind es 95%, bei Afghanistan 72% und bei Eritrea 96%.
Letztlich bleibt festzustellen, dass sich die restriktive Linie, die mit der Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Geschützten im März 2016 politisch eingeleitet wurde und in den 1000er-Kontingenten seit August 2018 ihre Fortsetzung fand, weiterhin und auffälliger denn je in der BAMF-Entscheidungspraxis niederschlägt: Für Asylsuchende aus diesen Ländern gibt es kaum noch eigenständige Flüchtlingsanerkennungen oder überhaupt eine Chance auf Asyl, sondern allenfalls auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder von nationalen Abschiebungsverboten. Das Kalkül dahinter: Wer seine Familie nur unter sehr erschwerten Bedingungen und dann auch erst nach Jahren des Wartens nachholen kann, sucht möglicherweise nicht in Deutschland um Schutz nach.
Vermeintlich »sichere Herkunftsländer« weniger sicher, als es die Politik gerne hätte
In den letzten Jahren wird regelmäßig versucht, die Liste der so genannten »sicheren Herkunftsländer«, in denen es per deutschem Asylgesetz keine Verfolgung geben soll, auszuweiten. Dabei können laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1996 die Anerkennungsquoten ein Indiz sein – sie sind aber bei weitem nicht ausschlaggebend und die tatsächliche Menschenrechtslage muss genau geprüft werden.
Die Erfolgsaussichten für Asylsuchende aus Staaten wie Marokko, Tunesien, Algerien und Georgien sowie neuerdings auch Armenien, Gambia und die Elfenbeinküste liegen dabei alles andere als bei null oder nur knapp darüber, wie immer wieder behauptet wird.
Die Erfolgsaussichten für Asylsuchende aus Staaten wie Marokko, Tunesien, Algerien und Georgien sowie neuerdings auch Armenien, Gambia und die Elfenbeinküste liegen dabei alles andere als bei null oder nur knapp darüber, wie immer wieder behauptet wird. Immerhin 6% der Schutzsuchenden aus Marokko erhielten im letzten Jahr Schutz durch das BAMF, vor Gericht waren sogar 11% erfolgreich. Tunesische Asylsuchende waren zwar nur in 3% der Fälle erfolgreich, allerdings wurden 13% der BAMF-Bescheide von den Verwaltungsgerichten korrigiert, also mehr als jede achte Entscheidung. Auch bei Algerien (5% BAMF-Schutzquote / 6% Korrektur durch die Gerichte), Armenien (8% / 10%) oder den zuletzt ebenfalls genannten Ländern Gambia (11% BAMF-Schutzquote, VG-Quoten liegen nicht vor) oder die Elfenbeinküste (10% BAMF-Schutzquote) gibt es beachtliche Quoten an erfolgreichen Asylverfahren.
Auch wenn diese Zahlen deutlich unter Schnitt liegen und Schutzsuchende aus diesen Ländern überwiegend abgelehnt werden: Wie kann man Staaten als frei von Verfolgung erklären wollen, wenn es zum Teil Schutzquoten im zweistelligen Bereich gibt, demnach durchaus gravierende Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen sind und es sich keineswegs nur um Ausnahmefälle handelt? Gerade angesichts einer sehr restriktiven BAMF-Praxis täte der Gesetzgeber gut daran, den Menschen faire Asylverfahren zu garantieren, anstatt dafür zu sorgen, dass noch mehr Menschen in Schnellverfahren abgelehnt und im schlimmsten Fall durch falsche Entscheidungen in Lebensgefahr gebracht werden.
Zudem wurde in dem letzten Gesetzgebungsverfahren, im Rahmen dessen Algerien, Marokko und Tunesien sowie Georgien zu »sicheren Herkunftsstaaten« eingestuft werden sollten, ausführlich dargelegt, dass die Menschenrechtslage in den Ländern die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Kriterien nicht erfüllt und so auch unabhängig von den Schutzquoten eine solche Einstufung nicht in Frage kommt.
Weiterhin mehr als ein Viertel falscher BAMF-Bescheide
(Quelle: Drucksache 19/18498)
Nach wie vor werden viele Bescheide des BAMF von den Verwaltungsgerichten aufgehoben: 2019 erwiesen sich mehr als 22.181 Bescheide als fehlerhaft oder falsch und wurden korrigiert. Dies bedeutet eine Quote von über 26% (2018: 31%) der inhaltlich überprüften BAMF-Entscheidungen. Hinzu kommen über 3.800 so genannte Abhilfeentscheidungen des BAMF (v.a. syrische und afghanische Flüchtlinge), in denen das BAMF seine eigene Entscheidung aufhob und korrigierte, bspw. auf Hinweis des Gerichts, dass die Klage Erfolg haben dürfte.
Bei einzelnen Herkunftsländern war die bereinigte Erfolgsquote bei Gericht im ersten Halbjahr deutlich höher als im Durchschnitt. Bei afghanischen Geflüchteten lag sie bei 48 Prozent – also nahezu jeder zweite Bescheid wurde bemängelt und korrigiert; bei iranischen Geflüchteten lag sie bei 40 Prozent, bei somalischen bei 47 Prozent.
Die Gerichtsquoten sind damit im Vergleich zu 2018 zwar ein wenig gesunken. Dies hat aber insbesondere damit zu tun, dass das BAMF seine Anerkennungspraxis (z.B. Afghanistan) mehr an der Rechtsprechung orientiert. Dass allerdings dennoch weiterhin ein Viertel der Bescheide fehlerhaft oder falsch ist, bei Staaten wie Afghanistan, Somalia oder dem Iran sogar fast jeder zweite, ist jedoch ein Skandal, den sich keine andere Behörde in Deutschland erlauben könnte.
Integrationsfeindliche Ablehnungsstrategie
Doch auch dies scheint Teil der Abschreckungsstrategie gegen Flüchtlinge zu sein. Selbst wenn das BAMF in vielen Gerichtsverfahren verliert und die Gerichtskosten zu tragen hat, gibt es den Nebeneffekt, dass Klageverfahren angesichts von weiterhin rund 275.000 anhängigen Asylklagen oftmals ein, zwei oder drei Jahre dauern können (durchschnittliche Dauer im ersten Halbjahr 2019: über 16 Monate, Tendenz steigend).
Selbst wenn die Betroffenen nach Jahren des Wartens zu ihrem Recht kommen, können sie so lange nicht ihre Familie nachholen oder werden von der über Jahre andauernden Unsicherheit, ob sie bleiben können oder nicht, zermürbt. Nicht zuletzt bedeutet dieser Schwebezustand auch einen sehr erschwerten Zugang zu Sprach- und Integrationskursen sowie zum Arbeitsmarkt. Somit wirkt diese Praxis massiv integrationsfeindlich auf Menschen, die schutzbedürftig sind, nicht zurückkehren können und zum großen Teil in Deutschland bleiben werden.
Flughafenverfahren – Schnellverfahren an den Grenzen
Die Strategie der Abschreckung macht sich in den letzten Jahren zunehmend auch im so genannten Flughafenverfahren bemerkbar. Das Flughafenverfahren ist ein Schnellverfahren, bei dem Menschen im Flughafentransit festgehalten werden und als nicht eingereist gelten. Über ihren Asylantrag muss das BAMF binnen zwei Tagen entscheiden. Gelingt dies nicht, ist die Einreise zu erlauben und das Verfahren wird im Inland fortgeführt.
Im Rahmen dieses Schnellverfahrens darf eine Ablehnung nur als »offensichtlich unbegründet« erfolgen, d.h. die Ablehnung und die Unbegründetheit des Antrags muss sich geradezu aufdrängen – komplexe Sachverhalte können also unmöglich im Rahmen einer Schnellprüfung binnen zwei Tagen aufgeklärt werden. Dennoch ist die Ablehnungsquote als »offensichtlich unbegründet« in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Lag sie 2014 noch bei 9%, wurde zwei Jahre später mit 25% bereits jeder Vierte als »offensichtlich unbegründet« abgelehnt. Von 29% in 2017 über 41% in 2018 ist die Ablehnungsquote auf mittlerweile 48% in 2019 gestiegen, d.h. fast jedem Zweiten wird unterstellt, keinerlei Asylgründe zu haben.
Nach Aussagen des BAMF sei diese massive Zunahme der »offensichtlich unbegründet«-Ablehnungen aber keineswegs Folge einer verschärften Praxis, sondern Folge der individuell-konkreten Sachvorträge der Personen, welche entweder aus »sicheren Herkunftsstaaten« kommend oder »ohne im Besitz eines gültigen Passes oder Passersatzes zu sein« auf einem Flughafen um Asyl nachsuchen. (BT-Drucksache 19/13945, S. 20). Allerdings sagt der Besitz oder Nichtbesitz eines Passes nichts über mögliche Asylgründe aus und die Zahl der Asylsuchenden aus »sicheren Herkunftsländern« bewegte sich mit 4 Anträgen bei unter einem Prozent der 458 Aktenanlagen des letzten Jahres.
Mit der Situation in den Herkunftsländern kann der beschriebene Trend ebenfalls nicht erklärt werden, wie das Bespiel Iran zeigt, aus dem im letzten Jahr über ein Viertel aller Asylsuchenden im Flughafenverfahren kamen: Wurde bis 2017 nur ein vergleichsweise geringer Anteil der Asylsuchenden aus dem Iran abgelehnt (2015: 4%; 2016: 3%; 2017: 8%) stieg die Quote auf 21% in 2018 und auf 50% im letzten Jahr. Die rapide steigende Ablehnungszahl hat demnach ganz offensichtlich viel mehr mit der »Asylzahlen runter um jeden Preis«-Politik zu tun, als mit dem jeweiligen individuell-konkreten Sachvortrag. Oder warum sollten sich binnen kürzester Zeit die Sachvorträge von Menschen aus dem Iran in einer Art und Weise geändert haben, dass sich die Ablehnung geradezu aufdrängen muss?
Im Hinblick auf die von der Politik immer wieder geforderten Asylverfahren an der deutschen oder der EU-Außengrenze muss zwingend auf das bereits seit Jahren bestehende Flughafenverfahren hingewiesen werden: Neben der menschenrechtlich höchst bedenklichen Internierung von Menschen in geschlossenen Lagern kann die Prüfung, ob jemand schutzbedürftig ist oder nicht, niemals in einem nur wenige Tage dauernden Schnellverfahren erfolgen. Gravierende Qualitätsmängel und im schlimmsten Fall Fehlentscheidungen mit lebensgefährlichen Konsequenzen sind die logische Konsequenz davon (siehe hierzu eine entsprechende Analyse von PRO ASYL).
Dublin-Bürokratie in einem Drittel aller Fälle
Die Zahl der Dublin-Verfahren bleibt weiter unverändert hoch: in fast 49.000 Fällen oder jedem dritten Asylverfahren (34%) wurde ein Dublin-Verfahren eingeleitet. Mit über 14.000 wurden die meisten Übernahmeersuchen an Italien gerichtet (29% der Übernahmeersuchen), dahinter folgt mit 10.000 Übernahmeersuchen (20%) Griechenland. Allein diese beiden Staaten, die mit der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen ohnehin völlig überfordert sind, sollen also für fast 50% oder jeden zweiten Asylsuchenden in Deutschland zuständig sein.
Abseits des Irrsinns, überforderte Staaten noch mehr zu überfordern und vor allem Menschen in erbärmlichste Verhältnisse schicken zu wollen, ist das Dublin-Verfahren ein zumeist langwieriges und höchst bürokratisches Verfahren, das dem eigentlichen Zweck des Asylverfahrens, nämlich der Prüfung der Schutzbedürftigkeit einer Person, vorangeschaltet ist. Im Rahmen von Dublin wurden 8.400 Personen in die zuständigen Dublin-Mitgliedsstaaten überstellt, also nur ein Bruchteil der ursprünglich eingeleiteten Verfahren.
Im Gegenzug wurden im Rahmen von Dublin 6.100 Personen nach Deutschland überstellt, für deren Asylverfahren Deutschland zuständig war – im Ergebnis hatte Deutschland also 2.300 Asylverfahren weniger zu bearbeiten. Für diese vergleichsweise geringe Zahl in fast 50.000 oder mehr als einem Drittel aller Fälle monatelange Zuständigkeitsverfahren vorzuschalten, bevor die eigentliche Prüfung über die Schutzgewährung stattfindet, darf als sinnlose Bürokratie bezeichnet werden, die überdies auf Kosten der Schutzsuchenden und vor allem der später als schutzbedürftig Anerkannten geht. Im Schnitt ziehen sich diese Verfahren mehr als 15 Monate hin, wenn nach einem Dublin-Verfahren der Asylantrag doch in Deutschland geprüft wird.
Erfolgt eine Überstellung im Rahmen von Dublin, landen die Betroffenen häufig in Elend und Obdachlosigkeit, wie bspw. in Italien, wohin mit 2.600 mehr als 30% der Überstellungen erfolgten. Nach Griechenland erfolgten zwar nur 20 Überstellungen, weil Griechenland die Übernahme der Verfahren zumeist ablehnte. Allerdings bedeutet diese Zahl im Vergleich zu 2018 (6 Überstellungen) mehr als eine Verdreifachung. Allein aufgrund der zunehmenden Übernahmeersuchen muss für die Zukunft ein weiterer Anstieg befürchtet werden.
Im Gegenzug lehnt Deutschland mittlerweile zunehmend Übernahmeersuchen aus Griechenland ab. Knapp 1.700 Übernahmeersuchen aus Griechenland stehen fast 1.400 Ablehnungen des BAMF gegenüber. Insbesondere problematisch an dieser Praxis: In diesen Fällen geht es regelmäßig um Menschen, die in Griechenland festsitzen – oftmals in den Elendslagern auf den Inseln – und die aufgrund von engen Familienangehörigen sogar einen Rechtsanspruch auf ein Asylverfahren in Deutschland hätten, wo sie mit ihrer Familie wiedervereint wären.
Die Überforderung und der Unwille der griechischen Behörden führen jedoch dazu, dass Fristen im Dublin-Verfahren versäumt werden und die Übernahmeersuchen zu spät gestellt werden. Wie schon viele Verwaltungsgerichte in Deutschland festgestellt haben, sollten diese verfristeten Anträge dann angesichts der Wichtigkeit von Kindeswohl und Familieneinheit über die humanitäre Klausel der Dublin-Verordnung geregelt werden. Doch das BAMF bewertet in diesen Fällen die Einhaltung von Fristen regelmäßig höher als die Einheit von Familien und es kommt zu dauerhaften Trennungen von Flüchtlingsfamilien durch bürokratische Tricksereien – wenn nicht rechtzeitig vor Gericht interveniert wird.
BAMF: Von der Asylbehörde zur Widerrufsbehörde
BAMF-Präsident Sommer hat den Wandel des BAMF zur Widerrufsbehörde selbst verkündet, im letzten Jahr wurde er schon fast vollzogen: 184.000 Asylentscheidungen im Jahr 2019 stehen 170.000 Entscheidungen über Widerrufsverfahren gegenüber. Angesichts weiter sinkender Asylzahlen ist im Jahr 2020 somit erstmals eine höhere Zahl an Widerrufsverfahren als an Asylverfahren zu erwarten.
Im Rahmen eines Widerrufsverfahrens wird geprüft, ob die Betroffenen noch schutzbedürftig sind oder ob sich ihre individuellen Verhältnisse oder die Verhältnisse in ihrem Herkunftsland nachhaltig und langfristig geändert haben und ihnen ihr Schutzstatus entzogen werden kann. In Deutschland müssen diese Widerrufsprüfungen bei anerkannten Flüchtlingen von Amts wegen erfolgen – ziemlich einzigartig in Europa. Hunderttausende Überprüfungen des Schutzbedarfs werden also noch folgen müssen – das BAMF rechnet bis Ende 2021 mit 700.000 Verfahren.
Für Geflüchtete bedeuten diese Widerrufsverfahren vor allem eines: Angst, Verunsicherung und Sorge um ihre Zukunft, zumal sie häufig zu persönlichen Anhörungen ins BAMF vorgeladen werden. Angesichts der tatsächlich erfolgenden Widerrufe darf unterstellt werden, das genau dieser Effekt seitens der Politik beabsichtigt ist: Den Menschen soll suggeriert werden, dass es grundsätzlich jederzeit möglich ist, sie zurück zu schicken und dass sie letztlich nicht willkommen sind.
In weniger als 3% der Fälle erfolgte 2019 tatsächlich ein Widerruf (2018: 1%). Da 83% der Widerrufsprüfungen Menschen aus den drei Staaten Syrien, dem Irak und Afghanistan betrafen, gegenüber denen auch 78% der tatsächlichen Widerrufe des Schutzstatus erfolgten, dürfte der Großteil der Widerrufe nicht wegen einer geänderten Situation im Herkunftsland erfolgt sein, sondern vor allen aus individuellen Gründen und mutmaßlich weit überwiegend gegenüber Personen, die sich gar nicht mehr in Deutschland aufhalten.
Zu den Widerrufen kommt ein mit 0,5% sehr geringer Anteil an Rücknahmen. Rücknahmen erfolgen, weil die Schutzgewährung fälschlicherweise erfolgt ist, bspw. weil die Betroffenen eine falsche Staatsangehörigkeit angegeben haben. Diese Zahl bedeutet im Umkehrschluss, dass 99,5% der Zuerkennungen von Schutz zu Recht erfolgt sind und nicht – wie häufig unterstellt – Hunderttausende mit falscher Identität zu Unrecht Asyl erhalten haben.
Angesichts der weiterhin fast vernachlässigbar niedrigen Zahl fälschlicherweise ergangener positiver Bescheide, aber über einem Viertel fehlerhafter negativer Bescheide, sollte das BAMF im Rahmen seiner immer wieder betonten Qualitätsoffensive Rücknahmeprüfungen von Amts wegen insbesondere bei seinen ablehnenden Bescheiden durchführen. Dies wäre ein tatsächlicher Beitrag zur Qualitätssicherung der Asylverfahren und im Sinne der weiterhin völlig überlasteten Verwaltungsgerichte. Aber vor allem stünde es den Schutzsuchenden zu, die so oft zu Unrecht abgelehnt wurden.
Dirk Morlok